Wie gefährlich sind Nitrosamine? |
Ulrike Holzgrabe |
04.04.2021 08:00 Uhr |
Bis Mitte 2018 wurde der Wirkstoff Valsartan vor allem von der chinesischen Firma Zhejiang Huahai Pharmaceutical produziert; ein zweiter Hersteller saß in Indien. / Foto: Picture Alliance/dpa
Dass Arzneimittel mit Nitrosaminen verunreinigt sind, hat Synthesechemiker und vielleicht auch manchen Analytiker nicht unbedingt verwundert, aber die Bevölkerung war alarmiert, vor allem, weil in der Folge in weiteren Arzneimitteln Nitrosamine gefunden wurden. Für den Lebensmittelchemiker ist eine solche Kontamination allerdings nichts Besonderes, da in vielen Nahrungsmitteln Nitrosamine enthalten sind oder durch Prozessierung und Kochen gebildet werden. Wie ernst sind die gefundenen Nitrosamin-Mengen in Arzneimitteln und warum ist es überhaupt dazu gekommen?
Die Qualität, sprich die Reinheit von Arzneimitteln wird seit Jahrhunderten in Arzneibüchern geregelt. Heutzutage spielt das Europäische Arzneibuch (PhEur) eine große Rolle. Es limitiert die in einem Arznei- oder Hilfsstoff erlaubte Art und Menge an Verunreinigungen und beschreibt die Methoden, mit denen man deren Konzentration messen kann. Dabei werden im Wesentlichen Restlösemittel, Schwermetalle und verwandte Substanzen bestimmt.
Das PhEur wird am »European Directorate for the Quality of Medicines and HealthCare« (EDQM) erarbeitet, wobei insbesondere für neuere Arzneistoffe die Richtlinien der »International Conference on Harmonization« (ICH) bei der Erstellung einer Monographie eine Rolle spielen. Ein Hersteller von Arzneistoffen kann beim EDQM ein sogenanntes CEP beantragen, also ein »Certificate of Suitability to the Monograph of the European Pharmacopoeia«.
Die Zertifizierungsabteilung des EDQM prüft dann die eingereichten Chargen des Arzneistoffs nach den Regeln des PhEur, um festzustellen, ob der Arzneistoff der dort beschriebenen Qualität entspricht. Ist dies der Fall, wird das CEP erteilt, mit dem der Hersteller nun seine qualitätsgesicherte Ware auf dem Markt anbieten kann.
Im Juli 2018 wurde Valsartan im Wesentlichen bei der chinesischen Firma Zhejiang Huahai Pharmaceutical produziert; ein zweiter Hersteller war Heterolabs India. Beide Firmen verfügten über ein gültiges CEP des EDQM, sodass eigentlich die Qualität gesichert sein sollte. Mehr durch Zufall wurde die Substanz in Spanien näher untersucht und dabei wurden die Nitrosamine gefunden. Mehr zu den akuten Folgen des »Valsartan-Skandals« für die Apothekenpraxis lesen Sie im Beitrag »Ein Jahr mit dem Valsartan-Störfall«.
Die im PhEur beschriebene Analytik war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, Nitrosamine nachzuweisen, geschweige denn zu quantifizieren. Dies liegt daran, dass Nitrosamine weder strukturell verwandt mit Sartanen sind noch in die Kategorie Restlösemittel fallen. Bei Verdacht auf eine Verunreinigung hätte die ICH-Richtlinie M7 zur »Bewertung und Überwachung von DNA-reaktiven (mutagenen) Verunreinigungen in pharmazeutischen Produkten« (1) angewendet werden müssen, aber weder die Analytiker der Herstellerfirmen noch das EDQM hatten einen Verdacht. Allerdings sei betont, dass die Synthese, auf deren Grundlage die Arzneibuchmonographie erarbeitet wurde und die Vergabe des CEP beruhte, keine Hinweise auf eine mögliche Entstehung von Nitrosaminen gab.
