Arzneimittel auf dem Prüfstand |
27.01.2014 15:16 Uhr |
Von Hannelore Gießen / In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche innovative Arzneistoffe entwickelt und zur Marktreife gebracht. Etliche von ihnen mussten schon bald nach ihrer Einführung wieder zurückgezogen werden. Der Grund: erhebliche Nebenwirkungen.
Bis zum Beginn der 1960er-Jahre war der Glaube an einen stetig wachsenden Fortschritt und an nahezu grenzenlose Möglichkeiten, auch in der medizinischen Forschung, ungebrochen. Wie ein Keulenschlag zerstörte 1962 die Contergan-Tragödie diesen Optimismus. Weltweit kam es in den folgenden Jahren zu einer umfassenden Regulierung des Arzneimittelmarktes. Seitdem werden Arzneimittel einem strengen Prüfverfahren unterworfen, bevor sie auf den Markt kommen.
Nicht nur die Regulierung der Arzneimittelzulassung änderte sich nach dieser Zäsur, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung von Arzneimitteln und ihren potenziellen Risiken. Der mögliche Nutzen einer Innovation wird kritisch auch unter dem Blickwinkel bewertet, ob er mit einem Schaden für die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt verbunden ist. So wurden bekannte Arzneistoffe wie Cerivastatin und Rofecoxib als erhebliche Gesundheitsrisiken eingestuft und die Handelspräparate unter starkem Medieninteresse vom Markt genommen. Aufgrund der umweltbelastenden Herstellung ist das quecksilberhaltige Wunddesinfektionsmittel Merbromin, das als Mercurochrom® im Handel war, in Deutschland nicht mehr erhältlich.
Unter der Lupe: Arzneimittel werden streng geprüft, bevor sie auf den Markt kommen.
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Die häufigsten Gründe für die Rücknahme eines zugelassenen Arzneimittels in den letzten beiden Jahrzehnten waren toxische Leberschäden sowie arrhythmogene Nebenwirkungen, messbar als QT-Zeit-Verlängerung (Kasten).
Die Sicherheit von Arzneimitteln rückte in den vergangenen Jahrzehnten auch in den Fokus der Arzneimittelforschung. Aus den anfangs eher vagen Bestrebungen zur Gewährleistung der Arzneimittelsicherheit entwickelte sich ein eigener Wissenschaftsbereich: die Pharmakovigilanz. Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) besteht deren Ziel darin, aktiv Arzneimittelrisiken zu analysieren, sie möglichst abzuwehren und diese Risiken sowohl gegenüber Fachleuten als auch Patienten zu kommunizieren (6, 7, 8).
Pharmakovigilanz umfasst zwei Bereiche: zum einen die arzneimittelrechtlich geregelte Produktsicherheit mit klar definierten Anforderungen an Entwicklung und Produktion von Wirkstoffen, zum anderen die Anwendungssicherheit. Diese stellt hohe Anforderungen an Ärzte, Apotheker und oft auch an die Patienten. »Gerade Apotheker können viel zu einer sicheren Anwendung von Arzneimitteln beitragen«, erläutert Professor Dr. Marion Schaefer vom Institut für Klinische Pharmakologie der Charité Universitätsmedizin, Berlin, im Gespräch mit der PZ. »Häufig haben sie einen engen Kontakt zu ihren Patienten und durch die Abgabe des Arzneimittels – anders als der Arzt – auch eine direkte Beziehung zum Produkt. So erfahren sie oft früher von unerwünschten Arzneimittelwirkungen als der Arzt.«
Nutzen und Risiken abwägen
Während des Zulassungsprozesses müssen Nutzen und Risiken eines Arzneimittels bewertet und gegeneinander abgewogen werden. Der Nutzen wird durch klinische Studien der Phase II bis III belegt und den Risiken gegenübergestellt, die in deren Verlauf sowie in den toxikologischen Studien ermittelt wurden.
Auf diese Weise sind die häufigsten Nebenwirkungen eines Arzneimittels bekannt. Eine genaue Beurteilung des Nutzen-Risiko-Profils ist aber erst nach weiteren klinischen und epidemiologischen Studien möglich, denn sehr seltene Risiken zeigen sich erst in der breiten Anwendung.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden fast 17 Prozent aller neu zugelassenen Arzneimittel in den ersten fünf Jahren nach ihrer Einführung wieder vom Markt genommen. Die häufigsten Gründe für die Rücknahme eines zugelassenen Arzneistoffs waren toxische Leberschäden sowie arrhythmogene Nebenwirkungen. Diese zeigten sich mit einer Verlängerung der QT-Zeit, einer Messgröße bei der Auswertung des Elektrokardiogramms.
