Der ganz besondere Stoff im Blut |
30.06.2014 13:49 Uhr |
Von Heidi Schooltink / Blut ist rot, das weiß jedes Kind. Aber der rote Blutfarbstoff Hämoglobin (Hb) hat weit wichtigere Funktionen, als dem Menschen eine gesunde Gesichtsfarbe zu verleihen. Im 24-Stunden-Dauereinsatz kreist das Protein mit dem Blut durch den Körper und versorgt die Zellen mit Sauerstoff.
Sauerstoff (O2) ist überlebenswichtig für den Körper. Mithilfe von O2 gewinnen wir über die sogenannte Zellatmung aus der Nahrung die Energie zum Aufbau der Körpersubstanz und für die täglichen Aktivitäten. Doch wie kommt das eingeatmete O2 in die Zellen? Gase lösen sich schlecht in Flüssigkeiten, sodass in unseren fünf bis sechs Litern Blut pro Minute nur etwa 18 ml O2 transportiert werden könnten. Selbst im Ruhezustand benötigt der Körper jede Minute etwa 300 ml O2. Hier kommt Hb ins Spiel.
Fließt das Blut durch die feinen Kapillaren, die die Lungenbläschen umgeben, bindet das Hb in den Erythrozyten den Sauerstoff und gibt ihn nach der Verteilung über den Blutkreislauf an die Körperzellen weiter. Im Gegenzug übernimmt es das bei der Zellatmung anfallende Kohlendioxid (CO2) und transportiert es zur Lunge, wo es ausgeatmet wird. Das im Blut vorhandene Hb kann mehr als 1000 ml O2 pro Minute transportieren.
Proteine plus Häm
Nach der Entdeckung des roten Blutfarbstoffs Mitte des 19. Jahrhunderts haben zahllose Forscher an der Aufklärung der molekularen Struktur gearbeitet. Hb gehört zu den am besten untersuchten Proteinen der Welt. Jeder Hb-Komplex besteht aus vier Untereinheiten, die sich jeweils aus zwei Komponenten – einem Proteinanteil und einer prosthetischen Gruppe, dem Häm – zusammensetzen.
Häm ist für die O2-Bindung verantwortlich. Chemisch handelt es sich um einen Protoporphyrin-Ring, über dessen vier Stickstoffatome ein Eisenatom koordinativ gebunden wird (Abbildung 1, links). Das Eisen hat noch zwei weitere Koordinationsstellen; mit der einen bindet es an ein Histidin des Proteinanteils, die andere ist frei für die Bindung von O2 (1).
Das Myoglobin im Skelettmuskel ist quasi der kleine Verwandte von Hb. Es besteht ebenfalls aus einem Proteinanteil und einem Häm, allerdings nur aus einer einzigen Untereinheit. Im Skelettmuskel speichert Myoglobin den angelieferten Sauerstoff. Trotz abweichender Aminosäuresequenzen ähnelt sich der dreidimensionale Aufbau der Untereinheiten von Hb und Myoglobin stark. Die als »Globin Fold« bezeichnete Struktur besteht aus acht α-Helices, die eine Tasche für die O2-bindende Häm-Gruppe formen (Abbildung 1, rechts) (1).
Auf seiner Wanderung durch den Körper erfüllt Hb unterschiedliche Funktionen: O2-Aufnahme in der Lunge und O2-Abgabe in den Geweben. Dabei hilft es, dass sich die dreidimensionale Struktur und damit auch die Affinität des Moleküls für Sauerstoff je nach Umgebungsbedingungen ändern. Diese Eigenschaft von Proteinen bezeichnen Wissenschaftler als Allosterie.
Warum ist Hb so kompliziert aufgebaut?
Beim Hb unterscheidet man eine für O2 hoch affine R-Konformation und eine niedrig affine T-Konformation (Abbildung 2). Wasserstoffionen (H+) und CO2 schwächen die O2-Bindung, indem sie die T-Konformation stabilisieren. Bei einer niedrigen H+- und CO2-Konzentration nimmt das Hb dagegen bevorzugt die R-Konformation an. Solche Bedingungen herrschen physiologischerweise in der Lunge und erleichtern dort die O2-Aufnahme. Hohe H+- und CO2-Konzentrationen finden sich beispielsweise im arbeitenden Muskel. So wird der Sauerstoff genau dort leichter abgeladen, wo er vermehrt gebraucht wird.