Bei der chinesischen Firma Zhejiang hatten die organischen Chemiker den Syntheseschritt zum Aufbau des Tetrazolyl-Restes optimiert, ohne die Information weiterzugeben. Statt des vorher genutzten Zinnazids wurde nun Natriumazid im Lösungsmittel Dimethylformamid (DMF) eingesetzt und der Azid-Überschuss nach abgelaufener Reaktion mit Natriumnitrit zerstört (2) (Abbildung 1). Dabei wurde nicht bedacht, dass DMF in der Hitze in Kohlenmonoxid und Dimethylamin zerfällt, eine Reaktion, die eigentlich jeder Organiker kennt und die sogar in Wikipedia nachzulesen ist (3). Das sekundäre Amin reagierte dann mit Nitrit zu N-Nitrosodimethylamin (NDMA) (Abbildung 1 unten). Und weil DMF noch andere Amine enthält, wurden in der Folge weitere Nitrosamine, unter anderem N-Nitrosodiethylamin (NDEA), in Valsartan gefunden.
Hier ist also nicht nur die Chemie schiefgelaufen. Die Behörden wurden über die Änderung der Herstellung nicht informiert, was eine grobe Missachtung der internationalen Regularien darstellt. Nach dem Nachweis von NDMA wurden allen Herstellern umgehend die CEP für alle Tetrazolyl-substituierten Sartane entzogen.
Abbildung 1: Valsartan-Synthese: In einem der letzten Syntheseschritte wird aus einem Nitril mittels eines Azids der Tetrazolylrest aufgebaut. In der ursprünglichen Synthese wurde dazu Zinnazid verwendet. Die Verwendung von Natriumazid in DMF führte in kürzerer Zeit und größeren Ausbeuten zur gewünschten Bildung des Tetrazolyl-Restes. Die notwendige Zerstörung des Natriumazid-Überschusses mittels Natriumnitrit führte allerdings zur Bildung von NDMA (blau). / Foto: Schmitz/Holzgrabe
Da 2018 niemand wusste, wie lange Hypertoniepatienten schon die kontaminierten Sartane eingenommen hatte, musste schnell gehandelt werden. Die FDA nahm binnen weniger Wochen ein Audit in China vor und stellte dabei zahllose Mängel in der Produktion fest. Der vielleicht gravierendste war die Tatsache, dass die Qualitätsanalytiker schon seit Längerem einen unbekannten Peak in den Chromatogrammen gesehen hatten, diesem Befund aber nicht nachgegangen waren. Auch das verstößt gegen alle internationalen Regeln, die offenbar nicht alle Analytiker bei Zhejiang kannten.
Auch das EDQM und die European Medicines Agency (EMA) auditierten die Sartan-Hersteller. Zur Aufklärung der gesamten Sachverhalte und zur Verbesserung der Sartan-Qualität arbeiteten sie in der Folge mit den Herstellern eng zusammen.
Zum Zeitpunkt der Entdeckung von NDMA und weiteren Nitrosaminen in Valsartan gab es keine empfindliche Nitrosamin-Analytik, die den Ansprüchen des Arzneibuchs genügt hätte. Das vom EDQM koordinierte internationale Netzwerk von sogenannten »Official Medicine Control Laboratories« (OMCL) hat zügig verschiedene analytische Methoden zur Evaluation entwickelt. Eine ausreichend große Empfindlichkeit wurde nur durch eine Kombination aus Hochleistungsflüssigkeits- und Gaschromatografie mit massenselektiven Detektoren erzielt.
Im Zuge des Valsartan-Skandals 2018 waren die Apotheker herausgefordert, die Arzneimittelversorgung der Patienten sicherzustellen. / Foto: Adobe Stock/Anke Thomass
Eine der ersten Maßnahmen der EMA war die Festlegung von temporären Grenzwerten für NDMA und NDEA, die einerseits messbar und andererseits auch von der Produktion her erfüllbar waren (um Lieferengpässe zu vermeiden). Täglich durften Patienten nicht mehr als 96 ng NDMA und nicht mehr als 26,5 ng NDEA durch ihre Sartan-Tagesdosis einnehmen. Im Juli 2019 wurde in allen Sartan-Monographien des Arzneibuchs ein Produktionsstatement eingeführt (gültig ab 1. Januar 2020), mit dem die Hersteller gezwungen wurden, die Produktion so zu verändern, dass die als kanzerogen eingestuften Nitrosamine nur in entsprechend geringen Mengen enthalten sind.