QT-Zeit-Verlängerungen waren für etwa ein Drittel der Marktrücknahmen von Arzneimitteln verantwortlich (1, 2). Diese traten bei ganz unterschiedlichen Substanz- und Indikationsgruppen auf. Die Antihistaminika Astemizol und Terfenadin, der Motilitätshemmer Cisaprid sowie der Gyrasehemmstoff Grepafloxacin sind nur einige der Substanzen, die aufgrund von kardialen Arrhythmien wieder vom Markt verschwanden.
Besonders bemerkenswert ist der Fall des Altarzneistoffs Clobutinol, der 1961 zugelassen wurde und 2007 seine Zulassung aufgrund seines arrhythmogen Potenzials verlor. Heute werden neue Substanzen schon während der Entwicklung auf diese unerwünschte Wirkung geprüft. Nur noch im Ausnahmefall erhalten Arzneimittel mit arrhythmogenem Potenzial eine Zulassung (3, 4, 5).
Diese werden beispielsweise in Phase-IV-Studien erfasst. Die Nutzen-Risiko-Bewertung von Arzneimitteln vor der Zulassung ist ein herausfordernder Prozess. Experten müssen komplexe, mitunter sogar gegensätzliche Informationen und Daten gegeneinander abwägen. Dennoch bleiben Unsicherheiten. Zum einen könnte es Risiken geben, die noch nicht beobachtet oder identifiziert wurden, zum anderen kann auch der tatsächliche Nutzen des Medikaments in der klinischen Praxis noch nicht sicher bewertet werden.
Die Zulassungsbehörden – in Europa die European Medicines Agency (EMA) oder bei nationaler Zulassung das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – stehen vor der schwierigen Aufgabe, über den Zeitpunkt zu entscheiden, an dem die Evidenz für die Wirksamkeit eines Arzneimittels ausreichend ist und somit Patienten von der Behandlung profitieren können, aber auch genügend Wissen über die Risiken vorliegt, denen Patienten möglicherweise ausgesetzt sind.
Dem Recht auf eine gesundheitliche Versorgung auch kleiner Personengruppen, zum Beispiel Menschen mit seltenen Erkrankungen oder schwer kranke Patienten, stehen Sicherheitsaspekte gegenüber, die für alle Personen gelten, die mit dem betreffenden Medikament behandelt werden. Das Nutzen-Risiko-Gleichgewicht auf der Ebene des einzelnen Patienten und zugleich der gesamten Bevölkerung zu optimieren, ist Ziel des Bewertungsprozesses.
Entscheiden die Behörden zu früh, können unvorhergesehene Nebenwirkungen vielleicht Patienten gefährden. Zögern sie die Entscheidung hinaus, enthalten sie Patienten möglicherweise eine hilfreiche Behandlung vor. Von einer schnellen Zulassung profitieren meist schwer kranke Menschen, für die neue Wirkstoffe eine zusätzliche oder gar die einzige Therapiemöglichkeit bilden.
Von einem potenziell erhöhten Schadensrisiko sind in erster Linie besonders vulnerable Patientengruppen betroffen. Dies sind ältere Menschen, Personen mit multiplen Vorerkrankungen sowie Patienten mit Nieren- oder Leberinsuffizienz. Auch kann eine genetisch determinierte geringere Enzymausstattung zu einem verzögerten Abbau von Arzneistoffen führen. Diese als »Poor Metabolizer« bezeichneten Personen sind aufgrund einer Wirkstoffkumulation durch toxische Effekte eines Arzneistoffs besonders gefährdet. Meist kennen weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte das erhöhte Risiko (9).
Der Bewertung von Arzneimittelrisiken liegen gesellschaftliche Grundwerte zugrunde: Der Nutzen für eine kleinere oder größere Gruppe von Menschen muss gegen das mögliche Risiko, dem einzelne Personen oder Gruppen ausgesetzt sind, abgewogen werden.