Darüber hinaus verbessert das allosterische Verhalten die Transportleistung des Proteins. Die Beladung der ersten Untereinheit mit einem O2-Molekül begünstigt die Bindung weiterer O2-Moleküle an die anderen Untereinheiten. Diese Form des allosterischen Effekts nennt man Kooperativität. Dadurch wird der O2-Transport fast doppelt so effektiv (Abbildung 2).
Menschen haben je nach Entwicklungsstadium verschiedene Hämoglobin-Typen, die sich in ihren Proteinanteilen unterscheiden. Bei Erwachsenen dominiert das HbA (α2β2), das aus jeweils zwei α- und β-Ketten besteht. Daneben kommt zu geringen Teilen auch HbA2 (α2δ2) vor, das anstelle der β-Ketten δ-Ketten enthält. Das Hb des Embryos (HbF) setzt sich anders zusammen und hat eine höhere Sauerstoffaffinität. Dies gewährleistet, dass das mütterliche HbA den Sauerstoff an HbF abgibt und der Fötus ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird (1).
Gestörter O2-Transport durch Giftstoffe
Kohlenmonoxid (CO) bindet mit einer 250-fach höheren Affinität als Sauerstoff an Hb. Das mit CO besetzte Hb (COHb) steht nicht mehr für den O2-Transport zur Verfügung: Es kommt zu einer Unterversorgung des Körpers mit O2. Das farb- und geruchlose Gas entsteht beispielsweise bei Bränden und ist in Autoabgasen und Tabakrauch enthalten. Symptome einer CO-Vergiftung sind Kopfschmerzen, Schwindel und grippeähnliche Symptome, bei hohen Konzentrationen droht der Erstickungstod.
Aktuell untersuchen Wissenschaftler die Folgen einer chronischen Exposition mit niedrigen CO-Konzentrationen. So wurden bei Wasserpfeifen-(Shisha)-Rauchern verglichen mit Zigarettenrauchern dreifach höhere COHb-Konzentrationen gemessen (2). Bisher ging man davon aus, dass CO-Konzentrationen in der Luft bis circa 0,01 Prozent (Arbeitsplatzgrenzwert 0,003 Prozent) keine Gefahr darstellen; neuere Studien deuten darauf hin, dass auch niedrigere Konzentrationen Symptome auslösen können.
Die eindeutige Diagnose einer akuten CO-Intoxikation gelingt durch die Bestimmung des COHb. Meist weisen aber bereits die Auffindesituation und eine rosige Färbung des Patienten darauf hin (cave: Selbstschutz!). Die Therapie besteht aus der sofortigen Beatmung mit reinem O2, um CO aus der Bindung an Hb zu verdrängen.
Gefährlich sind auch Methämoglobin-(MetHb)-Bildner. Durch Oxidation des zentralen Eisenatoms (Fe2+ wird zu Fe3+) im Hb wird die reversible Sauerstoffbindung gestört. MetHb entsteht in geringen Anteilen (1,5 Prozent) auch physiologisch und wird durch die Methämoglobin-Reduktase wieder reduziert. Besonders empfänglich für eine Intoxikation sind Säuglinge, da sie eine verminderte Enzymaktivität haben. Ab circa 15 Prozent MetHb kommt es zu Kopfschmerzen, Müdigkeit und einer Zyanose (bläuliche Verfärbung der Haut). Bei höheren Konzentrationen tritt Bewusstlosigkeit (> 45 Prozent) und Tod (> 70 Prozent) ein. Die Therapie besteht aus der Gabe von Toluidinblau oder Methylenblau, die das Fe3+ im MetHb zu Fe2+ reduzieren.
Zu den MetHb-Bildnern zählen neben Nitriten, Wasserstoffperoxid und aromatischen Aminoverbindungen auch einige Arzneistoffe wie Prilocain und Sulfonamide (Kasten). Auch erbliche Defekte (Hämoglobinopathien) können zu erhöhten MetHb-Konzentrationen führen.