Neue Methoden für die Qualitätsanalytik: Mitte des Jahres wird eine Toolbox von optimierten und validierten chromatografischen Methoden im Europäischen Arzneibuch in Kraft treten. / Foto: Adobe Stock/markus thoenen
Mit diesen vorläufigen Maßnahmen war der Arzneimittelmarkt wieder einigermaßen sicher. Allerdings mussten feste Regeln für das PhEur erarbeitet werden. Über geeignete chromatografische Methoden sowie über die erlaubten Grenzwerte und den Umgang mit den Einzelmonographien wurde im EDQM beraten. Nach einer Vielzahl von Untersuchungen von ungezählten Sartan-Chargen durch verschiedene Laboratorien wurde eine Toolbox an Methoden der OMCL im Dezember 2020 von der Europäischen Arzneibuchkommission bewilligt. Diese wird im Juli 2021 unter dem allgemeinen Kapitel 2.5.42 (4) des PhEur in Kraft treten.
Die für das PhEur ungewöhnliche Toolbox von jetzt optimierten und validierten HPLC- und GC/MS-Methoden lässt dem Hersteller für die Qualitätsanalytik eine gewisse Wahl. Ungewöhnlich ist auch, dass die Arzneistoffhersteller nun eine Risikobewertung ihres Herstellungsprozesses bezüglich der möglichen Entstehung von Nitrosaminen vornehmen müssen und dass die Menge an Nitrosaminen so klein wie möglich sein muss. Außerdem muss eine Kontrollstrategie zur Quantifizierung der Nitrosamine implementiert werden.
Die so überarbeiteten Sartan-Monographien treten im April 2021 in Kraft. Dementsprechend müssen nun die CEP angepasst werden (5). Eine detaillierte Zusammenfassung findet sich auf der Webseite der EDQM: »The EDQM’s response to nitrosamine contamination« (6).
2018/2019 wurden am Institut für Pharmazeutische und Biomedizinische Forschung in Nürnberg in Kooperation mit der Uni Würzburg etwa 150 Packungen gekaufter Sartan-Tabletten mittels einer sehr empfindlichen selbst entwickelten HPLC/MS-Methode untersucht. Deutlich mehr als die Hälfte der Tabletten enthielt mehr NDMA, als die EMA im Februar 2019 zugelassen hatte (7). Pro Tablette Valsartan wurden zwischen 0,001 µg und 22,0 µg NDMA gefunden, was teilweise ein Vielfaches der erlaubten Menge darstellt. Auch NDEA wurde gefunden, aber selten über den erlaubten Grenzwerten.
In allen anderen Tetrazolyl-haltigen Sartanen wurden hingegen zahlen- und mengenmäßig deutlich weniger Nitrosamine gefunden. Dies steht im Einklang mit den OMCL-Untersuchungsergebnissen der Sartan-Wirkstoffe.
Die Nachricht über Verunreinigungen in Arzneimitteln erschreckt Patienten und Fachleute gleichermaßen. / Foto: Adobe Stock/Alexander Raths
Es war klar, dass alle Sartane, die den »berühmten« Tetrazolyl-Rest tragen, aufgrund der gleichen Synthese auch Nitrosamine enthielten. Dazu gehören neben Valsartan auch Irbesartan, Candesartan und Olmesartan. Da die meisten Sartane in kleineren Dosen als Valsartan eingenommen werden, war hier die Nitrosamin-Zufuhr entsprechend geringer.
Der Sartan-Skandal hat dazu geführt, dass man bei vielen anderen Arzneistoffen eine Nitrosamin-Risikobewertung vorgenommen und/oder nach Berichten über Nitrosamin-Kontaminationen in der Literatur gesucht hat. In den 1970er-Jahren hatte man bereits NDMA in Aminophenazon gefunden, das durch hydrolytische Zersetzung von Aminophenazon zu Dimethylamin und der Reaktion mit einem aus der Synthese »mitgeschleppten« Natriumnitrit entstanden war. Aminophenazon wurde damals sofort vom Markt genommen und wurde nie wieder vermarktet (8).