Marktrücknahmen | Arzneistoff | Indikation | Grund für die Marktrücknahme |
---|---|---|---|
2000 | Troglitazon | Diabetes mellitus | Hepatotoxizität |
2000 | Cisaprid | Refluxösophagitis | ventrikuläre Arrhythmien, QT-Zeit-Verlängerung und Torsade-de-pointes (TdP), Interaktionen |
2000 | Alosetron | Reizdarmsyndrom | ischämische Colitis, Obstipation |
2001 | Rapacuronium | Anästhesie | Bronchospasmen |
2001 | Cerivastatin | Hypercholesterolämie | Rhabdomyolyse |
2002 | Kava Kava | Angst- und Spannungszustände | Hepatotoxizität |
2004 | Dofetilid | Herzrhythmusstörungen | ventrikuläre Arrhythmien, QT-Zeit-Verlängerung und TdP, Interaktionen |
2004 | Rofecoxib | Entzündungen, Rheuma | Erhöhung der Herzinfarkt- und Schlaganfallrate |
2005 | Valdecoxib | Entzündungen, Rheuma | Erhöhung der Herzinfarktrate, Hautreaktionen |
2005 | Thioridazin | Psychosen | ventrikuläre Arrhythmien, QT-Zeit-Verlängerung und TdP |
2006 | Ximelagatran | Prävention thromboembolischer Ereignisse | Hepatotoxizität |
2007 | Clobutinol | Reizhusten | ventrikuläre Arrhythmien, QT-Zeit-Verlängerung und TdP |
2008 | Rimonabant | Adipositas | Gefahr psychiatrischer Störungen wie Depressionen |
2009 | Efalizumab | chronische Psoriasis vom Plaque-Typ | progressive multifokale Leukoenzephalopathie |
2010 | Sitaxentan | PAH | Hepatotoxizität |
2010 | Sibutramin | Adipositas | kardiovaskuläre Komplikation |
2011 | Bufexamac | Dermatitis | Allergien |
2011 | Buflomedil | paVK | neurologische, kardiale Komplikationen |
2013 | Nicotinsäure/ Laropiprant | Dyslipidämie | erhöhtes Blutungs- und Infektionsrisiko |
Nutzen für viele, Risiken für einige
Der Konflikt zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen wird in verschiedenen ethischen Denktraditionen unterschiedlich gelöst. So prägt die utilitaristische Ethik die angelsächsischen Länder. Ihr Ziel es ist, für die gesamte Gesellschaft ein Maximum an Nutzen zu erzielen. In Deutschland ist die ethische Debatte von der Tradition Kants beeinflusst. Nach diesem Verständnis wird den Rechten des Individuums eine hohe Bedeutung beigemessen. Einem Menschenleben wird eine Würde, kein materiell messbarer Wert zugeschrieben.
Angesichts des demografischen Wandels, des medizinischen Fortschritts sowie begrenzter finanzieller Ressourcen stellt sich jedoch die Frage nach einer Bewertung menschlicher Lebenszeit, die durch Arzneimittel oder medizinische Maßnahmen gewonnen werden kann. Sie wird in Deutschland viel kontroverser diskutiert als in den englischsprachigen Ländern. Das zeigt sich beispielsweise in der Debatte, ob die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten die Kosten für eine Hüftendoprothese auch noch bei Patienten in fortgeschrittenem Lebensalter tragen soll.
Im Fokus dieser Kontroverse stehen Kennzahlen für die Bewertung eines Lebensjahres in Relation zur Gesundheit: das qualitätskorrigierte Lebensjahr QALY (quality adjusted life year) und das DALY (disability adjusted life year). Diese pharmakoökonomischen Kennzahlen werden in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern bei der frühen Nutzenbewertung nicht herangezogen – ein Resultat unterschiedlicher ethischer Wertvorstellungen (10, 11).
Grundprinzip: nihil nocere
Risikobehaftete Entscheidungen müssen nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch bei der Umwelt- und Lebensmittelsicherheit getroffen werden. In der Praxis hat sich als wichtigstes Entscheidungskriterium das Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle) etabliert. Das ist nicht neu: Hippokrates formulierte das »Primum nihil nocere« als Grundgedanken der antiken Medizinethik (12). Neudeutsch heißt der Leitspruch: »Better safe than sorry«.
Pharmakovigilanz nach der Zulassung: Packungsbeilage und Fachinformation informieren über Arzneimittelrisiken.