Bei Cyanidvergiftungen wird die MetHb-Bildung bewusst provoziert. Cyanide binden an das Fe3+-Ion der Cytochrom-C-Oxidase, ein Enzym der Atmungskette in den Mitochondrien, und inhibieren es. Damit kommt die Zellatmung zum Erliegen. Auch das Fe3+-haltige MetHb fängt Cyanid ab. Als Cyanid-Antidot wird daher der MetHb-Bildner 4-Dimethylaminophenol (4-DMAP) eingesetzt.
Bei Brandgasinhalationen muss beim Einsatz von 4-DMAP eine potenzielle parallele CO-Vergiftung berücksichtigt werden. Infolge der Umwandlung von Hb in MetHb sinkt der Anteil an funktionsfähigem Hb weiter. Es besteht die Gefahr einer Hypoxie.
Anämien und wichtige Laborparameter
Für einen adäquaten Sauerstofftransport ist eine ausreichende Menge Hb unerlässlich. Die Gesamtmenge im menschlichen Körper liegt normalerweise zwischen 700 und 900 g. Der größte Anteil befindet sich in reifen Erythrozyten. Bei Frauen gilt eine Hb-Konzentration unter 12 g/dl im Blut als Anämie, bei Männern liegt der untere Grenzwert bei 13 g/dl. Eine weitere wichtige Kenngröße ist der Hämatokrit, der den Anteil der Erythrozyten am Gesamtvolumen des Blutes beschreibt. Eine verminderte Erythrozytenzahl zieht naturgemäß einen Hb-Mangel nach sich.
Prinzipiell können Anämien durch übermäßigen Blutverlust, verringerte Bildung von Hb oder von Erythrozyten (Erythropoese) oder durch verstärkten Abbau von Hb (Hämolyse) entstehen. Die Differenzialdiagnostik der Anämien gelingt mithilfe verschiedener Laborparameter (Tabelle 1). Eine grobe Einteilung der Anämien erfolgt anhand von Zellgröße und Farbstoffgehalt der Erythrozyten (3).
Tabelle 2 zeigt die Anämieeinteilung anhand von MCV und MCH. Die Werte verhalten sich häufig gleichsinnig, das heißt eine hypochrome Anämie ist häufig mikrozytär und eine hyperchrome Anämie dagegen makrozytär.
Parameter | Frauen | Männer |
---|---|---|
Hämoglobin (Hb) (g/dl) | 12 bis 16 | 14 bis 18 |
Hämatokrit (HK) (Prozent) | 37 bis 47 | 40 bis 54 |
Erythrozyten (RBC) (Zellen/µl) | 4,3 bis 5,2 x 106 | 4,8 bis 5,9 x 106 |
MCH (pg) | 28 bis 34 | 28 bis 34 |
MCV (fl) | 78 bis 94 | 78 bis 94 |
MCHC (g/dl) | 30 bis 36 | 30 bis 36 |
RDW (Prozent) | 11,5 bis 14,0 | 11,5 bis 14,0 |
Retikulozyten (Zellen/µl) | 20 bis 75 x 103 (0,4 bis 1,5 Prozent - bezogen auf die Erythrozytenzahl) | 20 bis 75 x 103 (0,4 bis 1,5 Prozent - bezogen auf die Erythrozytenzahl) |
Ferritin (µg/l) | 22 bis 112 | 34 bis 310 |
Transferrin (mg/dl) | 212 bis 360 | 212 bis 360 |
Transferrin-Sättigung (Prozent) | 16 bis 45 | 16 bis 45 |
Vitamin B12 (ng/ml) | > 300 | > 300 |
Folsäure (ng/ml) | > 2,5 | > 2,5 |
Bilirubin (mg/dl) | 0,2 bis 1,1 | 0,2 bis 1,1 |
Haptoglobin (mg/dl) | 20 bis 204 | 20 bis 204 |
Laktat-Dehydrogenase (LDH) (U/l) | 120 bis 240 | 120 bis 240 |
Störungen der Erythropoese
Alle Blutzellen entwickeln sich aus gemeinsamen hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark. Bei ihrer Differenzierung durchlaufen Erythrozyten verschiedene Stadien (Proerythroblast, Erythroblast, Retikulozyt). Dabei stoßen sie alle Organellen inklusive Zellkern und Mitochondrien ab, während die Hb-Synthese zunimmt.