In einem Übersichtsartikel berichten die Autoren von früheren NDMA-Kontaminationen in diversen Arzneistoffen wie Amitriptylin, Imipramin, Trimipramin, Chlorpromazin, Promazin, Chloramphenicol, Erythromycin, Oxytetracyclin und anderen mehr (9). Auch in den letzten beiden Jahren wurde über mit Nitrosaminen kontaminierte Arzneistoffe berichtet (8):
Es ist schon lange bekannt, dass Ranitidin eine sehr instabile Substanz ist. Allerdings wurde bis 2019 nie über die Bildung von NDMA während der Lagerung berichtet. In diversen Ranitidin-Chargen wurden nun substanzielle Mengen NDMA gefunden, was auf die Instabilität des Wirkstoffs zurückzuführen ist, da während der Lagerung die NDMA-Konzentration zunimmt, insbesondere bei Temperaturen über 25 °C (10).
Anfänglich wurden bei der amerikanischen Online-Apotheke Valisure deutlich zu hohe NDMA-Konzentrationen gemessen, da man die Probe zur Analyse erhitzt und damit die NDMA-Bildung provoziert hatte. Da aber auch Messungen beim EDQM signifikante – wenn auch deutlich niedrigere – Mengen an NDMA in Raniditin ergeben hatten, wurde der Wirkstoff gänzlich vom Markt genommen (11).
Die Bildung von NDMA aus Ranitidin in Kläranlagen durch die oxidative Wasseraufbereitung mittels Ozonisierung, Chloraminierung oder Chlorierung ist schon länger bekannt (12), ebenso die mögliche Bildung von NDMA im sauren Medium des Magens (13). Die Bildung der Nitrosamine im Wirkstoff ist noch nicht endgültig geklärt, aber es spricht vieles dafür, dass Ranitidin-Hydrochlorid sich selbst »auffrisst«: Im sauren Medium (Hydrochlorid!) bildet das Nitro-substituierte Ostende (Abbildung 2) ein Nitrosylchlorid (Cl-N=O), das mit der Dimethylaminogruppe am Westende zu einem Nitrosamin reagiert, das dann freigesetzt wird (14).
Diese Reaktion könnte man verhindern oder zumindest verlangsamen, wenn man Ranitidin nicht als Hydrochlorid einsetzt. Dafür spricht die Tatsache, dass Nizatidin, das ebenfalls eine Nitrogruppe und eine Dimethylaminogruppe an gegengesetzten Enden des Moleküls enthält, aber nicht als Hydrochlorid formuliert wird, diese Zersetzung nicht zeigt. Das in Nizatidin gefundene NDMA (15) stammt wohl aus anderen Quellen (14).
Es lässt sich also zusammenfassen, dass Nitrosamine nicht nur in der Synthese ihren Ursprung haben, sondern auch durch die Zersetzung eines Arzneistoffs entstehen können. Selbst Reaktionen zwischen Verunreinigungen von Wirk- und Hilfsstoffen können die Ursache sein. Eine weitere mögliche Quelle: Gebrauchte Lösungsmittel werden in der Pharmaindustrie in großem Maßstab zur Wiederverwendung redestilliert. So wundert es nicht, dass NDMA in Sartanen bei Herstellern gefunden wurde, obgleich diese eine Synthese verwendeten, die die Bildung von Nitrosaminen ausschließt (16).
Man muss kein Hellseher sein, um zu prognostizieren, dass noch mehr dieser Fälle auftauchen werden. Daher werden derzeit die Strukturen aller Arzneistoffe und auch die Synthesen in Bezug auf eine potenzielle Gefahr der Nitrosamin-Bildung näher untersucht.
Abbildung 2: Banister und Gal (14) vermuten eine innermolekulare Bildung von NDMA in Ranitidin, da aus dem östlichen Molekülende Nitrosylchlorid im Sauren gebildet werden kann, das mit dem Dimethylamin-Rest im Westen reagiert. / Foto: Schmitz/Holzgrabe
Lebensmittel, Wasser und andere Produkte enthalten Nitrosamine, wenn auch in geringen Mengen (Kasten). Die mit Arzneimitteln eingenommenen Nitrosamine erhöhen deren Konsum. So nimmt man laut FDA beim Verzehr eines 1-kg-Steaks die gleiche Dosis NDMA zu sich wie bei der Einnahme einer Ranitidin-Tablette, nämlich circa 700 ng (17). Natürlich geht von der regelmäßigen Einnahme von Ranitidin eine größere Krebsgefahr aus als von einem gelegentlich verzehrten 250-g-Steak.