Foto: Fotolia/ Henry Schmidt
Die Europäische Kommission fordert die Anwendung des Vorsorgeprinzips in einer Risikosituation, wenn wissenschaftliche Unsicherheit vorliegt oder die möglichen Konsequenzen inakzeptabel sind. In den USA spielt das Vorsorgeprinzip eine geringere Rolle als in der EU und wird nur in wenigen Gesetzen zitiert.
Bei der zentralen Zulassung, die inzwischen die meisten Neuzulassungen betrifft, erfolgt die Nutzen-Risiko-Abwägung zunächst auf nationaler Ebene und danach im Austausch mit beratenden Komitees und Experten in anderen Ländern. Erst dann kommt es zur Abstimmung und Entscheidung auf europäischer Ebene durch den Arzneimittelausschuss (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP).
Nutzen-Risiko-Bewertung: qualitativ oder quantitativ?
Bisher bewerten die Zulassungsbehörden Nutzen und Risiko vorrangig qualitativ. Die Daten zu Nutzen und Risiken werden getrennt erfasst und anschließend in der Bewertung gegeneinander abgewogen. In diesen mehrstufigen Evaluationsprozess fließt vor allem die Erfahrung der Inspekteure ein.
Dagegen werden bei quantitativen Methoden der Nutzen-Risiko-Bewertung erwünschte und unerwünschte Wirkungen auf einer gemeinsamen Skala dargestellt. Die aus den Wirtschaftswissenschaften bekannte Entscheidungsanalyse eignet sich auch dazu, Nutzen und Risiken eines Arzneimittels in einem Schritt zu erfassen und anschließend zu bewerten.
Die EMA evaluiert und überarbeitet derzeit ihre Bewertungsmethodik und hat dazu das »Benefit-risk methodology project« initiiert (13, 14, 15, 16).
Erkenntnisse über die Eigenschaften eines Arzneimittels und eventuelle Anwendungsrisiken werden nicht nur durch Post-Marketing-Studien gewonnen, sondern auch durch Meldungen von Ärzten und Apothekern sowie in jüngster Zeit den Patienten selbst.
Risiken erkennen, Risiken melden
Die Meldungen bei der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) beziehen sich vor allem auf Qualitätsmängel, jedoch auch auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen und den Verdacht auf eine missbräuchliche Anwendung. So kamen die ersten Hinweise auf einen möglicherweise nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch des Antitussivums Dextromethorphan aus der Apothekerschaft. Selbstverständlich können Apotheker auffällige Ereignisse im Zusammenhang mit einem Arzneimittel auch der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AdkÄ), dem BfArM oder dem pharmazeutischen Unternehmer melden.
Bisher nutzen sowohl Ärzte als auch Apotheker das Spontanmeldesystem bei ihren Arzneimittelkommissionen noch viel zu wenig. Viele Apotheker setzen sich zwar sehr dafür ein, Arzneimittel-bezogene Probleme ihrer Patienten zu erkennen und zu lösen, sind sich aber nicht im Klaren darüber, wie wichtig es ist, diese auch zu dokumentieren und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zu melden (17).
Zum 1. September 2013 wurde in der EU ein neues Symbol eingeführt, das neu zugelassene Arzneimittel oder Arzneimittel mit einem besonderen Sicherheitsprofil kennzeichnet: ein schwarzes, auf der Spitze stehendes Dreieck mit begleitenden Pflichttexten. Die Regelung betrifft
Außerdem werden Ärzte und Apotheker, aber auch die Patienten selbst in der Packungsbeilage und der Fachinformation aufgefordert, noch nicht bekannte Nebenwirkungen über die nationalen Meldesysteme mitzuteilen. Die neue Regelung soll dazu beitragen, dass das Nebenwirkungspotenzial eines Medikaments schneller erkannt und so die Arzneimittelsicherheit verbessert wird.
Quelle:
AMK, Arzneimittel mit Sicherheitsvorbehalt: Schwarzes Dreieck und Hinweistexte in den Produktinformationen. Meldung 269/35/13, Pharm. Ztg. 158, Nr. 35 (2013) 110.
Dies ist zwar mit einem gewissen Dokumentationsaufwand verbunden, doch der hält sich dank des elektronischen Meldesystems in Grenzen. Schaefer rät Apothekern, nur UAW zu melden, die nicht in der Packungsbeilage aufgelistet sind, aber aus Sicht des Apothekers durch das betreffende Arzneimittel verursacht sein könnten. Zudem sollten sie besonders aufmerksam bei den Selbstmedikationsarzneimitteln sein, die erst vor Kurzem für eine zeitlich befristete Anwendung aus der Rezeptpflicht entlassen wurden. Beispiele sind die Protonenpumpenhemmer Omeprazol und Pantoprazol oder die Triptane Almotriptan und Naratriptan.
