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Horst Böhme - ein bedeutender pharmazeutischer Chemiker

26.05.2008  16:31 Uhr

Horst Böhme - ein bedeutender pharmazeutischer Chemiker

Von Christoph Friedrich

 

Wie kaum ein anderer Hochschullehrer prägte der seit 1946 in Marburg wirkende Horst Böhme die Entwicklung der Hochschulpharmazie im westlichen Teil Deutschlands. Er begründete eine bedeutende wissenschaftliche Schule der pharmazeutischen Chemie, aus der 158 Doktoranden und 19 Hochschullehrer hervorgingen.

 

Johann Friedrich Horst Böhme (1908 bis 1996) entstammt einer alten Apothekerfamilie; sein Urururgroßvater Johann Friedrich Böhme (1741 bis 1809) erwarb 1772 die Apotheke in Bernau bei Berlin, die sich bis 1947, also 175 Jahre, im Besitz seiner Familie befand. Horst Böhme wurde am 30. Mai 1908, vor 100 Jahren, als zweiter Sohn des Apothekers Johann Friedrich Arthur Böhme (1869 bis 1947) und dessen Frau, der Apothekerstochter Adele Böhme, geb. Meyer (1883 bis 1931), geboren. Nach der Reifeprüfung, die Horst Böhme 1926 am Realgymnasium Berlin-Pankow ablegte, begann er seine Praktikantenzeit in der väterlichen Offizin in Bernau. Im Anschluss an die Pharmazeutische Vorprüfung studierte er ab 1929 Pharmazie und Chemie an der Universität München, wo unter anderem der Nobelpreisträger Heinrich Wieland (1877 bis 1957) und der Professor für anorganische Chemie Otto Hönigschmid (1878 bis 1945) seine Lehrer waren. 1931 legte er die Pharmazeutische Staatsprüfung und zwei Jahre später die Verbands-Hauptprüfung für Chemiker jeweils mit »sehr gut« ab und wechselte nun nach Berlin, wo er an dem von Carl Mannich (1877 bis 1947) geleiteten Pharmazeutischen Institut bei Kurt Bodendorf (1898 bis 1976) seine Doktorarbeit anfertigte. 1934 erfolgte seine Promotion mit »summa cum laude«, 1935 bestand er auch das lebensmittelchemische Staatsexamen. Danach wirkte Böhme als wissenschaftlicher Assistent am Pharmazeutischen Institut Berlin, das damals »eine wahre Brutstätte für den Hochschullehrernachwuchs« war, an dem sich aber nach 1933, wie Böhme berichtet, auch bereits Opportunismus breitmachte. Der Direktor Carl Mannich, der sich durch ein stets integeres und zurückhaltendes Wesen auszeichnete, ließ hingegen seine Ablehnung des Nationalsozialismus deutlich erkennen, verlor aber nicht zuletzt deshalb viele seiner Ehrenämter. Der Weggang Bodendorfs, der 1935 einem Ruf nach Istanbul folgte, ermöglichte Böhme schon frühzeitig große wissenschaftliche Selbstständigkeit, und er untersuchte in der folgenden Zeit die Hydrolysegeschwindigkeiten organischer Halogenverbindungen. Außerdem befasste er sich mit der Synthese von α-Halosulfiden, Alkyl-chlor-polysulfiden und Alkyl-hydrogen-polysulfiden, Methyleniminium-Salzen sowie mit Strukturermittlungen von Naturstoffen. Für seine Arbeiten interessierte sich auch das Heereswaffenamt, für das er seit 1936 Probleme des Gasschutzes untersuchte. Seine Habilitationsschrift wurde durch Erlass des Reichskriegsministeriums 1938 »aus Gründen der Landesverteidigung« der Geheimhaltung unterstellt, sodass sich Böhmes erst 1940, allerdings rückwirkend für 1938, unter Mannich habilitieren konnte. Die venia legendi erhielt er für das Gesamtgebiet der Chemie. Eine geplante Berufung nach Lemberg kam, trotz eines sehr positiven Gutachtens von Kurt Walter Merz (1900 bis 1967), 1942 aus finanziellen Gründen nicht zustande. Als ein Jahr später Böhmes Räume im Pharmazeutischen Institut zerstört worden waren, wechselte er als Abteilungsleiter an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, das von Peter Adolf Thiessen (1899 bis 1990) geleitet wurde. Thiessen, der als Fachbereichsleiter für Anorganische und Physikalische Chemie des Reichsforschungsrates großen Einfluss besaß, ermöglichte ihm günstige Arbeitsbedingungen und verhinderte dessen Einberufung zum Kriegsdienst. 1944 wurde Böhme zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Seine Lehrveranstaltungen zur Pharmazeutischen Chemie führte er im Pharmazeutischen Institut durch.

