Orale Therapie mit langer Wirkung |
21.03.2018 10:45 Uhr |
Von Brigitte M. Gensthaler, München / Seit vergangenem Jahr stehen für Patienten mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose (MS) Cladribin-Tabletten zur Verfügung. Nach zwei kurzen Einnahmephasen in einem zweijährigen Behandlungszeitraum benötigen sie die nächsten zwei Jahre keine Therapie. Experten vermuten, dass die Wirkung sogar länger als vier Jahre anhält.
Cladribin ist ein Nukleosid-Analogon von Desoxyadenosin und ein Prodrug. Die Phosphorylierung zum aktiven Triphosphat (Cd-ATP) erfolgt vorrangig in Lymphozyten, da diese im Vergleich zu anderen Zelltypen enzymbedingt eine hohe Phosphorylierungsrate haben. Zugleich ist der enzymatische Abbau des Triphosphats verringert.
Das Immunsystem, das bei Multipler Sklerose körpereigene Strukturen angreift, sortiert sich durch Cladribin quasi neu.
Foto: iStock/JamesBrey
Damit sind B- und T-Lymphozyten besonders anfällig für die Apoptose-induzierende Wirkung des Cladribin-Metaboliten. »Cladribin löst daher keine generelle Lymphopenie aus, sondern zeigt eine gewisse Selektivität für MS-relevante B- und T-Zellen«, erklärte Professor Dr. Orhan Aktas von der Universitätsklinik Düsseldorf bei einer Pressekonferenz der Firma Merck in München. Es komme zu einer vorübergehenden Lymphozytenreduktion.
Vermutlich unterbricht dieser Prozess die Kaskade von Immunereignissen, die eine zentrale Rolle bei MS spielen. Nach jeder Einnahmephase erholen sich die Lymphozyten wieder, jedoch scheint sich deren Zusammensetzung zu verändern. »Das Immunsystem sortiert sich quasi neu«, erklärte der Neurologe. Experten sprechen von selektiver Immun-Rekonstitutions-Therapie (SIRT). Andere Immun- und Körperzellen wie natürliche Killerzellen oder Neutrophile würden kaum beeinträchtigt. »Das angeborene Immunsystem bleibt erhalten.«
Dosierung nach Gewicht
Laut Zulassung nehmen die Patienten insgesamt eine kumulative Dosis von 3,5 mg pro kg Körpergewicht ein. Diese wird aufgeteilt auf zwei Jahre mit je zwei Behandlungswochen. Zu Beginn des ersten Monats nehmen die Patienten an vier oder fünf Tagen einmal täglich 10 mg oder 20 mg Cladribin ein. Zu Beginn des nächsten Monats wiederholen sie die Einnahme. Dann ist erstmal Schluss. Erst im nächsten Jahr folgt das gleiche Procedere.
Das genaue Einnahmeschema hängt vom Körpergewicht ab und ist in der Fachinformation von Mavenclad® 10 mg Tabletten aufgeführt. Nach Abschluss der beiden Behandlungsphasen ist in den Jahren 3 und 4 keine weitere Cladribin-Therapie vorgesehen. Ein Neubeginn nach dem vierten Jahr wurde laut Fachinformation nicht untersucht.
Nachhaltiger Effekt im MRT
Die Mehrzahl der MS-Patienten, die den zweijährigen Therapiezyklus mit Cladribin absolviert haben, habe auch in den beiden Folgejahren stabile Befunde bei der MRT des Gehirns, berichtete Aktas aus der CLARITY-Erweiterungsstudie (DOI: 10.1177/1756285617753365). In die Studie wurden 806 von rund 1180 Patienten aus der zulassungsrelevanten CLARITY-Studie aufgenommen und erneut randomisiert. Bei Patienten, die in der Hauptstudie Placebo bekommen hatten und nun das Verum erhielten, gingen die Gadolinium-anreichernden T1-Läsionen im Gehirn relativ um 90 Prozent zurück. Bei fast drei Viertel der Patienten, die nach zweijähriger Verum-Therapie jetzt Placebo erhielten, traten in der Extensionsphase keine neuen Läsionen auf. »Die MRT-Daten bestätigen den nachhaltigen Effekt von Cladribin, der vermutlich sogar über die zweijährige Pause hinausgeht«, sagte Aktas.
Als Nebenwirkungen traten Lymphopenien und Herpes zoster auf. Dabei hatten Patienten, die in der Hauptstudie und in der Extensionsphase Cladribin erhielten, höhere Nebenwirkungsraten als diejenigen in der Placebogruppe. Die Lymphozytenzahl muss vor und während der Behandlung in festgelegten Intervallen bestimmt werden. Insgesamt sei die Umstellung von MS-Patienten auf Cladribin-Tabletten »erstaunlich unspektakulär«, berichtete Aktas aus seiner Erfahrung. /