Die Internationale Agentur für Krebsforschung stuft NDMA als wahrscheinlich krebserregend ein. Dies ist chemisch darauf zurückzuführen, dass aus Nitrosaminen mittels CYP-Enzymen wie CYP2A(6) und CYP2E1 Halbaminale gebildet werden, die Formaldehyd und Stickstoff abspalten und letztlich zur Bildung hoch reaktiver Methylkationen führen (Abbildung 3). Diese reagieren leicht im Sinne einer nukleophilen Substitution mit den Stickstoffen, zumeist der Guanine, zu DNA-Addukten.
Abbildung 3: NDMA wird durch Cytochrom-P450 hydroxyliert. Aus dem gebildeten Halbaminal werden nacheinander Formaldehyd, Wasser und Stickstoff abgespalten und ein Methylkation freigesetzt, das in einer nukleophilen Substitution mit Guaninen der DNA reagieren kann. / Foto: Schmitz/Holzgrabe
Welches Krebsrisiko davon ausgeht, lässt sich nur durch aufwendige Langzeitstudien an einer sehr großen Zahl von Versuchstieren, meist Mäusen und Ratten, ermitteln. Solche Kanzerogenitätsstudien liegen nur für ein Drittel der etwa 300 bekannten Nitrosamine vor und die Datenlage reicht für die meisten nicht für eine Risikobewertung aus. NDMA und NDEA wurden intensiv in Tieren untersucht und ihr hohes kanzerogenes Potenzial wurde gezeigt: Sie führen zu Leberkrebs. Deshalb kann die maximale Dosis bestimmt werden, »die theoretisch einen zusätzlichen Krebsfall bei 100.000 lebenslang täglich exponierten Menschen bewirkt« (18). Aus den publizierten Tierdaten kann die tägliche lebenslange Maximaldosis für einen 50 kg schweren Menschen extrapoliert werden; diese hat Eingang in die genannten Valsartan-Grenzwerte im PhEur von 96 ng NDMA (0,3 ppm) und 26,5 ng NDEA gefunden, die allerdings nur gelten, wenn keine Kontamination mit mehreren Nitrosaminen stattfindet.
Auch wenn es noch weiterer intensiver Untersuchungen bedarf, kann man nun das Krebsrisiko hochrechnen, da wir heute wissen, dass mit NDMA verunreinigtes Valsartan von 2012 bis 2018 auf dem Markt war. Selbst bei sehr hohen NDMA-Kontaminationen errechnen Frötschl et al. (18) nur ein extrem kleines Lebenszeitrisiko von 0,069 Prozent. Demgegenüber stehen Zahlen, dass in Deutschland im Lauf des Lebens einer von zwei Menschen an Krebs und einer von 88 Männern und eine von 190 Frauen an Leberkrebs erkranken.
Diese an sich günstige Prognose wird bestätigt durch eine Studie, bei der im dänischen Gesundheitsregister Patienten verglichen wurden, die mit oder ohne NDMA-kontaminiertem Valsartan behandelt worden waren. Es gab keine Erhöhung der Gesamt-Krebszahlen (19).
Foto: Adobe Stock/shadowvincent
Manch einer erinnert sich daran, dass die noch in den 1970er-Jahren in Bamberg gebrauten Rauchbiere beträchtliche Mengen Nitrosamine enthalten haben, die beim Darren des Gerstenmalzes durch offenes Holzfeuer entstanden sind. Mit der technischen Neuerung, das Malz indirekt mit heißer Luft rauchfrei zu darren, sank der Nitrosamin-Gehalt des Rauchbiers auf den des »Normalbiers«, mithin um mehr als 90 Prozent.
