Woher kommt SARS-CoV-2? |
Theo Dingermann |
24.04.2022 08:00 Uhr |
Es verbreiteten sich Gerüchte in chinesischen sozialen Medien, in Beiträgen rechtsgerichteter Nachrichtenmedien und sogar durch den republikanischen US-Senator Tom Cotton, dass SARS-CoV-2 aus den WIV-Laboratorien unfreiwillig freigesetzt worden oder dass das Virus gar ein Produkt biotechnischer Manipulationen sei. Daraufhin organisierte Dr. Peter Daszak, Präsident der Nichtregierungsorganisation (NGO) EcoHealth Alliance und prominentes Mitglied der WHO-Delegation, einen Aufruf von Wissenschaftlern, der in »The Lancet« publiziert wurde (10). Mitzeichner war auch Drosten.
Für Daszak ging die Initiative nach hinten los. Einerseits hatte der Aufruf Andeutungen über einen Laborunfall als Ursache von Covid-19 als »Verschwörungstheorie« gebrandmarkt. Andererseits musste er später zugeben, dass er selbst kontrovers diskutierte Experimente aus seinen Drittmittelgeldern mitfinanziert hatte, ohne seinen Interessenkonflikt offenzulegen.
Im Zentrum der sachlichen Kritik im Hinblick auf die von Daszak mitfinanzierten Versuche stehen Gain-of-Function-(GoF-)Experimente (Kasten). Dies ist ein keineswegs unüblicher Versuchsansatz über viele biotechnologische Disziplinen hinweg, der bis dato in der breiten Öffentlichkeit kaum Beachtung fand. Das hat sich mittlerweile geändert.
Foto: Adobe Stock/vchalup
Gain of Function (GoF: Funktionsgewinn) ist ein klassischer Begriff aus der Genetik. In GoF-Experimenten werden in eine DNA-Sequenz, die für ein Protein, eine RNA oder ein Kontrollelement kodiert, gezielt Mutationen eingeführt oder Funktionselemente integriert, um zu schauen, wie sich der Phänotyp der ursprünglichen Funktionseinheit ändert. Bei dem komplementären Ansatz, dem Funktionsverlust (Loss of Function), wird eine Funktionseinheit durch Mutationen gezielt inaktiviert.
Prinzipiell sind beide Ansätze übliche molekularbiologische genetische Ansätze, die jedoch hinsichtlich des biologischen Risikos sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Vor allem erfordern GoF-Experimente an humanpathologischen Systemen strenge Sicherheitsvorkehrungen.
GoF-Experimenten wurde erstmals eine breitere Beachtung geschenkt, als 2012 zwei Forschergruppen von Arbeiten berichteten, in denen sie ein Vogelgrippevirus gentechnisch und mithilfe evolutionärer Verfahren so verändert hatten, dass dieses Virus nun in der Lage war, über Aerosole Frettchen nicht nur zu infizieren, sondern von einem Frettchen auf ein anderes übertragen zu werden (11). Man stritt damals darüber, ob man die Arbeiten überhaupt publizieren sollte. Denn eine Veröffentlichung lege gewissermaßen das Rezept offen, wie Viren gezielt gefährlicher gemacht werden können.
Etliche, die damals vor einer Publikation gewarnt hatten, fühlten sich bestätigt, als im Jahr 2015 Virologen unter Leitung von Professor Ralph Baric eine Arbeit (12) publizierten, bei der sie SARS-CoV-1 mit Oberflächenproteinen eines aus einer Java-Hufeisennase isolierten Coronavirus ausgestattet hatten. Diese GoF-Versuche sollten klären, ob SARS-CoV-1 auch dann noch menschliche Zellen infizieren kann, wenn es Oberflächenproteine eines Coronavirus aus einer Fledermaus trägt. Das war tatsächlich der Fall.
Im Jahr 2016 versuchte das US National Science Advisory Board for Biosecurity (NSABB) mit dem neuen Begriff »gain-of-function research of concern« (GOFROC), GoF-Experimente besser zu strukturieren. Der Begriff GOFROC sollte gezielt für solche GoF-Experimente gelten, die dazu führen können, dass sich ein Erreger leichter verbreiten oder beim Menschen erhebliche Krankheiten verursachen kann. Der Ausschuss entschied, dass dies die einzige Art von GoF-Arbeit sei, die so riskant sei, dass sie einer zusätzlichen behördlichen Aufsicht unterliegen sollte.
Im Jahr 2017 übernahm das US Department of Health and Human Services (HHS) diesen Ansatz, als es einen Rahmen für die Überprüfung von Zuschüssen für Arbeiten an Krankheitserregern mit Pandemiepotenzial erarbeitete.
Allerdings war das Problem damit nicht gelöst. Denn der Begriff GOFROC lässt sich offensichtlich unterschiedlich auslegen. Dies zeigten die Diskussionen um die Versuche im WIV, bei denen Shis Team S-Gensequenzen von acht verschiedenen SARS-verwandten Coronaviren aus der Fledermaus in das Fledermaus-Coronavirus WIV1 integrierte. Bekanntlich war WIV1 eines von nur drei Isolaten aus Fledermausproben, die die WIV-Forscher in Laborkulturen züchten konnten. Daszak, der diese Experimente mitfinanziert hatte, und Shi beschrieben die von ihnen konstruierten chimären Viren 2017 in einer Arbeit (13).
Erst durch eine Anfrage auf Basis des Freedom of Information Act (FOIA) an das NIH kam im September letzten Jahres ans Licht, dass Shi in einer Kooperation mit EcoHealth am WIV GoF-Experimente ausgeführt hatte. Zwar hatte keines der eingesetzten Viren eine enge Beziehung zu SARS-CoV-2. Allerdings glauben einige Befürworter der Labor-Escape-Hypothese, dass die Virologin, möglicherweise mit Daszaks Wissen, andere brisantere Experimente mit chimären Viren verheimlichte.
In einem der offengelegten Dokumente wurde ein zusätzliches Experiment beschrieben, bei dem Shi in das Genom des Middle East Respiratory Syndrome-(MERS-)Virus Oberflächenproteine von Fledermaus-Coronavirus inseriert hatte.
Es entbrannten heftige Debatten darüber, ob es sich hierbei um GoF-Experimente handelte. Professor Richard Ebright, ein Biochemiker an der Rutgers University in New Brunswick, der sich seit Langem gegen GoF-Forschung einsetzt, twitterte, dass dieses Experiment »eindeutig« die Definition von GoF erfülle. Damit war die Labor-Escape-Hypothese in den USA angekommen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.