Der wichtigste Wachstumsfaktor für die Erythropoese ist das Erythropoetin, das überwiegend in der Niere synthetisiert wird. Sinkt die Synthese von Erythropoetin infolge einer Niereninsuffizienz, kommt es über eine gestörte Bildung der Erythrozyten zu einer renalen Anämie. Diese normochrome, normozytäre Anämieform (Tabelle 2) wird anhand der ursächlichen Niereninsuffizienz (erhöhte Harnstoff- und Kreatininwerte) diagnostiziert. Die Therapie besteht in einer Erythropoetin-Substitution (3).
MCH (pg) | Anämieform | MCV (fl) | Anämieform |
---|---|---|---|
< 28 | hypochrom | < 78 | mikrozytär |
28 bis 34 | normochrom | 78 bis 94 | normozytär |
> 34 | hyperchrom | > 94 | makrozytär |
Die Bildung funktionsfähiger Erythrozyten ist zudem eng mit dem Eisenangebot verknüpft. Mit der Nahrung aufgenommenes Eisen wird im Darm resorbiert und dann an Transferrin gebunden über den Blutkreislauf verteilt. Erythropoetische Zellen haben einen Transferrin-Rezeptor, über den der Transferrin-Eisen-Komplex in die Zelle aufgenommen wird. Als Diagnoseparameter für eine Eisenmangelanämie dienen Ferritin (Speichereisen), Transferrin oder die Transferrin-Sättigung. Die Eisenmangelanämie ist in Mitteleuropa die häufigste Anämie (Tabelle 3). Weltweit sind schätzungsweise 600 Millionen Menschen betroffen. Die potenziellen Ursachen sind vielfältig und beinhalten neben Mangelernährung auch Eisenresorptionsstörungen und Blutverluste, zum Beispiel bei Hypermenorrhö. Unter bestimmten Bedingungen (Wachstumsphase, Schwangerschaft) steigt der Eisenbedarf.
Neben Eisenmangel kann auch eine Eisentransport- oder -verwertungsstörung zu einer hypochromen mikrozytären Anämie führen. Die sideroachrestische oder sideroblastische Anämie fällt durch Erythroblasten mit eisenhaltigen Granula (Sideroblasten) auf. Bei der ererbten Form ist die δ-Aminolävulinsäure-Synthetase, ein Enzym der Häm-Synthese, defekt (3).
Zufuhr und Substitution von Eisen
Für die Deckung des täglichen Eisenbedarfs von 1 mg müssen Erwachsene 10 bis 15 mg Eisen aufnehmen. Der Bedarf erhöht sich in der Schwangerschaft (30 bis 40 mg) oder bei Eisenverlusten, zum Beispiel bei Hypermenorrhö. Menschen können Eisen aus tierischen Nahrungsmitteln (als Hämin-Komplex) besser aufnehmen als aus pflanzlichen Nahrungsmitteln.
Bei nachgewiesenem Eisenmangel (Serum-Ferritin unter 35 µg/l) ist die orale Substitution (Dosierung einmal täglich 100 mg Fe2+) die Therapie der Wahl. Verschiedene Stoffe können die Eisenresorption fördern (Beispiel Vitamin C) oder behindern (Beispiel Kaffee). Bei gastrointestinalen Nebenwirkungen der Eisengabe wie Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung oder Durchfall kann der Einnahmezeitpunkt variiert oder die Dosis auf mehrere Gaben verteilt werden. Die Behandlung sollte bis zur Auffüllung der Eisenreserven (Serum-Ferritin: 50 bis 100 µg/l) fortgesetzt werden.
Eine versehentliche Überdosierung ist aufgrund der regulierten Eisenaufnahme – es wird nur so viel aufgenommen wie abgegeben wird – unwahrscheinlich (cave: Eisenspeichererkrankungen). Dennoch sollte die Eisensubstitution ärztlich begleitet werden. Bei Kindern kann es bei einer unkontrollierten Einnahme großer Mengen zu akuten Vergiftungen kommen.
