Woher kommt SARS-CoV-2? |
Theo Dingermann |
24.04.2022 08:00 Uhr |
Woher kommt das Coronavirus SARS-CoV-2? Darüber gibt es kontroverse Diskussionen, aber noch keine Klarheit. / Foto: Getty Images/MEHAU KULYK/SPL
Am 31. Dezember 2019 wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Patienten mit Lungenentzündung unbekannter Ursache in der chinesischen Stadt Wuhan informiert. Chinesische Behörden hatten am 7. Januar 2020 als Ursache ein neuartiges Coronavirus identifiziert, das heute als SARS-CoV-2 bezeichnet wird. Wie gelangte dieses neue Virus in die menschliche Bevölkerung? In jüngster Zeit haben sich zwei konkurrierende Ideen herauskristallisiert: ein »Labor-Escape«-Szenario und eine zoonotische Ausbreitung.
Den epidemiologischen Daten zufolge war der Huanan-Fischmarkt im Zentrum von Wuhan ein frühes und wichtiges Epizentrum für SARS-CoV-2-Infektionen. Hier wurden auch lebende Wildtiere verkauft, darunter Zibetkatzen und Marderhunde, von denen bekannt ist, dass sie ein Reservoir für Coronaviren darstellen. Nach der Schließung des Marktes ließen sich SARS-CoV-2-Spuren in Umweltproben sicher nachweisen und zwar hauptsächlich im westlichen Teil des Marktes, wo mit Wild- und Haustieren gehandelt wurde (1). In Tierkadavern fand man hingegen kein SARS-CoV-2. Allerdings war die Probennahme nicht repräsentativ für die verkauften Tierarten.
Andererseits stand und steht auch das Wuhan Institute of Virology (WIV) als eines der weltweit führenden Zentren für die Coronavirus-Forschung im Fokus der Diskussion. Dort wurde SARS-CoV-2 erstmals isoliert und sequenziert. Dieses Institut liegt etwa 12 Kilometer vom Huanan-Markt entfernt, sodass man durchaus spekulieren kann, dass ein Laborunfall die Pandemie ausgelöst haben könnte. Dagegen spricht, dass ein früher Infektionscluster in unmittelbarer Nähe des WIV nicht dokumentiert ist.
Das Wuhan Institute of Virology machte die chinesische Großstadt Wuhan Anfang 2020 weltweit bekannter als die Pagode des gelben Kranichs, ein kunstgeschichtlich bedeutsames Bauwerk. / Foto: Adobe Stock/AS_SleepingPanda
Woher kommt das Virus, mit dem sich zwischenzeitlich weltweit knapp 500 Millionen Menschen infiziert haben und das für mindestens 6 Millionen Todesfälle verantwortlich ist? Die Aufklärung dieser wichtigen Frage wird nur gelingen, wenn alle relevanten Institutionen und Personen, die mit der Pandemie befasst sind, kooperieren. Dies ist aber nicht der Fall. China fühlte sich durch die Attacken des früheren US-Präsidenten Donald Trump, der immer wieder vom »Wuhan-Virus« oder »chinesischen Virus« gesprochen hatte, massiv gekränkt und untersagte, Informationen beizusteuern.
Dennoch gelang es der Wissenschaftsjournalistin und Molekularbiologin Dr. Jane Qiu, das Vertrauen der Leiterin der Coronaforschung im WIV, der Virologin Professor Shi Zhengli, zu gewinnen. Dank ihrer wissenschaftlichen Expertise und ihrer chinesischen Muttersprache konnte Qiu mit ihr über ihre Forschung und über ihre Erfahrungen seit der Identifizierung von SARS-CoV-2 sprechen (2).
Shi ist eine weltweit anerkannte Expertin, die im Jahr 2000 an der Université de Montpellier 2 in Frankreich promoviert hat. Seit knapp zwei Jahrzehnten leitet sie das Zentrum für neu auftretende Infektionskrankheiten am Wuhan Institute of Virology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS).
Zusammen mit ihrem Team hat sie mehr als 20.000 Proben aus Fledermauskolonien in ganz China gesammelt, darin nach Virusgenomen gesucht und diese direkt aus den Proben sequenziert, da man die Viren selbst in der Regel nicht isolieren kann. Nach eigenem Bekunden fühlt sich die Wissenschaftlerin »im Feld genauso wohl wie im Labor«. Diese umfassende Expertise hat der Virologin den Spitznamen »Bat Woman« eingebracht.