Auch bei neueren Nahrungsergänzungsmitteln oder Medizinprodukten ist Vorsicht geboten. Da die Datenlage hier deutlich schlechter ist als bei Arzneimitteln, sollten Apotheker die Anwender gezielt nach ihren Erfahrungen befragen, rät Schaefer. Sie plädiert für öffentlich finanzierte Studien, um mittelfristig im OTC-Bereich eine Datenbank aufzubauen.
Inzwischen können auch die Patienten selbst unerwünschte Arzneimittelwirkungen als »Consumer Reports« an das BfArM melden (https://verbraucher-uaw.pei.de ).
Risiken minimieren, aber wie?
Ergeben sich begründete Verdachtsmomente für noch nicht bekannte, das heißt nicht in der Packungsbeilage und der Fachinformation aufgeführte Neben- oder Wechselwirkungen eines Arzneimittels, nehmen sowohl der Hersteller als auch die Zulassungsagenturen eine erneute Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor. Bei Bedarf werden neue Erkenntnisse in die Fachinformation und die Packungsbeilage aufgenommen. Dies können zum Beispiel neu erkannte, seltene Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und/oder Gegenanzeigen sein.
Weitere Maßnahmen zu Risikominimierung können eine Änderung der Kennzeichnung (Kasten), ein Leitfaden für die Verordnung und Abgabe des Medikaments sowie Broschüren für die Patienten sein. Auch der Zulassungsstatus kann geändert werden, indem ein rezeptfreies Arzneimittel unter Verschreibungspflicht gestellt wird. So wurde das Antiallergikum Astemizol wegen seines Potenzials zur QT-Zeitverlängerung zunächst unter Verschreibungspflicht gestellt, bevor es schließlich ganz vom Markt verschwand (18, 19).
Auch das Antiemetikum Ondansetron birgt ein erhöhtes Risiko für eine Verlängerung der QT-Zeit. Dies führte 2012 dazu, dass für die intravenöse Anwendung besondere Sicherheitsmaßnahmen implementiert wurden. Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Verlängerung des QT-Intervalls oder für Herzrhythmusstörungen, beispielsweise durch Elektrolytstörungen, sollten Ondansetron nur unter besonderer Vorsicht bekommen.
Die Contergan-Tragödie hat den Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten der Medizin zerstört. Jetzt ist Thalidomid unter strengen Auflagen wieder auf dem Markt verfügbar.
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Der in der Onkologie angewandte Angiogenesehemmer Bevacizumab führte im klinischen Alltag vermehrt zu Wundheilungsstörungen. Als Sicherheitsmaßnahme wurde deshalb ein Mindestabstand festgelegt: Bevacizumab darf frühestens 28 Tage nach einem größeren operativen Eingriff infundiert werden.
Ein Beispiel für besondere Aufklärungsmaßnahmen bei der Verordnung und Abgabe eines Arzneimittels stellen die Retinoide dar. Diese Aknetherapeutika können teratogen wirken. Sowohl der verordnende Arzt als auch der abgebende Apotheker müssen den Patienten auf die Besonderheiten der Therapie hinweisen. Der Arzt muss eine Schwangerschaft der Frau ausschließen und sie über einen sicheren Kontrazeptionsschutz aufklären. Apotheker dürfen Rezepte über Isotretinoin für Frauen aus Sicherheitsgründen nur innerhalb von sieben Tagen ab Ausstellungsdatum und maximal für einen 30-Tage-Vorrat beliefern. Entsprechend einem Leitfaden der EU sollten Schwangerschaftstest, Verordnung und Abgabe von Isotretinoin idealerweise am selben Tag erfolgen.
Information der Heilberufler
Über gravierende Risiken, die ein verändertes Verordnungsverhalten oder gezielte Anwendungshinweise erfordern, werden Ärzte und Apotheker zusätzlich mit einem »Rote-Hand-Brief« informiert. Das Schreiben listet auf, welche Maßnahmen erforderlich sind, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten.
