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Selbstmedikation

EU plant Strategiewechsel

08.06.2016  09:26 Uhr

Von Ev Tebroke, Athen / Die Selbstmedikation nimmt in der medizinischen Versorgung einen immer höheren Stellenwert ein. Das zeigt sich auch auf Europa-Ebene. Doch um entsprechende Arzneimittel und Medizinprodukte schneller am Markt verfügbar zu machen, sind Verbesserungen nötig.

Erstmals haben die Heads of Medicines Agencies, ein Zusammenschluss der nationalen Zulassungsbehörden für Human- und Tierarzneimittel auf EU-Ebene, ein Strategiepapier entwickelt, das im Bereich Humanmedizin die Verfügbarkeit von OTC-Produkten auf dem europäischen Markt vorantreiben soll. Für die Hersteller ein entscheidender Schritt, wie der Generaldirektor des europäischen Verbands der Arzneimittelhersteller (AESGP), Hubertus Cranz, am Rande der Jahrestagung vergangene Woche in Athen betonte.

 

Hersteller mit Agenda 2020

 

Mit einer sogenannten Agenda 2020, die auf dem Jahrestreffen vorgestellt wurde, machen die Hersteller nun konkrete Verbesserungsvorschläge, um den Marktzugang für OTC-Produkte zu beschleunigen. Nach Aussagen von Cranz ist die bestehende Rechtslage zwar vernünftig, bei der Umsetzung hakt es aber noch gewaltig. Neben einem effizienteren Zulassungsprozedere geht es den Herstellern dabei auch um ein vernünftiges System der Pharmakovigilanz. Dabei sollten die Produkte nicht ausschließlich risikozentriert, sondern auch nach ihrem Nutzen für den Patienten bewertet werden, lautet eine der zentralen Forderungen. Bei den regulatorischen Bedingungen sehen die Hersteller ebenfalls Optimierungsbedarf.

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt, um den OTC-Markt und hier insbesondere die pflanzlichen Arzneimittel zu stärken, ist für die Branche eine konsequente Umsetzung der sogenannten Health-Claims-Verordnung. Vor allem sollen die gesundheitsbezogenen Angaben bei pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln, den Botanicals, auf den Prüfstand, fordert der Bundesverband der Arneimittelhersteller (BAH) anlässlich des AESGP-Treffens.

 

Die 2006 in Kraft getretene EU-Verordnung sieht vor, dass Lebensmittelhersteller nur mit nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben (Health Claims) für Nahrungsmittel werben dürfen, wenn die Richtigkeit der Aussagen wissenschaftlich belegt und von der EU geprüft worden sind (geprüfte EU-Positivliste). Dies soll Verbraucher vor irreführenden Angaben auf den Produkten schützen. Unter diese Regelung fallen auch Nahrungsergänzungsmittel. Bei Botanicals scheint die EU-Kommission aber eine Ausnahme machen zu wollen: Seit 2010 ist die Prüfung der derzeit verwendeten rund 2000 Health Claims nach der geltenden Verordnung überraschend ausgesetzt. Und es scheint, als solle dies so bleiben. Nach Angaben des BAH prüft die EU derzeit, ob die Health-Claims-Verordnung für diese Gruppe überhaupt geeignet ist und ob sie nicht dauerhaft aus der Prüfpflicht ausgenommen werden soll.

 

Sehr zum Ärger der Arzneimittelhersteller, die pflanzliche Arzneimittel wettbewerbsrechtlich benachteiligt sehen. Es gebe Indizien, dass bei den Botanicals nur in wenigen Fällen ein Gesundheitsbezug überhaupt belegt werden könne, heißt es. Der Verbraucher könne aber meist nicht unterscheiden, ob es sich bei einem pflanzlichen Produkt um ein Arzneimittel oder ein Nahrungsergänzungsmittel handele, er werde durch die medizinisch anmutenden Health Claims getäuscht. Würden künftig verstärkt Botanicals ohne behördliche Prüfung vermarktet, ruiniere dies den Markt der pflanzlichen Arzneimittel, betonen die Hersteller.

 

Nach Angaben des BAH haben pflanzliche Arzneimittel in Deutschland einen besonderen Stellenwert. Demnach ist jedes sechste OTC-Produkt ein pflanzliches Medikament. Im Jahr 2015 gingen 115 Millionen Packungen über den HV-Tisch (gesamt OTC: 750 Millionen), im Wert von 1,4 Milliarden Euro. Andere EU-Länder wie etwa Italien kennen solche Medikamente nicht. Dafür haben sie ein großes Angebot an Botanicals am Markt, die mit gesundheitsbezogenen Health Claims werben. Die EU begründet ihre Ausnahmeregelung damit, dass sich zunehmend mittelständische Unternehmen in diesem Bereich etabliert hätten, die es zu schützen gelte. Würden die Health Claims von Botanicals dauerhaft nicht geprüft, wären aber hierzulande mit den Herstellern pflanzlicher Mittel ebenfalls vor allem kleine und mittelständische Unternehmen die Leidtragenden. Es drohe ein »existenzgefährdender Wettbewerbsnachteil«, so der BAH.