Nur etwa 10 Prozent der Proben enthalten Coronaviren und wiederum nur 10 Prozent davon sind eng mit SARS-CoV-1 verwandt. Dieses Virus verursachte die Krankheit SARS, an der zwischen 2002 und 2004 weltweit 8000 Menschen erkrankten und fast 800 starben. Forschungen an SARS-CoV-1 standen im Zentrum von Shis Arbeiten, bis das neue Coronavirus SARS-CoV-2 die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Die Isolierung lebender Coronaviren aus Fledermausproben ist notorisch schwierig. Laut Professor Stephen Goldstein, einem Coronavirus-Experten an der University of Utah in Salt Lake City, war das Wuhan-Labor bis Januar 2021 das einzige, dem dieses Kunststück in einzelnen Fällen gelungen war. Und die »Person mit dem grünen Daumen« war Associate Professor Yang Xinglou. Er ist im Team der verantwortliche Wissenschaftler für Arbeiten in den BSL-4-Laboratorien; dies sind Laboreinheiten der höchsten biologischen Sicherheitsstufe. Hier hatte Yang am 5. Januar 2020 erstmals erfolgreich SARS-CoV-2 aus einer Patientenprobe isoliert.
Möglicherweise der Ursprung der Pandemie: Rhinolophus affinis aus der Gattung Hufeisennasen / Foto: Adobe Stock/Charoenchai
Ein Blick zurück: Mit einer Probe, die Yang aus einer Fledermaushöhle in der Nähe von Kunming, der Hauptstadt der südlichen Provinz Yunnan, eingesammelt hatte, gelang es in den 2010er-Jahren, die Affennierenzelllinie Vero E6 zu infizieren. Diese weist hohe Konzentrationen von ACE2-Rezeptoren auf ihrer Oberfläche auf. Damit standen praktisch unlimitierte Mengen des Virus für die genauere Charakterisierung zur Verfügung. Das isolierte Virus war zu etwa 95 Prozent identisch mit SARS-CoV-1. Das Team nannte es »WIV1«, ein Akronym für das erste Isolat am Wuhan Institute of Virology. Ihre Studie, die 2013 in »Nature« (3) veröffentlicht wurde, lieferte starke Hinweise dafür, dass SARS-CoV-1 von Fledermäusen stammt.
In all den Jahren gelang es Yang nur dreimal, Fledermaus-Coronaviren zu isolieren (4). Alle zeigten eine enge Verwandtschaft zu SARS-CoV-1. Aber keines dieser Viren – ebenso wenig wie drei Viren, die die Wissenschaftler anhand ihrer Genomsequenzen synthetisierten – kommen als Quelle für SARS-CoV-2 infrage: Die Sequenzen sind einfach zu unterschiedlich.
Allerdings gab es in der Datenbank noch eine Sequenz einer Probe (später BatCoV RaTG13 genannt), die aus einer Fledermaus der Gattung Hufeisennasen (Rhinolophus affinis) stammte. Diese Probe war auch in der Provinz Yunnan gesammelt worden. Die Sequenz war zu 96,2 Prozent mit der von SARS-CoV-2 identisch.
Dieses Virus hat einen auffälligen Bezug zu einer kleinen lokalen Epidemie, die Ende April 2012 im Umkreis einer verlassenen Kupfermine in der Nähe der Stadt Tongguan auftrat. Sechs Arbeiter, die Fledermausguano in der Mine beseitigt hatten, erkrankten an einer Lungenentzündung, die stationär in einem Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Kunming behandelt werden musste. Einer der Arbeiter starb in den ersten zwölf Tagen, zwei erholten sich im Lauf eines Monats und ein weiterer starb wenig später.
Erfahrenen Medizinern war aufgefallen, dass die Labortests und CT-Scans der Bergleute von Mojiang denen von SARS-Patienten sehr ähnelten. Allerdings gelang es den Experten im WIV nicht, ein Coronavirus aus dem Obduktionsmaterial zu isolieren, wie sie in einer »Nature«-Publikation berichteten (5).
Diese Aussage geriet aber unter Verdacht, als im Mai 2020 die Doktorarbeit von Huang Canping aus dem Jahr 2016 auftauchte (6). In seiner Arbeit zitiert er das WIV mit der Behauptung, dass bei vier Mojiang-Bergleuten Antikörper gegen SARS-CoV-1 nachgewiesen worden wären. In den sozialen Medien und in der Presse kam es zu einer Flut von Verdächtigungen, dass Shi versuche, Fakten zu vertuschen.