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Da Böhmes Frau, die er 1935 geheiratet hatte, bereits 1943 mit den beiden Kindern Hans-Jochen und Angelika ins oberhessische Alsfeld evakuiert worden war, erschien ein Neuanfang im vom Krieg weitgehend verschonten Marburg sinnvoll. 1946 übernahm er zunächst die Vertretung des Lehrstuhls für Pharmazeutische Chemie an der dortigen Philipps-Universität, an der er noch im gleichen Jahr seine Ernennung zum Ordinarius und Institutsdirektor erhielt. In Marburg fand Böhme Unterstützung durch den bedeutenden Chemiker Hans Meerwein (1879 bis 1965), der sich ihm besonders verbunden fühlte, da Böhmes Lehrer Bodendorf sein Schüler gewesen war. Die zunächst drei freien Assistentenstellen konnte Böhme mit ehemaligen Berliner Doktoranden besetzen und in kurzer Zeit gelang es ihm, das Institut zu einer der größten pharmazeutischen Ausbildungsstätten in Deutschland zu entwickeln. Böhme entfaltete eine imposante Lehr- und Forschungsarbeit, die Marburg wiederum zum Mekka der Pharmazeutischen Chemie werden ließ. Seinen Schülern war er stets ein strenger, aber gerechter und verständnisvoller Doktorvater und lebte ihnen preußische Tugenden, wie Fleiß, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit und Organisationsgeschick vor, die es ihm erlaubten, die zahlreichen Aufgaben zu erfüllen. Zu seinen Schülern gehörte eine Reihe bedeutender Wissenschaftler, die selbst später Hochschullehrer wurden, wie die Professoren Erich Schneider, Norbert Kreutzkamp, Rudolf Schmitz (1918 bis 1992), Gerwalt Zinner, Fritz Eiden, Hans-Dietrich Stachel, Theodor Severin, Eberhard Nürnberg, Klaus Hartke (1930 bis 2000), Siegfried Ebel, Gunther Seitz, Bernhard Unterhalt, Richard Neidlein, Helmut Stamm, Manfred Haake, Hans-Hartwig Otto, Roland Bitsch, Rainer Braun und Bernd Clement. Wie zu Zeiten der beiden bedeutenden Marburger pharmazeutischen Chemiker Ernst Schmidt (bis) und Johannes Gadamer (bis) wurde Marburg wiederum zu einer »Professorenfabrik«. Schüler von Böhme besetzten Professuren für Pharmazeutische Chemie an zahlreichen Universitäten, so in Berlin, Braunschweig, Freiburg, Erlangen, Greifswald, Hamburg, Heidelberg, Kiel, Marburg, München, Münster und Würzburg. Die in Marburg im Mittelpunkt stehende präparativ-synthetische Arbeitsrichtung prägte so die Forschung in der Pharmazeutischen Chemie der Bundesrepublik Deutschland in den folgenden Jahrzehnten. Als gefragter Gutachter nahm er großen Einfluss auf die Berufungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Gemeinsam mit seinen Schülern, die stets noch ein Chemiestudium anschlossen, entwickelte Böhme ein Forschungsprogramm, das vielen seiner Schüler die Möglichkeit bot, daran anknüpfend weitere interessante Fragestellungen zu untersuchen. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten standen Synthesen von organischen Schwefel-, Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen. Mithilfe der sogenannten »Böhme-Spaltung von Aminalen« mit Chlor, Halogenwasserstoff, am besten aber mit Acetylchlorid, gelangte Böhme 1957 zu einer neuen Verbindungsklasse, den Methyleniminium-Salzen, heute weltweit unter der Bezeichnung »Böhme-Salze« als Aminomethylierungsreagenzien eingesetzt, für die in der Folgezeit vielfältige synthetische Anwendungen entwickelt wurden. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildeten für das Deutsche Arzneibuch durchgeführte Untersuchungen über Naturstoffe, insbesondere pharmazeutisch analytische an ätherischen Ölen und zahlreichen Drogeninhaltsstoffen bis hin zu den Alkaloiden. Einige der von ihm entwickelten Methoden fanden Eingang in das Deutsche beziehungsweise Europäische Arzneibuch. Enge Kontakte ergaben sich zur pharmazeutischen Industrie, die in einen Mitarbeitervertrag mit der Hoechst AG zwischen 1952 und 1978 mündeten und zwar zu einer Zeit, in der Drittmittel noch nicht allgemein üblich waren. Zahlreiche Patentanmeldungen sowie die Anstellung von Böhme-Schülern in der Industrie verdeutlichen die engen Beziehungen zu diesem Bereich. Das Gebiet Pharmazeutische Chemie erfuhr allerdings durch ihn eine starke Fokussierung auf die Synthese potenzieller Wirkstoffe, nur einer seiner Schüler widmete sich vorrangig der pharmazeutischen Analytik, gleichwohl tragen auch die Deutschen Arzneibücher, 6. Ausgabe, 3. Nachtrag, 7. und 8. Ausgabe sowie auch das Europäische Arzneibuch Band 3 von 1979 und die Kommentare zu den Pharmakopöen seine Handschrift.