Während der Schwangerschaft steigt auch der Tagesbedarf an Folsäure (von 400 auf bis zu 800 mg) und von Vitamin B (von 3 auf 3,5 bis 4 mg). Zur Prophylaxe von Neuralrohrdefekten wird die tägliche Einnahme von 400 mg Folsäure empfohlen.
Ursache | Beispiele |
---|---|
Substratmangel | Eisenmangelanämie Anämie bei Störungen von Eisentransport und -verwertung, zum Beispiel sideroblastische Anämie megaloblastäre Anämien: Vitamin-B12-Mangel (perniziöse Anämie) und Folsäuremangel |
Mangel an Wachstumsfaktor | renale Anämie |
Knochenmarksdefekte | aplastische Anämie myelodysplastische Syndrome |
Vitamin B12 und Folsäure
Einer megaloblastären Anämie liegen Störungen in der Desoxyribonukleinsäure-(DNA)-Synthese zugrunde, die die Erythropoese beeinträchtigen. Häufige Ursachen sind Vitamin B12- oder Folsäuremangel. Namensgebend sind die vergrößerten Erythroblasten im Knochenmark, die sogenannten Megaloblasten. Im Blutbild präsentiert sich die Anämie als makrozytär (MCV > 120 fl) und hyperchrom.
Vitamin B12 muss für die Resorption im Darm an einen Intrinsic Factor gebunden werden, der von den Parietalzellen (Belegzellen) des Magens gebildet wird. Eine Vitamin-B12-Mangelanämie aufgrund eines Intrinsic-Factor-Mangels wird als perniziöse Anämie bezeichnet. Zu diesem Mangel kommt es bei einer atrophischen Gastritis mit dem Auftreten von Antikörpern gegen Parietalzellen oder gegen den Intrinsic-Factor. Bei einer perniziösen Anämie oder einem Vitamin-B12-Mangel aufgrund von Resorptionsstörungen im Darm ist eine orale Substitution mit Tagesdosen (1 bis 2 mg) weit oberhalb des täglichen Bedarfs (3 µg) möglich (4).
Defekte im Knochenmark
Bei Patienten mit Myelodysplastischen Syndromen (MDS, Tabelle 3) ist die Zahl der reifen funktionsfähigen Erythrozyten vermindert. Daneben treten auch Neutropenien, Thrombozytopenien und Zellveränderungen im Knochenmark auf. Ursache sind somatische Mutationen (bisher wurden mehr als 25 gefunden) in pluripotenten hämatopoetischen Stammzellen als Folgen einer Strahlen- oder Toxinexposition. Eine MDS kann in eine akute myeloische Leukämie (AML) übergehen.
Die Identifizierung der zugrunde liegenden Mutation ermöglicht in einigen Fällen eine zielgerichtete Therapie. Bei Patienten mit einer Deletion im Chromosom 5 kann der Immunmodulator Lenalidomid, der ursprünglich für Multiple Myelome entwickelt wurde, erfolgreich sein (5). Neben einer Supportivtherapie (Bluttransfusionen) wird auch 5-Azacytidin (Methyltransferasehemmer) bei Hochrisikopatienten mit schlechter Prognose eingesetzt.
Im Blut vorhandene Glucose kann irreversibel an Hb binden. Die Menge des entstehenden Glykohämoglobins (HbA1c) ist abhängig vom Blutzuckergehalt. Der HbA1c-Wert wird genutzt, um den mittleren Blutzuckerwert der letzten acht Wochen (mittleres Alter der Erythrozyten) und damit die Qualität der Blutzuckereinstellung zu bestimmen. Der Anteil an HbA1c am Gesamt-Hb beträgt bei Gesunden etwa 4 bis 6 Prozent. Bei Patienten mit Diabetes mellitus wird ein HbA1c-Anteil von unter 6,5 Prozent angestrebt, um Langzeitfolgen zu minimieren. Bei einer verkürzten Erythrozyten-Halblebenszeit, zum Beispiel bei hämolytischer Anämien, können falsch niedrige Werte gemessen werden.