Die Virologin und ihre Mitarbeiter hingegen versicherten, solche Antikörper nicht gefunden zu haben, räumten aber ein, dass einige frühe Tests »falsch positive Ergebnisse« geliefert hätten. Diese seien nach der Assay-Validierung richtiggestellt worden. Möglicherweise habe sich der Doktorand auf die falsch positiven Ergebnisse bezogen.
Zwischen 2012 und 2015 hatten die Wissenschaftler immer wieder die Mine in der Nähe von Mojiang besucht und 1322 Fledermausproben gesammelt. Fast 300 Proben enthielten Coronaviren. Neun näher charakterisierte Proben gehörten zu den Beta-Coronaviren, zu denen auch SARS-CoV-1 zählt. Allerdings handelte es sich laut Shi auf Basis der Sequenzdaten nicht um »nahe Verwandte«.
Eines der neun Viren, das aus einer Kotprobe mit der Bezeichnung »4991« stammte, hatte eine auffallend unterschiedliche genomische Signatur, war aber auch nur zu 80 Prozent identisch mit SARS-CoV-1. Und nachdem das virale Genom schließlich komplett entschlüsselt war, war die Probe aufgebraucht. Nur die Sequenz war in der Datenbank abgelegt.
Im Februar 2021 schickte die WHO ein Expertenteam nach Wuhan, um dem Ursprung von SARS-CoV-2 auf den Grund zu gehen. Der Bericht, der im vergangenen März veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass es »äußerst unwahrscheinlich« sei, dass Covid-19 durch einen Laborunfall verursacht worden sei. Vielmehr schlossen die Experten, dass das Virus wahrscheinlich über einen Zwischenwirt von Fledermäusen auf Menschen übergesprungen sei. Wahrscheinlich sei der Huanan-Markt im Zentrum Wuhans der Ort, an dem alles begann.
Aber die Kritik am Ergebnis der WHO-Delegation ist nicht verstummt. Vielmehr haben die Spekulationen über die Möglichkeit eines Laborunfalls in letzter Zeit deutlich zugenommen.
Dazu beigetragen haben Berichte von US-Beamten, die das Wuhan-Institut im Jahr 2018 inspiziert hatten. Die Inspekteure hatten über Sicherheits- und Managementschwächen in den WIV-Laboratorien berichtet und davor gewarnt, dass die Arbeit an Fledermaus-Coronaviren und deren mögliche Übertragung auf den Menschen das Risiko einer neuen SARS-ähnlichen Pandemie darstellen könnte (7).
Weitere Untersuchungen wurden gefordert, beispielsweise und sehr prominent durch eine Gruppe von 18 Wissenschaftlern, die im Mai 2021 in »Science« einen Brief (8) veröffentlichte und darin Schwachstellen des WHO-Untersuchungsberichts klar benannte. Die Wissenschaftler kritisierten, dass Informationen, Daten und Proben für die erste Phase der WHO-Untersuchung von der chinesischen Hälfte des Teams gesammelt und zusammengefasst wurden. Der Rest des Teams nutzte diese Informationen als Basis für eigene Untersuchungen.
Die Forschung an und mit hochpathogenen Coronaviren erfordert hohe Sicherheitsvorkehrungen. / Foto: Adobe Stock/tuastockphoto
Ein klares Ergebnis brachte die WHO-Untersuchung nicht. Weder ließ sich eine natürliche Übertragung des Virus auf den Menschen noch ein Laborunfall eindeutig belegen. Dennoch, so die Kritiker, bewertete das Team eine zoonotische Übertragung durch einen Zwischenwirt als »wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich« und einen Laborunfall als »äußerst unwahrscheinlich«. Das sei keine ausgewogene Schlussfolgerung, so die Kritiker. Denn im Abschlussbericht und seinen Anhängen wurde die Möglichkeit eines Laborunfalls nur auf vier von 313 Seiten diskutiert.