Erkenntnisse über ein Arzneimittelrisiko werden international als »Direct Healthcare Professional Communication (DHPC)« versandt und zwar – im Gegensatz zum Rote-Hand-Brief – bei jeder neuen Information, auch wenn sie keine Handlungsanweisung enthält. Derzeit wird diskutiert, ob die beiden Informationswege vereinheitlicht werden sollen, da die meisten Arzneimittel inzwischen auf europäischer Ebene zugelassen werden. Obwohl seit Jahren etabliert, sind Reichweite und Effektivität dieser Kommunikationsformen unbefriedigend. Eine 2012 in Drug Safety publizierte Studie zeigte, dass die Mehrzahl der niederländischen Ärzte eine Risikokommunikation für wichtig erachtet, jedoch nur rund ein Drittel daraufhin auch entsprechend handelt.
Eine ebenfalls 2012 veröffentlichte US-amerikanische Studie machte deutlich, dass eine einmalige Information meist nicht ausreicht. Oftmals dauerte es Monate bis Jahre, bis eine aufgrund potenziell gefährlicher Interaktionen ungeeignete Kombination zweier Arzneimittel tatsächlich in der Praxis vermieden wurde. Dies zeigte auch der Fall des Lipidsenkers Cerivastatin, der trotz mehrfacher Warnungen und Berichte in Fach- und Laienmedien lange Zeit weiter zusammen mit Fibraten verordnet wurde. Letztendlich hat erst diese fatale Kombination, die ein erhöhtes Risiko für eine Rhabdomyolyse birgt, eine Marktrücknahme unumgänglich gemacht (20; 21).
»Jede Risikokommunikation ist eine Gratwanderung«, erläutert Schaefer. Einerseits müsse man den Patienten über Risiken informieren, andererseits aber eine unnötige Verunsicherung vermeiden. Dies betrifft vor allem die Patienten, die von diesem Risiko gar nicht betroffen sind. Schaefer sieht hier eine wichtige Aufgabe für die Heilberufler. Laien würden Risiken meist über- oder unterschätzen. Ärzte und Apotheker sollten Nutzen und Risiken eines Arzneimittels mit Augenmaß und patientenindividuell vermitteln, lautet Schaefers Fazit. Eine missglückte Risikokommunikation könne dazu führen, dass Patienten ihre Arzneimittel gar nicht mehr anwenden (22).
Letzter Schritt: Marktrücknahme
Es gibt keine exakt definierten Kriterien, bei welchen Risiken die Zulassungsbehörde ein Medikament wieder vom Markt nimmt. Vielmehr trifft sie die Entscheidung im Einzelfall. In die Beurteilung fließen die Schwere der zu behandelnden Erkrankung sowie das Vorhandensein therapeutischer Alternativen und deren Nutzen-Risiko-Profil ein. Bei der Behandlung einer Tumorerkrankung wird man selbstverständlich andere Risiken in Kauf nehmen als bei einem neuen Antihistaminikum, das lediglich die Palette der Behandlungsmöglichkeiten erweitert.
Stellt die Zulassungsbehörde bei der Bewertung eines Arzneimittels ein erhöhtes Risiko fest, wird sie zudem prüfen, ob es spezielle Patientengruppen gibt, die dennoch von einer Therapie profitieren. In diesem Fall kann die Behörde den Einsatz des Medikaments auf ein definiertes Patientenkollektiv oder eine Indikation eingrenzen.
Unter strengen Auflagen ist selbst eine so hoch riskante Substanz wie Thalidomid ist wieder am Markt, zum einen für die Behandlung von Lepra, zum anderen für die Therapie von hämatologischen Erkrankungen wie dem Multiplen Myelom. /
Hannelore Gießen studierte Pharmazie an der Universität Karlsruhe. Nach mehrjähriger Tätigkeit in verschiedenen öffentlichen Apotheken und einer journalistischen Ausbildung ist sie seit 1990 freiberuflich als Fachjournalistin tätig und bearbeitet medizinische, pharmazeutische und biotechnologische Themen für verschiedene Fachzeitschriften. Gießen hat sich zur Apothekerin für Allgemeinpharmazie weitergebildet und hat 2013 den Studiengang Consumer Health Care an der Charité-Universitätsmedizin Berlin absolviert. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit ethischen Aspekten der Bewertung und Kommunikation von Arzneimittelrisiken.
Hannelore Gießen M. Sc., Gotenstraße 9, 85551 Kirchheim, E-Mail: hannelore.giessen(at)t-online.de