Nitrosamine entstehen in der Nahrung, wenn die in pflanzlichen Lebensmitteln omnipräsenten Amine, zum Beispiel Aminosäuren, biogene Amine oder Alkaloide, auf Nitrit/Nitrat oder Stickoxide treffen. Nitrate gelangen über den Stickstoffkreislauf und Dünger in die Nahrungskette, zum Beispiel in Wasser, Gemüse und Obst. Nitrate werden enzymatisch zu Nitriten reduziert, die mit Aminen insbesondere in saurer Umgebung zu Nitrosaminen reagieren.
Nitrate und Nitrite sind zur Herstellung von Pökelwaren wie rohem Schinken oder Schinkenspeck für die Konservierung erlaubt. Der Gehalt an Nitrosaminen steigt mit dem Verarbeitungsgrad und durch Erhitzen, zum Beispiel beim Räuchern, scharfen Braten, Frittieren und Grillen, weniger beim Kochen. Zumeist werden NDMA und NDEA gefunden, sodass die tägliche Aufnahme beider bei Erwachsenen im Durchschnitt 0,5 ng/kg beträgt, wobei NDMA 90 Prozent ausmachen.
Lebensmittel mit den höchsten »totalen Nitrosamin-Konzentrationen« (TNA) sind Fette, Öle und Süßigkeiten mit einem durchschnittlichen TNA von 8,9 µg/kg, Fleisch mit 8,1 µg/kg – aber gebratener Speck mit 35,6 µg/kg und gebratenes Hühnchen mit 22,4 µg/kg – sowie Fisch mit 5,6 µg/kg und Gemüse mit 5,4 µg/kg (21). Nicht vergessen darf man, dass Tabakprodukte zwischen 0,02 und 8 µg/g Nitrosamine enthalten und auch Gummi- und Latexprodukte wie Kondome und Kosmetika (durch Verunreinigungen der Rohstoffe) zu den TNA/Tag beitragen.
Wer mehr wissen will, kann die Webseite des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit besuchen: www.lgl.bayern.de/lebensmittel/chemie/toxische_reaktionsprodukte/nitrosamine/et_nitrosamine_gefaehrlichkeit.htm (abgerufen am 3.2.2021).
Wie eingangs erwähnt, waren Synthese-Chemiker von der Nitrosamin-Kontamination weniger überrascht als beispielsweise Qualitätsanalytiker, da die Bildung der Nitrosamine auf der Hand lag.
Die internationalen Arzneibücher konzentrieren ihre Analytik auf Lösungsmittel und verwandte Substanzen. Diese Vorgehensweise berücksichtigt Nebenreaktionen von Lösungsmitteln und Reagenzien sowie deren jeweilige Verunreinigungen oder Zersetzungsprodukte fast gar nicht. So kann zum Beispiel Aceton unter bestimmten Reaktionsbedingungen zu Mesityloxid oder Acetonitril zu Acetamid reagieren, die dann weitere Reaktionen eingehen (20). Solche Gefahren müssen mehr in die Risikobewertungen und damit in das Verunreinigungsprofil Eingang finden. Zudem muss man über eine zusätzliche »ungezielte«, im Fachjargon »untargeted« genannte Reinheitsanalytik nachdenken, die mit den heute zur Verfügung stehenden HPLC/MS-Methoden machbar ist. Solche Konsequenzen aus dem »Valsartan-Skandal« reichen viel weiter als die Begrenzung von Nitrosaminen in Arzneistoffen und Arzneimitteln.
Ulrike Holzgrabe studierte Chemie und Pharmazie in Marburg und Kiel. Es folgten die Approbation 1982, Promotion 1983 und Habilitation in Pharmazeutischer Chemie 1989 in Kiel. 1990 erhielt sie Rufe nach Bonn und Berlin und war von 1990 bis 1999 als C3-Professorin in Bonn tätig. 1998 erhielt Holzgrabe Rufe auf C4-Professuren nach Tübingen, Münster und Würzburg. Seit April 1999 ist sie Lehrstuhlinhaberin in Würzburg. Einen Ruf auf eine C4-Professur in Berlin und das Angebot der Präsidentschaft des BfArM lehnte sie ab. Professor Holzgrabe war von 2018 bis 2021 Vizepräsidentin der Universität Würzburg. In vielfältigen Positionen arbeitete sie am Deutschen und Europäischen Arzneibuch am BfArM und EDQM mit.