Auch in Deutschland ist jüngst eine öffentliche Kontroverse zwischen dem Hamburger Physiker Professor Roland Wiesendanger und dem Corona-Experten Professor Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, entbrannt. Wiesendanger unterstellt Drosten, er vertusche bewusst den Ursprung des Coronavirus. In Interviews mit dem Magazin »Cicero« und der »Neuen Zürcher Zeitung« hatte Wiesendanger behauptet, SARS-CoV-2 stamme aus einem Labor in Wuhan. Das Magazin »Cicero« hat das Interview zwischenzeitlich von seiner Homepage entfernt (9).
Es verbreiteten sich Gerüchte in chinesischen sozialen Medien, in Beiträgen rechtsgerichteter Nachrichtenmedien und sogar durch den republikanischen US-Senator Tom Cotton, dass SARS-CoV-2 aus den WIV-Laboratorien unfreiwillig freigesetzt worden oder dass das Virus gar ein Produkt biotechnischer Manipulationen sei. Daraufhin organisierte Dr. Peter Daszak, Präsident der Nichtregierungsorganisation (NGO) EcoHealth Alliance und prominentes Mitglied der WHO-Delegation, einen Aufruf von Wissenschaftlern, der in »The Lancet« publiziert wurde (10). Mitzeichner war auch Drosten.
Für Daszak ging die Initiative nach hinten los. Einerseits hatte der Aufruf Andeutungen über einen Laborunfall als Ursache von Covid-19 als »Verschwörungstheorie« gebrandmarkt. Andererseits musste er später zugeben, dass er selbst kontrovers diskutierte Experimente aus seinen Drittmittelgeldern mitfinanziert hatte, ohne seinen Interessenkonflikt offenzulegen.
Im Zentrum der sachlichen Kritik im Hinblick auf die von Daszak mitfinanzierten Versuche stehen Gain-of-Function-(GoF-)Experimente (Kasten). Dies ist ein keineswegs unüblicher Versuchsansatz über viele biotechnologische Disziplinen hinweg, der bis dato in der breiten Öffentlichkeit kaum Beachtung fand. Das hat sich mittlerweile geändert.
Foto: Adobe Stock/vchalup
Gain of Function (GoF: Funktionsgewinn) ist ein klassischer Begriff aus der Genetik. In GoF-Experimenten werden in eine DNA-Sequenz, die für ein Protein, eine RNA oder ein Kontrollelement kodiert, gezielt Mutationen eingeführt oder Funktionselemente integriert, um zu schauen, wie sich der Phänotyp der ursprünglichen Funktionseinheit ändert. Bei dem komplementären Ansatz, dem Funktionsverlust (Loss of Function), wird eine Funktionseinheit durch Mutationen gezielt inaktiviert.
Prinzipiell sind beide Ansätze übliche molekularbiologische genetische Ansätze, die jedoch hinsichtlich des biologischen Risikos sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Vor allem erfordern GoF-Experimente an humanpathologischen Systemen strenge Sicherheitsvorkehrungen.
GoF-Experimenten wurde erstmals eine breitere Beachtung geschenkt, als 2012 zwei Forschergruppen von Arbeiten berichteten, in denen sie ein Vogelgrippevirus gentechnisch und mithilfe evolutionärer Verfahren so verändert hatten, dass dieses Virus nun in der Lage war, über Aerosole Frettchen nicht nur zu infizieren, sondern von einem Frettchen auf ein anderes übertragen zu werden (11). Man stritt damals darüber, ob man die Arbeiten überhaupt publizieren sollte. Denn eine Veröffentlichung lege gewissermaßen das Rezept offen, wie Viren gezielt gefährlicher gemacht werden können.
Etliche, die damals vor einer Publikation gewarnt hatten, fühlten sich bestätigt, als im Jahr 2015 Virologen unter Leitung von Professor Ralph Baric eine Arbeit (12) publizierten, bei der sie SARS-CoV-1 mit Oberflächenproteinen eines aus einer Java-Hufeisennase isolierten Coronavirus ausgestattet hatten. Diese GoF-Versuche sollten klären, ob SARS-CoV-1 auch dann noch menschliche Zellen infizieren kann, wenn es Oberflächenproteine eines Coronavirus aus einer Fledermaus trägt. Das war tatsächlich der Fall.