Auch bei der Aplastischen Anämie (AA) ist die Zahl der Blutzellen (Erythrozyten, Thrombozyten, Leukozyten) vermindert. Selten ist eine AA angeboren (Beispiel: autosomal rezessive Fanconi-Anämie), weitaus häufiger erworben. Auslöser können Medikamente, Toxine wie Benzol, ionisierende Strahlen oder eine Virusinfektion sein. Bei dem weitaus größten Anteil (über 70 Prozent) ist die Ursache jedoch unklar. Die Therapie besteht aus Bluttransfusionen oder Stammzelltransplantationen.
Anämien aufgrund gesteigerter Hämolyse
Normalerweise werden Erythrozyten etwa 120 Tage alt, bevor sie in Milz, Leber oder Knochenmark abgebaut werden. Zahlreiche Ursachen können die Hämolyse jedoch beschleunigen. Erhöhte Bilirubin-Werte (Abbauprodukt des Hb), erhöhte Laktat-Dehydrogenase-(LDH)-Werte (Enzym, das bei der Zerstörung der Erythrozyten freigesetzt wird) und erniedrigte Haptoglobin-Werte (Transportprotein für Hb) im Blut können eine Hämolyse anzeigen. Auch die Retikulozytenzahl ist erhöht.
Die Ursachen einer Hämolyse können in den Erythrozyten selber begründet liegen (intraerythrozytäre Defekte) oder auf extraerythrozytären Störungen beruhen (Tabelle 4).
Autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) sind extraerythrozytäre Störungen und werden durch die Bindung von Antikörpern an Oberflächenantigene der Erythrozyten hervorgerufen. Zur Hämolyse kommt es durch die Aktivierung von Komponenten des Immunsystems. Prinzipiell werden AIHA mit sogenannten Wärme- und Kälteantikörpern unterschieden, die bei unterschiedlichen Temperaturen an Erythrozyten binden. Eine Splenektomie oder eine immunsuppressive Therapie mit Steroiden ist nur bei der AIHA mit Wärmeantikörpern erfolgreich; bei der AIHA mit Kälteantikörpern gilt es primär, die Kälteexposition zu vermeiden. Der anti-CD20 Antikörper Rituximab (induziert Immunantwort gegen B-Zellen und verringert damit die Antikörperproduktion) ist bei beiden Formen eine Therapieoption (6).
Eine in Mitteleuropa häufige Form der hämolytischen Anämie aufgrund intraerythrozytärer Defekte ist die Kugelzellenanämie (Hereditäre Sphärozytose; Prävalenz 1:2000 bis 1:5000; Tabelle 4). Bei normwertigem MCV ist der MCH erhöht. Ursache sind Mutationen in verschiedenen Genen für Proteine des Zytoskeletts. Die Erythrozyten verlieren ihre bikonkave Form, sind anfällig gegenüber osmotischen Schwankungen und werden in der Milz vermehrt abgebaut (7). Klinische Zeichen sind Splenomegalie und Ikterus, bei schweren Verläufen kann es zu lebensbedrohlichen hämolytischen Krisen kommen.
Als kausale Therapie kommt ausschließlich eine (Teil-)Splenektomie infrage. Aufgrund des Infektionsrisikos wird diese Operation aber nur bei rezidivierenden hämolytischen Schüben und frühestens ab einem Alter von fünf Jahren vorgenommen.
Störungen im Erythrozyten-Stoffwechsel
Bei den Erythrozytenenzymopathien (Tabelle 4) ist der Stoffwechsel der Erythrozyten gestört. Der häufigste Defekt ist ein Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-(G-6-PD)-Mangel. Dieses Enzym ist Teil des Pentosephosphatwegs, der unter anderem für die Bildung von Reduktionsäquivalenten zur Reduktion von Glutathion verantwortlich ist. Bleibt Glutathion im oxidierten Zustand, sinkt die antioxidative Kapazität in der Zelle, was beim Auftreten von Oxidanzien zu Schäden und potenziell zum Zelltod führen kann. Erythrozyten können – anders als andere Zellen – ihre Reduktionsäquivalente nur über den Pentosephosphatweg synthetisieren. Daher wirkt sich ein G-6-PD-Mangel bei diesen Zellen am dramatischsten aus.
