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Akute Mittelohrentzündung

Antibiotikum oder Abwarten?

08.02.2011  10:26 Uhr

Von Sabine Klein / Zwei aktuelle Studien zeigen, dass die Gabe eines Antibiotikums unmittelbar nach der Diagnosestellung bei Kindern mit akuter Otitis media zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren deutliche Vorteile bringt. Sie rütteln damit an der Watchful-Waiting-Strategie, zunächst ohne die chemische Keule zuzuwarten.

Plötzlich einsetzende heftige Ohrenschmerzen, verschlechterter Allgemeinzustand, Reizbarkeit, optional Fieber und Schwindel sowie Paukenerguss – das sind charakteristische Symptome einer akuten Mittelohrentzündung. Bei Kindern gelten Ohrenschmerzen als Leitsymptom. Ein deutlicher Hinweis für die Eltern ist, wenn sich die Kleinen immer wieder ans Ohr fassen. Wegbereiter für diese im Kleinkindalter häufige Erkrankung ist meist eine Infektion der oberen Atemwege.

Die Crux: Bei Kindern verläuft die Eustachische Röhre kürzer und horizontaler als bei Erwachsenen. Schuld an der Entzündung des Mittelohrs können Bakterien oder Viren sein. Die häufigsten bakteriellen Erreger sind Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzea und Moraxella catarrhalis.

 

Angst vor Resistenzentwicklung

 

Während die akute Otitis media früher nicht selten einen schweren Verlauf nahm und Komplikationen wie Mastoidi­tis (Rötung hinter dem Ohr, abstehende Ohrmuschel) nach sich zog, verlor das Leiden in der Ära der Antibiotika seinen Schrecken. Bald wurde eine geeignete antibioti­sche Therapie Standard und routinemäßig bei Kindern verschrieben.

 

Doch der massenhafte Gebrauch von Antibiotika und die Angst vor Resistenzentwicklung veranlassten Experten zur Mahnung, die Chemiekeule mit Bedacht einzusetzen. Zahlreiche Leitlinien sprachen die Empfehlung zum Watch­ful Waiting aus, also dem anfänglichen Beobachten, bevor überhaupt eine antibiotische Behandlung angedacht wird (siehe Kasten).

 

Antibiotikum versus Placebo

 

Ein Grund dafür waren auch diverse klinische Studien, die relativ hohe Spontan­heilungsraten bei Kindern mit akuter Mittelohrentzündung gezeigt hatten. Doch amerikanische Forscher vom Children’s Hospital of Pittsburgh schreiben diesen Untersuchungen erhebliche Mängel zu, wie das Fehlen strenger diagnostischer Kriterien, die Verwendung eines Antibiotikums mit begrenzter Wirksamkeit oder die Verab­reichung suboptimaler Dosen. In ihrer eigenen placebokontrollierten, randomisierten Studie, die aktuell im »New England Journal of Medice« erschienen ist (1), wählten sie erfahrene Otoskopisten, ein geeignetes Studiendesign und scharfe Einschlusskriterien, um eine sofortige antibiotische Behandlung genau zu überprüfen.

Empfehlungen der DEGAM-Leitlinie »Ohrenschmerzen«

Da im Alltag der Allgemeinärzte in der Regel keine sichere Differenzierung zwischen bakterieller und viraler Genese zu Beginn der Erkrankung möglich ist, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) ein symptomorientiertes Handeln. Nur in einer besonderen Symptom- und Zeitkonstellation sollte unverzüglich mit einer antibiotischen Behandlung begonnen werden.

 

Sie empfiehlt bei Patienten ohne Risikofaktoren mit einer umkomplizierten akuten Otitis media zunächst eine symptomatische Behandlung mit systemischer Gabe von Schmerzmitteln wie Paracetamol oder Ibuprofen und den Verzicht auf eine sofortige Anti­biose.

 

Selbst bei Fieber und/oder Erbrechen sei es vertretbar, die ersten 24 bis 48 Stunden unter Beobachtung des Kindes abzuwarten und erst bei einer Verschlechterung der Symptome oder einer ausbleibenden Besserung Antibiotika zu verordnen. Ist eine Wiedervorstellung in der Praxis nicht möglich (zum Beispiel am Wochenende), empfiehlt die DEGAM bei guter Mitarbeit der Eltern die vorsorgliche Ausstellung eines Antibiotikum-Rezepts.