Im Jahr 2016 versuchte das US National Science Advisory Board for Biosecurity (NSABB) mit dem neuen Begriff »gain-of-function research of concern« (GOFROC), GoF-Experimente besser zu strukturieren. Der Begriff GOFROC sollte gezielt für solche GoF-Experimente gelten, die dazu führen können, dass sich ein Erreger leichter verbreiten oder beim Menschen erhebliche Krankheiten verursachen kann. Der Ausschuss entschied, dass dies die einzige Art von GoF-Arbeit sei, die so riskant sei, dass sie einer zusätzlichen behördlichen Aufsicht unterliegen sollte.
Im Jahr 2017 übernahm das US Department of Health and Human Services (HHS) diesen Ansatz, als es einen Rahmen für die Überprüfung von Zuschüssen für Arbeiten an Krankheitserregern mit Pandemiepotenzial erarbeitete.
Allerdings war das Problem damit nicht gelöst. Denn der Begriff GOFROC lässt sich offensichtlich unterschiedlich auslegen. Dies zeigten die Diskussionen um die Versuche im WIV, bei denen Shis Team S-Gensequenzen von acht verschiedenen SARS-verwandten Coronaviren aus der Fledermaus in das Fledermaus-Coronavirus WIV1 integrierte. Bekanntlich war WIV1 eines von nur drei Isolaten aus Fledermausproben, die die WIV-Forscher in Laborkulturen züchten konnten. Daszak, der diese Experimente mitfinanziert hatte, und Shi beschrieben die von ihnen konstruierten chimären Viren 2017 in einer Arbeit (13).
Erst durch eine Anfrage auf Basis des Freedom of Information Act (FOIA) an das NIH kam im September letzten Jahres ans Licht, dass Shi in einer Kooperation mit EcoHealth am WIV GoF-Experimente ausgeführt hatte. Zwar hatte keines der eingesetzten Viren eine enge Beziehung zu SARS-CoV-2. Allerdings glauben einige Befürworter der Labor-Escape-Hypothese, dass die Virologin, möglicherweise mit Daszaks Wissen, andere brisantere Experimente mit chimären Viren verheimlichte.
In einem der offengelegten Dokumente wurde ein zusätzliches Experiment beschrieben, bei dem Shi in das Genom des Middle East Respiratory Syndrome-(MERS-)Virus Oberflächenproteine von Fledermaus-Coronavirus inseriert hatte.
Es entbrannten heftige Debatten darüber, ob es sich hierbei um GoF-Experimente handelte. Professor Richard Ebright, ein Biochemiker an der Rutgers University in New Brunswick, der sich seit Langem gegen GoF-Forschung einsetzt, twitterte, dass dieses Experiment »eindeutig« die Definition von GoF erfülle. Damit war die Labor-Escape-Hypothese in den USA angekommen.
Am 2. Januar 2020 um 5.30 Uhr morgens lagen die Sequenzrohdaten der ersten Patientenproben vor, die zweieinhalb Tage zuvor an das WIV zur dringenden Analyse geschickt worden waren. Sie stammten von sieben Patienten in ernstem Zustand, die kürzlich wegen einer mysteriösen Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Eine Sequenz, die jetzt als WIV04 bekannt ist, war fast vollständig und von hoher Qualität: ein Coronavirus.
Beim Abgleich der Sequenzen mit Sequenzen, die in internationalen Datenbanken gespeichert waren, zeigte sich, dass die charakterisierten Viren am auffälligsten dem 4991-Isolat glichen, das Shis Team 2013 aus Mojiang mitgebracht hatte.
Dieses Virus, von dem es keine Probe, sondern nur noch einen Sequenzfile gab, verdiente plötzlich einen offiziellen Namen: RaTG13 – Ra für die Fledermausart Rhinolophus affinis, in der es gefunden wurde, TG für Tongguan, die Stadt in der Nähe der Kupfermine und 13 für das Jahr seiner Entdeckung. RaTG13 war, wie die Forscher einen Monat später in »Nature« berichteten (14), zu 96 Prozent identisch mit dem Coronavirus, das bei den sieben Patienten gefunden wurde.
Die Tatsache, dass sich RaTG13 und SARS-CoV-2 auf Genomebene so ähneln, ist wissenschaftlich spannend, für kritische Beobachter aber auch verdächtig.