Das G-6-PD-Gen wird X-chromosomal vererbt. Bei Frauen wird in jeder Zelle zufällig eines ihrer beiden X-Chromosomen stillgelegt, sodass nur das andere Chromosom Baupläne für Proteine liefert. Bei heterozygoten Frauen, die neben einem mutieren G-6-PD-Gen auch noch ein Wildtyp-Gen haben, kommen daher Erythrozyten mit und ohne G-6-PD-Mangel vor. Daraus resultieren variable Krankheitsbilder. Da Männer nur ein X-Chromosom haben, sind bei einer Mutation im G-6-PD-Gen alle Erythrozyten geschädigt. Daher ist der Krankheitsverlauf, wie auch bei Frauen mit zwei defekten G-6-PD-Genen schwerer.
Weltweit sind etwa 400 Millionen Menschen von einem mutierten G-6-PD-Gen betroffen. Gehäuft kommt dies im Mittelmeerraum, mittleren Osten, Afrika und Südostasien vor. Bei drei Viertel der Patienten sind die Symptome mild. Zu hämolytischen Krisen kann es bei oxidativem Stress, ausgelöst durch Infektionen, Medikamente wie Acetylsalicylsäure sowie Lebensmittel, zum Beispiel Bohnen (lat. fava; daher ist die Erkrankung auch als Favismus bekannt), kommen (3).
Ursachen, Auslöser | Beispiele |
---|---|
Extraerythrozytär | |
Infektionen | Malaria |
Verbrennungen | |
Erkrankungen der Milz | Hypersplenismus, Splenomegalie |
Autoimmunreaktionen | autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) |
Transfusionsreaktion | |
Rhesusinkompatibilität | Morbus haemolyticus fetalis |
mechanische Ursachen: Erythrozyten- Fragmentationssyndrome | künstliche Herzklappen, hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS), thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) |
Intraerythrozytär | |
Erythrozyten- Membrandefekte | hereditäre Sphärozytose (Kugelzellenanämie), hereditäre Eliptozytose, hereditäre Stomatozytose, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (erworben) |
Erythrozyten- enzymopathien | Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel, Favismus, Pyruvatkinase-(PK)-Mangel |
Hämoglobinopathien | Thalassämien (Cooley-Anämie), Hb-Strukturvarianten (Sichelzellenanämie), Mischformen (HbS-β-Thalassämie) |
Erythropoetische Porphyrie | Morbus Günther |
Veränderungen des Hämoglobins
Hämoglobinopathien (Tabelle 4) treten weltweit bei etwa 300 000 Neugeborenen jährlich (8) auf und gehören – zusammen mit dem G-6-PD-Mangel – zu den häufigsten Erbkrankheiten. Laut Schätzungen sind 7 Prozent der Weltbevölkerung Träger einer Mutation, die eine Hämoglobinopathie auslösen kann.
Man unterscheidet zwischen Thalassämien (Proteinketten des Hb werden in nicht ausreichender Menge gebildet) und den Hb-Strukturvarianten (Proteinketten mit veränderter Aminosäuresequenz). Ursache sind Punktmutationen oder Deletionen in den Globin-Genen. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Krankheitsbilder (9).
Bei Thalassämien kann sowohl die α- als auch die β-Kette betroffen sein. Aufgrund der autosomal rezessiven Erbgänge ist die klinische Manifestation bei heterozygoten Trägern (Thalassaemia minor) deutlich milder als bei homozygoten Trägern (Thalassaemia major). Da bei schweren Thalassämien Untereinheiten für die Synthese des normalen tetrameren HbA fehlen, kommt es zu Neukombinationen der Untereinheiten sowie zur Verwendung von Untereinheiten, die üblicherweise in embryonalen oder fetalen Hb-Typen vorkommen.
Die Sichelzellenerkrankung tritt in den Malariagebieten Afrikas und Asiens gehäuft auf. In der Nähe des Äquators tragen etwa 25 bis 40 Prozent der Bevölkerung ein HbS-Gen. Die weite Verbreitung des primär »nachteiligen« Gens wird mit dem für heterozygote HbS-Träger verminderten Risiko (90 Prozent), an Malaria zu erkranken, erklärt.
Der Mechanismus dieser »Malariaresistenz« ist bis heute nicht abschließend entschlüsselt. Im Lauf ihres Lebenszyklus befallen Malariaerreger (Plasmodien) die roten Blutzellen. Daher liegt der Schluss nahe, dass die Erreger HbS-haltige Erythrozyten entweder schlechter infizieren oder sich darin schlechter vermehren können. Viele Befunde deuten darauf hin, dass die Hb-Variante nicht die Infektion mit Plasmodien, sondern nur die Entstehung der Erkrankung verhindert (10).