 

Stoffliche Medizinprodukte

Eine Marktverdrängung noch nicht überschaubaren Ausmaßes befürchten auch die Hersteller von stofflichen Medizinprodukten. Das sind Produkte, die zwar wie Arzneimittel aussehen, aber im Gegensatz zu diesen rein physikalisch wirken. Im Rahmen der auf der Zielgeraden befindlichen neuen EU-Medizinprodukteverordnung müssen die Hersteller künftig einen beträchtlichen Mehraufwand bei der Erstell­ung der erforderlichen Unterlagen betreiben. Nach Angaben des BAH mit zum Teil absurden Dimensionen: So sind etwa für das Inverkehrbringen von medizinischer Kohle in Zukunft eige­ne klinische Dossiers erforderlich, denn sie sind künftig in die höchste Risikoklasse III eingestuft – zusammen mit Herzschrittmachern und Gelenk­ersatz.

 

Grund sind erheblich verschärfte Auflagen für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten. Nach jahrelangen Verhandlungen hatten sich die Verantwortlichen von EU-Kommission, -Parlament und -Ministerrat Ende Mai auf einen Kompromiss geeinigt. Ausgehend von dem sogenannten PIP-Skandal im Jahr 2012 um minderwertige Brustimplantate war das Ziel, insbesondere Hochrisikoprodukte wie etwa Implantate sicherer zu machen. Mit der nun erarbeiteten Verordnung rutschen aber auch die stofflichen Medizinprodukte in höhere Risikoklassen. Konnten sich viele Hersteller bislang selbst zertifizieren, erfolgt künftig immer eine Prüfung und Zertifizierung durch die sogenannten benannten Stellen. Dieser Mehraufwand würde sich für viele Unternehmen wirtschaftlich nicht lohnen, sodass sie ihre Produkte vom Markt nehmen müssten, befürchtet der BAH.

 

»Die neue Verordnung kommt einem risikobasierten Ansatz nicht nach«, kritisiert BAH-Geschäftsführer Wissenschaft, Elmar Kroth. Stattdessen stelle sie Produkte, die bereits jahrelang ohne sicherheitsrelevante Vorkommnisse am Markt sind, gleich mit Hochrisiko-Produkten wie Implantaten, die dauerhaft im Körper bleiben. Künftig ist demnach die niedrigste Risikoklasse I, in der sich Hersteller selbst zertifizieren können, für stoffliche Medizinprodukte gar nicht mehr vorgesehen. Diese Risikoklasse gilt nur noch für Produkte wie beispielsweise Gehhilfen. Produkte, die auf der Haut oder in der Nase oder der Mundhöhle angewendet werden, wie etwa Fango-Packungen, Meerwassernasensprays oder Halspastillen mit Isländisch Moos, werden stattdessen künftig in Klasse IIa eingestuft, müssen also bei den benannten Stellen Unterlagen einreichen. Und Produkte, die absorbiert werden oder die im Magen-Darm-Trakt wirken und absorbiert werden – das sind neben medizinischer Kohle etwa abführend wirkende Präparate wie Macrogol, fettbindende Diätmittel wie Chitosan oder Produkte mit Cranberry zur Vorbeugung von Harnwegsinfektionen – sind in Zukunft in die höchste Risikoklasse III eingestuft. Damit sind für das Inverkehrbringen eigene klinische Studien erforderlich.

 

Bestandsmarkt schwierig

 

Die neue Verordnung soll voraussichtlich im Herbst in Kraft treten und wäre dann Ende 2019 in Deutschland bindend. Die Hersteller haben drei Jahre Zeit, ihre Produkte neu zu klassifizieren. Noch ist laut Kroth aber nicht klar, ob der Bestandsmarkt überhaupt nachzertifiziert werden kann. Laut BAH ist die Prüfung des Altmarkts in dem Zeitrahmen nicht möglich. Der Flaschenhals seien die benannten Stellen, deren Anzahl ist demnach um 25 Prozent gesunken. Gleichzeitig sei das Aufgabenspektrum der verbliebenen Stellen deutlich erweitert, so Kroth. Es drohten Engpässe bei der Zertifizierung. Der BAH hofft nun auf pragmatische Lösungen und fordert die Verantwortlichen auf, bei der Umsetzung und weiteren Ausgestaltung der neuen Verordnung mit Augenmaß zu agieren. /

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