 

19 Böhme-Schüler habilitierten sich, während die 158 Doktoranden, davon 146 in Marburg, als »Schüler im engeren Sinne« bezeichnet werden können. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk umfasst über 427 Publikationen sowie mehrere Bücher und Buchbeiträge.

 

Böhme trug daneben ganz entscheidend zur Wissenschaftsdifferenzierung der Pharmazie nach 1945 bei. Seinem Einfluss ist es wohl zu danken, dass in Marburg, und damit  früher als an vielen anderen Universitäten, innerhalb der Pharmazie neben der bereits bestehenden Pharmakognosie (Pharmazeutischen Biologie) die Pharmazeutische Technologie, die Pharmakologie für Naturwissenschaftler und die Geschichte der Pharmazie als eigenständige Fächer etabliert werden konnten. Die Tatsache, dass hier alle fünf pharmazeutischen Zweigdisziplinen durch selbstständige Institute in einem eigenständigen Fachbereich repräsentiert werden, verleiht der Marburger Pharmazie bis heute eine besondere Anziehungskraft und bietet die einmalige Chance, pharmazeutische Fragestellungen aus unterschiedlicher Sicht umfassend zu studieren und zu bearbeiten.

 

An der Universität Marburg fand Böhme schnell Anerkennung, bereits 1951 wurde er zum Dekan der Philosophischen Fakultät und zehn Jahre später zum Rektor der Philipps-Universität gewählt. Ehrenvolle Rufe auf Ordinariate an den Universitäten Frankfurt am Main, der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität Braunschweig lehnte er ab, was ihm wiederum erlaubte, durch Bleibeverhandlungen die Bedingungen für Lehre und Forschung in Marburg weiter zu verbessern. 1965/66 entstand ein moderner Institutsneubau für die Pharmazeutische Chemie.