Nun ist eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Viren RaTG13 und SARS-CoV-2 noch lange kein Beweis dafür, dass RaTG13 die Quelle von Covid-19 ist. Dies unterstrichen im vergangenen September führende Virologen und Experten für Infektionskrankheiten. In einer Publikation in »Cell« (15) betonten sie unter anderem, dass die beiden Viren zwar verwandt sein mögen, aber auf unterschiedlichen Evolutionszweigen sitzen, die sich vor etwa einem halben Jahrhundert auseinanderentwickelt haben. Das vom WIV isolierte Fledermausvirus RaTG13 unterscheidet sich von der Wuhan-Hu-1-Referenzsequenz von SARS-CoV-2 in etwa 1100 Nukleotiden, die über das gesamte Genom verteilt sind. Niemand hätte RaTG13 als Basis für die Entwicklung von SARS-CoV-2 verwenden können, schreiben die Autoren.
Die Pandemie hat bislang weltweit mindestens 6 Millionen Todesopfer gefordert. Hier der Rorotan-Friedhof für Covid-19-Verstorbene in Jakarta, Indonesien / Foto: Adobe Stock/syahrir
Zudem berichtete »Nature« (16) in einem News-Beitrag über eine Studie, die als Preprint publiziert wurde (17). Danach hatten Wissenschaftler in Laos drei Viren aus Fledermäusen (BANAL-52, BANAL-103 und BANAL-236) isoliert, die dem SARS-CoV-2-Virus ähnlicher sind als alle anderen bekannten Viren.
Bemerkenswert an diesen Isolaten ist, dass hier erstmals Rezeptor-Bindedomänen (RBD) identifiziert wurden, die sich nur in einem oder zwei Aminosäureresten von denen des SARS-CoV-2 unterscheiden. Diese RBD binden ebenso effizient an das humane ACE2-Protein wie der ursprüngliche SARS-CoV-2-Stamm aus Wuhan. Allerdings verfügt keines dieser Isolate über eine Furin-Spaltstelle im Spike-Protein. Diese Bindestelle ist jedoch eine wichtige Funktionseinheit von SARS-CoV-2. Während RaTG13 eine Sequenzidentität von 96,1 Prozent zu SARS-CoV-2 aufweist, stimmen BANAL-52 und SARS-CoV-2 auf Genomeben zu 96,8 Prozent überein. Aber einen Beweis für einen natürlichen Ursprung von SARS-CoV-2 liefern auch diese Isolate nicht.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Ergebnisse aller Recherchen zum Ursprung von SARS-CoV-2 ernüchternd. Qiu, die Autorin der in »MIT Technology Review« publizierten Recherche, kommt nach vielen Gesprächen zu der Überzeugung, dass die Meinung der Menschen über die Laborleck-Theorie zum großen Teil davon abhängt, ob sie Shi glauben oder nicht. Einige unterstützten sie, so die Wissenschaftsjournalistin, weil sie sie als Person kennen oder ihre Arbeit verstehen oder weil sie bereit sind, sich mit Chinas mangelnder Transparenz abzufinden. Andere, die China gegenüber prinzipiell argwöhnisch eingestellt sind, lehnten jeden Beweis ab, den die Forscherin zur Erklärung ihrer Arbeit vorlegt, und betrachteten alle nicht zufriedenstellend beantworteten Fragen als vorsätzliche Versuche, ein Verbrechen zu vertuschen.
»Ich bin auch ein Mensch, wissen Sie«, antwortete Shi auf die Frage, wie sie die letzten zwei Jahre wahrgenommen habe. »Haben Sie bedacht, wie es sich anfühlt, wenn man zu Unrecht beschuldigt wird, eine Pandemie ausgelöst zu haben, die Millionen von Menschen getötet hat?«
Auch der Zoonosen-Experte Professor Fabian Leendertz vom Robert-Koch-Institut resümierte in einer Dokumentation von Andrej Reisin vom NDR sowie Wulf Rohwedder und Silvia Stöber von tagesschau.de (18) zur Herkunft von SARS-CoV-2: »Wir sind momentan am Limit der Diskussion und der Entwicklung der Szenarien, weil die Daten einfach nicht mehr hergeben.« Sicherlich eine unbefriedigende Situation, aber vielleicht doch nicht das Ende der Geschichte.
Theo Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach Promotion und Habilitation war er bis 2013 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Jetzt ist er Seniorprofessor der Universität. Die Apotheker kennen ihn als Referenten und Autor von wissenschaftlichen Fach- und Lehrbüchern. Der PZ ist er seit April 2010 als externes Mitglied der Chefredaktion, seit Frühjahr 2019 als einer von drei Chefredakteuren und aktuell als Senior Editor verbunden.
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