Nutzen oder nicht – das ist die Frage |
12.07.2011 15:05 Uhr |
Von Annette Mende / Ob eine Therapie der Mehrheit der Patienten mehr nützt als schadet, liegt nicht immer klar auf der Hand. Deutlich wird dies gerade im Fall des Angiogenesehemmers Bevacizumab. Dessen Einsatz in der Brustkrebstherapie wird von US-amerikanischen und europäischen Experten unterschiedlich bewertet.
Ende Juni hat sich eine von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA beauftragte Gutachterkommission dafür ausgesprochen, dem monoklonalen Antikörper Bevacizumab (Avastin®) die Zulassung in der Indikation Brustkrebs zu entziehen. Fast gleichzeitig kam man bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA zu einer völlig anderen Einschätzung: In Europa wird der Einsatz von Bevacizumab künftig ausgeweitet. Der Wirkstoff erhielt eine Zulassungserweiterung und kann nun auch in Kombination mit Capecitabin zur Erstlinienthera pie des metastasierten Brustkrebses eingesetzt werden. Bislang war die Zulassung in dieser Indikation auf die Kombination mit Paclitaxel beschränkt.
Profitieren Frauen mit metastasiertem Brustkrebs von einer zusätzlichen Therapie mit Bevacizumab? Diese Frage wird diesseits und jenseits des Atlantiks unterschiedlich beantwortet.
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Diese Diskrepanz kommt dadurch zustande, dass das Oncologic Drugs Advisory Committee (ODAC) der FDA und die EMA Studiendaten, die ihnen vom Hersteller Roche beziehungsweise dessen Tochterfirma Genentech vorgelegt worden waren, unterschiedlich bewerteten. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die Verlängerung des progressionsfreien Überlebens als Beleg für den Nutzen der Therapie ausreicht, oder ob das erst durch eine Verlängerung des Gesamtüberlebens erreicht wird.
Mehr Schaden als Nutzen?
Das progressionsfreie Überleben ist die Zeitspanne zwischen dem Start einer Therapie und dem Beginn des Fortschreitens (Progression) der Erkrankung. Das Gesamtüberleben bezeichnet dagegen die Zeit zwischen dem Therapiebeginn und dem Tod des Patienten. Letzteres ist üblicherweise ausschlaggebend bei der Nutzenbewertung. Denn theoretisch ist es möglich, dass eine Therapie das progressionsfreie Überleben zwar verlängert, das Gesamtüberleben aber verkürzt, etwa aufgrund von gravierenden Nebenwirkungen.
In den vom Hersteller präsentierten klinischen Studien verlängerte sich das progressionsfreie Überleben durch Hinzunahme von Bevacizumab sowohl im Vergleich zur Monotherapie mit Paclitaxel als auch mit Capecitabin, nicht jedoch das Gesamtüberleben. Folgerichtig kamen die US-Experten zu ihrem negativen Votum. Sie argumentierten, dass die Risiken der Therapie – potenzielle, schwerwiegende Nebenwirkungen wie Bluthochdruck, gastrointestinale Perforationen und Blutungen – den zu erwartenden Nutzen überwiegen. »Die Behörde muss dafür Sorge tragen, dass die Mehrheit der Patientinnen geschützt wird«, zitiert die »New York Times« den gynäkologischen Onkologen Dr. Ralph Freedman, der Mitglied im ODAC ist. Manchmal müsse man Entscheidungen treffen, die zwar nicht einzelnen Patienten, aber dem großen Ganzen nützten.
Vor einer Aufweichung der Kriterien zur Nutzenbewertung warnte Dr. Ralph B. D’Agostino, ein weiteres Mitglied der Expertenkommission, in einem Meinungsartikel im »New England Journal of Medicine« (doi: 10.1056/NEJMp1106984). Bereits die Zulassung von Bevacizumab in Kombination mit Paclitaxel in der Indikation Brustkrebs, die 2008 in den USA in einem beschleunigten Verfahren erfolgte, sei »überraschend« gewesen. Die FDA habe dabei das progressionsfreie Überleben vorbehaltlos als Surrogatparameter für das Gesamtüberleben akzeptiert. Ein solches Vorgehen ist aus D’Agostinos Sicht bedenklich. Sollte sich das progressionsfreie Überleben als allgemein akzeptiertes Kriterium für eine Zulassung von Krebsmedikamenten durchsetzen, bestehe die Gefahr, dass überhaupt keine Studien von ausreichender Länge mehr aufgelegt werden, um solide Daten zum Gesamtüberleben zu liefern.
Zu ihrer aktuellen Empfehlung an die FDA kamen die Gutachter des ODAC nach einer emotionsgeladenen Anhörung, die auf Betreiben des Herstellers zustande gekommen war. Dabei plädierten neben Anwälten von Krebshilfegruppen auch einige betroffene Frauen für die Beibehaltung der Zulassung von Bevacizumab in der Indikation Brustkrebs. Dennoch fällten die Kommissionsmitglieder am Ende einstimmig ein negatives Urteil. Die FDA ist nicht an diese Empfehlung gebunden, wird sie aber vermutlich befolgen.
Patientinnen waren enttäuscht
Nach der Debatte teilte eine der Frauen resigniert mit: »Eine Gruppe von sechs Experten, von denen keiner auf metastasierten Brustkrebs spezialisiert ist, hat entschieden, dass wir statistisch nicht signifikant sind.« Doch die so Beschuldigten hatten sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht: »Wir haben versucht, den Kuchen auf viele verschiedene Arten anzuschneiden, um irgendeinen Nutzen für dieses Medikament zu finden. Alles, was übrig blieb, waren Krümel«, sagte ODAC-Mitglied Dr. Mikkael Sekeres der »New York Times«.
Beide Zitate zusammen zeigen das ethische Dilemma, in dem sich die Entscheidung bewegte. Selbstverständlich möchte eine Frau mit fortgeschrittener Brustkrebserkrankung jede zur Verfügung stehende Therapiemöglichkeit in Anspruch nehmen, selbst wenn die damit verbundene Hoffnung noch so klein ist. Auf der anderen Seite steht die Verantwortung der Behörden, der Mehrheit der Patientinnen eine Therapie zu ersparen, die ihnen laut den verfügbaren Daten wenig nützt und viel schaden kann.
Hersteller bedauert Urteil
Der Hersteller Roche bedauerte gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung das Votum der ODAC. Man sei der Meinung, dass Frauen mit Brustkrebs, die Bevacizumab erhalten können, davon profitieren, sagte ein Unternehmenssprecher. Das zeige auch die gerade erfolgte Zulassungserweiterung durch die EMA. Der Sprecher wies darauf hin, dass die FDA der Einschätzung der ODAC nicht folgen muss. Bis zu einer endgültigen Entscheidung der Behörde bleibe die Zulassung von Bevacizumab in der Indikation Brustkrebs auch in den USA bestehen. Die Entscheidung fällt voraussichtlich Ende Juli. Bis dahin kann der Hersteller der Behörde weitere Informationen vorlegen. »Man kann derzeit nur mutmaßen, ob die FDA sich der Einschätzung der Gutachter anschließt oder nicht«, sagte der Sprecher. Anders als das US-Expertengremium habe aber die EMA das progressionsfreie Überleben als sinnvollen Endpunkt bei der Nutzenbewertung akzeptiert. /