Bei milden Formen der Thalassämie kann die Blutbildung mit Folsäure und Vitamin B12 unterstützt werden. Schwere Verläufe erfordern Bluttransfusionen. Knochenmarkstransplantationen stellen die einzige kurative Therapie dar.
Punktmutationen in den Genen für α- oder β-Globinketten können verschiedene Auswirkungen auf die Hb-Komplexe haben: Bildung von MetHb, veränderte Sauerstoffaffinität, Instabilität und verringerte Löslichkeit (Aggregationsneigung). Die bekannteste Strukturvariante ist HbS, bei dem in der β-Kette an Position 6 eine Glutaminsäure gegen Valin ausgetauscht ist. HbS-haltige Erythrozyten deformieren bei Sauerstoffmangel sichelförmig (Kasten). Aufgrund der fehlenden Verformbarkeit kommt es zur Okklusion von kleineren Kapillaren und in der Folge zu heftigen Schmerzattacken und Schäden in verschiedenen Organen. Die Anämie ist meist milde.
Das Vollbild einer Sichelzellkrankheit zeigt sich nur bei homozygoten Trägern des HbS-Gens und bei gemischten heterozygoten Hämoglobinopathien, zum Beispiel bei einer HbS-β-Thalassämie. Heterozygote Träger des HbS-Gens (Erythrozyten enthalten HbS und HbA) sind dagegen häufig symptomlos (9). Die Therapieoptionen reichen je nach Schwere des Krankheitsverlaufs von Symptombehandlung (Analgetika) bis zur Knochenmarkstransplantation.
Wenn das Blut zu dick wird
Für Pharmaunternehmen sind Studien mit Kindern sehr aufwendig und bislang wenig rentabel.
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Die Polycythaemia vera ist aufgrund ihrer Seltenheit wenig bekannt (Inzidenz 1 bis 2/100 000). Sie wird häufig als Zufallsbefund bei einem erhöhten Hämatokrit, Hb und einer erhöhten Erythrozytenzahl im Blutbild entdeckt. Aufgrund einer steigenden Zellzahl im Blut (Erythrozyten, Thrombozyten und Leukozyten) wird das Blut immer dickflüssiger und das Thrombose- und Schlaganfallrisiko steigt.
Ursache der Erkrankung ist meist eine somatische Mutation einer intrazellulären Tyrosinkinase, der sogenannten Janus-Kinase-2 (JAK-2), in einer hämatopoetischen Stammzelle. Als Folge davon ist JAK-2 konstitutiv aktiv und die Zellen wachsen weitgehend unkontrolliert durch externe Wachstumsfaktoren wie Erythropoetin. Unbehandelt ist eine Polycythaemia vera tödlich.
Die Therapie besteht aus regelmäßigen Aderlässen und niedrig dosierter Gabe von Acetylsalicylsäure zur Blutverdünnung. Versagen diese Maßnahmen, werden Chemo- oder Interferontherapien eingesetzt, um das Wachstum der betroffenen Zelle zu unterbinden (11). Der JAK-1/2-Inhibitor Ruxolitinib ist derzeit in der klinischen Erprobung. Im Frühjahr 2014 veröffentlichte Hersteller Novartis die Ergebnisse einer Phase-III-Studie, bei der Ruxolitinib herkömmlichen Therapieschemata bezüglich Hämatokritkontrolle und Reduktion der Milzgröße überlegen war. /
Literatur
Heidi Schooltinkstudierte Biologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Dort wurde sie 1992 am Institut für Biochemie der Medizinischen Fakultät mit einer Arbeit über den hepatischen Interleukin-6-Rezeptor promoviert. Danach arbeitete sie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg über rekombinante Antikörper. Die Autorin ist seit 2002 als freiberufliche Wissenschaftsjournalistin und Lektorin tätig.
Dr. Heidi Schooltink Theodor-Heuss-Weg 6, 24211 Schellhorn E-Mail: hschooltink(at)aol.com