 

Neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Forscher übernahm Böhme zahlreiche Ehrenämter, so war er von 1952 bis 1981 Mitglied der Kommission des Bundesgesundheitsministeriums zur Herausgabe des Deutschen Arzneibuches und von 1964 bis 1966 Mitglied der Kommission des Europarates. Ferner gehörte er der Kommission des Wissenschaftsrates für Fragen der Forschung an, war Vertrauensmann und langjähriger Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie von 1974 bis 1977 Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft, die ihn 1969 mit der Carl-Mannich-Medaille und 1986 mit der Sertürner-Medaille in Gold ehrte. Er engagierte sich für die Neufassung der Approbationsordnung 1971 und prägte so die Entwicklung der Hochschulpharmazie in Deutschland nachhaltig. Böhme erhielt eine Vielzahl von Ehrungen, bereits 1960 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, die Freie Universität Berlin und die Technische Universität Braunschweig verliehen ihm 1968 beziehungsweise 1981 die Ehrendoktorwürde. 1973 wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz, 1978 mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

 

Böhme schied 1978, mit 70 Jahren, aus dem aktiven Dienst aus. Er blieb indes auch als Emeritus der Marburger Pharmazie eng verbunden. Mehrmals in der Woche war er in seinem Emeritus-Zimmer anzutreffen, wo er Schüler und Freunde zu Gesprächen empfing und mit großem Interesse die Literatur und die Arbeiten seiner Schüler und Enkelschüler verfolgte. Am 27. Juli 1996 ist er in seinem Wohnort Arolsen verstorben. Teile seines Nachlasses befinden sich im Staatsarchiv Marburg und im Deutschen Apotheken-Museum Heidelberg. Die DPhG-Stiftung mit dem Ziel der Förderung der Wissenschaften auf allen Gebieten der Pharmazie erinnert mit dem Namen »Horst-Böhme-Stiftung« an diesen vorbildlichen Lehrer und Forscher der Pharmazie.

Quellen und Literatur (Auswahl)

Staatsarchiv Marburg Nachlass 340 H. Böhme, Nr. 1 (Persönliche Unterlagen) und Nr. 7 (Besetzungsvorschläge für Lehrstühle).

Böhme, H., Sechs Generationen Böhme und die Pharmazie. Ein nicht nur pharmaziegeschichtlicher Überblick mit autobiographischen Erinnerungen, Stuttgart 1988.

Böhme, H., Lehr- und Entwicklungsjahre eines Pharmazeuten in Berlin und München, 2 Teile, in: Deutsche Apotheker-Zeitung 129 (1989), 2707-2712 und 2832-2840.

Friedrich, Christoph, Wissenschaftliche Schulen und die Marburger Pharmazie, in: Pharmazeutische Zeitung 146 (2001), 2410-2418.

Hartke, K., Professor Dr. Dr. h. c. H. Böhme, Marburg, 65 Jahre, in: Deutscher Apotheker-Zeitung 113 (1973), 811.

Kintzel, B., Zur Geschichte der Hochschulpharmazie im nationalsozialistischen Deutschland, dargestellt an ausgewählten pharmazeutischen Ausbildungseinrichtungen Mittel- und Ostdeutschlands, Diss. rer. nat. Greifswald 1993 (Masch.-Schr.)

Seitz, G., Professor Dr. Dr. h.c. Horst Böhme, Marburg, zum 70. Geburtstag, in: Pharmazeutische Zeitung 123 (1978), 948.

Unterhalt, B., Horst Böhme 75 Jahre, in: Deutsche Apotheker-Zeitung 123 (1983), 1031-1034 (mit Bibliographie).

 

Verfasser:

Professor Dr. Christoph Friedrich

Institut für Geschichte der Pharmazie

Roter Graben 10

35032 Marburg

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