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Medizinische Chemie

Vom Synthesekolben zur Schlafkrankheit

07.02.2018  10:17 Uhr

Von Holger Stark, Düsseldorf / Experimente in medizinischer Chemie sind häufig Grundlagenforschung. Mitunter geht daraus aber die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs hervor – so geschehen im Fall von Pitolisant, dem ersten zugelassenen Histamin-H3-­Rezeptorantagonisten zur Behandlung der Narkolepsie.

Gehirnprozesse und deren neuronale Abläufe sind komplexe und sehr spannende Vorgänge. In der medizinischen Chemie können verschiedene Neurotransmitter-Rezeptoren und Ionenkanäle mit neuen synthetischen Molekülen spezifisch aktiviert oder inhibiert werden. Die Entwicklung von solchen bio­logisch aktiven Stoffen, mit denen neue Versuche durchgeführt werden können und die möglichst Arzneistoffcharakter besitzen, gehört zu den Schwerpunkten von Professor Dr. Holger Stark am Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

 

Zur Marktreife gebracht

 

Die Arbeitsgruppe befasst sich mit der Entwicklung von Liganden für einen Histaminrezeptor-Subtypen, den Hist­amin-H3-Rezeptor (H3R). Dieser prä­synaptische Auto- und Heterorezeptor regelt die Synthese und Freisetzung von Histamin in zentralen Neuronen und beeinflusst zahlreiche weitere Botenstoffe. Der H3R-Antagonist Pitolisant konnte im Rahmen einer Public-Privat-Partnership zusammen mit der Freien Universität Berlin, dem University College London und der französischen Firma Bioprojet entwickelt und bis zur Marktreife gebracht werden. Seit 2016 steht der Wirkstoff als Wakix® in Europa zur Behandlung der Narkolepsie mit und ohne Kataplexie zur Verfügung. In den USA ist der Vertrieb über Harmony Bioscience demnächst zu erwarten.

 

Narkolepsie ist eine neurologische Erkrankung mit Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, die durch erhöhte und manchmal plötzliche Tagesschläfrigkeit, zum Teil mit einem vorüber­gehenden Verlust der Muskelspannung (Kataplexie), gekennzeichnet ist. Pito­lisant hemmt den negativen Feedback-Mechanismus von Histamin und stimuliert auf diese Weise die histaminerge Innervation. Damit ist eine erhöhte Wachheit und Aufmerksamkeitssteigerung verbunden, die als Gegensatz zu der Wirkung klassischer Histamin-H1-Rezeptorantagonisten angesehen werden kann.

 

Sehr viel häufiger als die Narko­lepsie sind Schlafattacken beispielsweise bei der dopaminergen Parkinsontherapie. In dieser Indikation wird Pitolisant bereits in einer Phase-III-Studie getestet. Bei der sehr seltenen Erbkrankheit Prader-Willi-Syndrom wird Pitolisant derzeit bei einigen betroffenen Kindern off Label mit guten Resultaten eingesetzt. Hier ist jedoch die Etablierung von klinischen Studien aufgrund der niedrigen Patientenzahlen sehr schwierig.

 

Die Marktreife einer selbst hergestellten Substanz stellt sicherlich die Krönung einer erfolgreichen Entwicklung dar. Aber auch darüber hinaus konnten die Forschungsfelder der Düsseldorfer Arbeitsgruppe vielfältig erweitert werden.

 

Weitere Forschungsfelder

 

So konnte die Gruppe im Bereich der zuletzt gefundenen Histamin-H4-­Rezeptoren neue Referenzstrukturen generieren, die präklinisch als Immunmodulatoren und Entzündungshemmer untersucht werden. Ein großer Entwicklungsvorteil des Labors ist dabei, dass neben dem Design und der Synthese neuer Wirkstoffe auch die pharmakologische In-vitro-Charakterisierung durchgeführt wird. Neben Verdrängungsassays mit radioaktiv markierten Liganden geraten immer mehr fluoreszenzbasierte Assays in den Vordergrund. Experimente, die über die pharmakologische Charakterisierung hinausgehen, werden in Kooperation mit internationalen Experten durch­geführt.

 

Des Weiteren konnte die Gruppe Dopamin-D2/D3-Rezeptorliganden als Backup-Kandidaten für klinische Entwicklungen bereitstellen sowie Lipid­liganden und Enzymmodulatoren in den Bereichen der Arachidonsäure­kaskade, der Sphingolipide sowie der katabolen Enzyme von Neurotransmittern. Initial steht dabei die Entwicklung von selektiven Liganden als Agonisten, partielle Agonisten, Ant­agonisten beziehungsweise inverse Agonisten oder Proteus-Agonisten im Vordergrund, nach und nach werden den Substanzen dann zusätzliche Wirk­qualitäten hinzugefügt. Ob es sich hierbei um physikochemische oder pharmakologische Eigenschaften handelt, richtet sich nach der jeweiligen Fragestellung.

 

Um selektive Substanzen zur Sichtbarmachung zu generieren, müssen farbgebende Systeme, Fluorophore, oder PET/SPECT-Funktionalitäten in die Pharmakophore eingeführt werden, also chemische Gruppen, die in der ­Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder der Einzelphotonen-Emissions-Computertomografie (SPECT) sichtbar sind. Dieses komplexe Wirkstoffdesign benötigt klare Vorstellungen von den molekularen Wechselwirkungen bis hin zu den pharmakokinetischen Eigenschaften, die entweder in Zellexperimenten, im Tiermodell oder später beim Patienten vorliegen. Hierbei arbeitet die Gruppe in der pharmakologischen Testung ausschließlich in vitro; alle weitergehenden Untersuchungen werden in nationalen und internationalen Kooperationen durchgeführt.

 

Die Ausrichtung auf verschiedene Botenstoffe und die beteiligten Enzyme ermöglicht es, unterschiedliche Entwicklungslinien zusammenzuführen. Statt selektive Wirkstoffe für ein Target zu designen, werden Substanzen entwickelt, die für ein neues pharmakologisches Profil gleichzeitig an verschiedenen Targets wirksam sind. Ebenso wichtig wie die Effektivität an den gewünschten Zielen (design-in) ist die Verringerung der Aktivität an unerwünschten Targets (design-out).

 

Durch die potenzielle Indikations­erweiterung von Pitolisant konnten diese frühen klinischen Ergebnisse in ein neues Wirkstoffdesign mit zusätz­lichen Targets umgesetzt werden: Kürzlich synthetisierte die Arbeitsgruppe einen neuen Wirkstoff, der als H3R-Antagonist zusätzliche Effekte an Mono­amonoxidasen A/B und Acetylcholinesterase/Butyrylcholinesterase besitzt. Ein solches komplexes Multitargeting mit verschiedenen Angriffsorten könnte für Morbus Alzheimer oder auch Morbus Parkinson neue ­Therapiemöglichkeiten ergeben. Hierzu sind die Forschungsergebnisse allerdings erst auf einem sehr frühen ­prä­klinischen Stand. /

Dies ist Teil 4 einer Serie, in der die PZ herausragende pharmazeutische Forschung an deutschen Hochschulen vorstellt.

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