 

Bei weiterhin bestehenden Ohrenschmerzen nach Abwarten des entsprechenden Zeitraums wird eine Antibiose angeraten. Die Aminopenicilline wie Ampicillin oder Amoxicillin erfassen in der Regel die auslösenden Bakterien. Um auch die 3 bis 5 Prozent ß-Lactamase-bildenden Bakterien zu beherrschen, wird ein entsprechender Inhibitor (Clavulansäure) dazugegeben.

 

Die Verabreichung lokaler Analgetika kann laut DEGAM bei der Otitis media nicht empfohlen werden, da das unter Umständen die Beurteilung des Trommelfells erschwert.

 

 

Quelle:

DEGAM Leitlinie Ohrenschmerzen 7, Stand: 2005, www.degam.de (Leitlinien/Fertig­gestellte Leitlinien, Stand: 28. Januar 2011)

Sie untersuchten 291 Kinder zwischen 6 und 23 Monaten mit klar und sicher diagnostizierter akuter Otitis media und behandelten sie für zehn Tage entweder mit Amoxicillin-Clavulansäure oder Placebo. Die Behandlung mit dem Antibiotikum verkürzte die Zeit zur Besserung der Symptome und senkte die Gesamtsymptomlast: Unter den antibiotisch behandelten Kindern besserten 35 Prozent ihre Symptome an Tag 2, 61 Prozent an Tag 4 und 80 Prozent an Tag 7. Von den Kindern, die Placebo erhielten, erfuhren 28 Prozent an Tag 2, 54 Prozent an Tag 4 und 74 Prozent an Tag 7 eine Besserung.

 

Auch die Rate an Therapieversagern – definiert als das per otoskopischer Untersuchung festgestellte Anhalten akuter Entzündungszeichen – war unter der Gabe eines Antibiotikums niedriger als unter Placebo, nämlich 4 Prozent versus 23 Prozent an Tag 4 oder 5. Eine Mastoiditis entwickelte sich bei einem Kind, das Placebo bekam. Als Nebenwirkungen traten unter Amoxicillin-Clavulansäure häufiger Diarrhö und Dermatitis im Windelbereich auf, doch sie waren nicht so schwer, dass die Therapie abgebrochen werden musste. Die Besiedelung des Nasenraums mit unempfindlichem Streptococcus pneumoniae war in beiden Gruppen ähnlich.

Ratschläge für die Eltern

Eine Reihe verschiedener Allgemeinmaßnahmen erscheint bei akuter Mittelohrentzündung sinnvoll. Dazu gehören körperliche Schonung und ausreichende Flüssigkeitszufuhr sowie Zuwendung für die schmerz­geplagten kleinen Patienten. Damit das Leiden nicht wiederkehrt, sollten Eltern Folgendes beachten:

 

Zigarettenrauch in der Raumluft vermeiden

Flaschenfütterung und Schnuller vermeiden

Stillen wird als risikomindernd erachtet

 

Finnische Forscher fanden vergleich­bare Ergebnisse bei Kindern zwischen 6 und 35 Monaten (2). Die siebentägige antibiotische Behandlung mit Amoxicillin-Clavulansäure drosselte auch in deren Studie das Risiko für Therapieversagen durch die Besserung von Allgemeinzustand und otoskopischen Zeichen; das kombinierte Auftreten von Trommelfellperforationen und schweren Infektionen wurde eingedämmt.

 

»Kinder mit akuter Otitis media profitieren von einer antibiotischen Behandlung im Vergleich zu Placebo, obwohl sie mehr Nebenwirkungen hat«, resümierten die Studienautoren. Um dennoch unnötige Antibiotika-Therapien und die Entwicklung von bakteriellen Resistenzen zu minimieren, sollen künftige Studien jene Patientengruppen eruieren, die den größten Nutzen daraus ziehen.

 

In einem Editorial lobte Professor Dr. Jerome O. Klein von der Boston University School of Medicine, die Qualität der beiden Studien (3). Obwohl sich, wie erwartet, der Zustand einiger Kinder der Placebogruppe ohne Antibiotikum besserte und obwohl mehr Kinder der Verumgruppe Nebenwirkungen erlebten, würden die Ergebnisse beider Studien bezüglich der Dauer akuter Erkrankungszeichen einen signifikanten Vorteil für die Kinder zeigen, die ein Antibiotikum erhalten – vorausgesetzt die Diagnose akute Otitis media stimme. /

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