Was muss die Apotheke der Zukunft können? |
Jürgen Graalmann von den Brückenköpfen, Apothekerin Ina Lucas, Apotheker Marc Kriesten und Moderatorin Tina Haase vom Wort & Bild Verlag (v.l.) diskutierten über künftige Aufgaben der Pharmazeuten. / Foto: BD Rowa
Unter dem Motto »Apo-Live: Innovationen für meine Apotheke« wollten der Automaten-Hersteller BD Rowa und der Wort & Bild Verlag am gestrigen Donnerstag und heutigen Freitag einen niederschwelligen Raum für Diskussionen über Herausforderungen der Zukunft bieten. In einem betont hellen, offenen Veranstaltungsraum direkt an der Spree in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs herrschte eine lockere Atmosphäre. Die 1G-Veranstaltung erlaubte es auch sich ohne Maske frei zu bewegen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Genau das wollten die Gastgeber erreichen: »Seien Sie neugierig und gehen Sie Kooperationen ein«, forderte Andreas Arntzen, Chef vom Wort- und Bild Verlag. Nur so könnten Apotheken erfolgreich in die Zukunft gehen und die kommenden Herausforderungen mitgestalten.
Einig waren sich die eingeladenen Diskutantinnen und Diskutanten der Hybridveranstaltung am Donnerstag, dass Digitalisierung geprägt sei von Partnerschaften. »Amazon hat 35 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung letztes Jahr ausgegeben«, sagte Arntzen. Da Gesundheit eines der Hauptprojekte des Versandhändlers sei, könne man sich vorstellen, wie viel Geld da hineinfließe, warnte er. Mit dieser Situation müsse man vernünftig umgehen, die Apothekerschaft müsse sich demnach selbst organisieren und geschlossen eine gemeinsame Lösung erarbeiten. Da sei es egal, ob die Apotheken die DAV-App oder die Plattform gesund.de nutzen oder dem Zukunftspakt Apotheke beitreten – am besten sei es, alle auszuprobieren, um herauszufinden, was die beste Lösung für die jeweilige Apotheke sei. »Jedes Rezept, das über diese Plattformen geht, ist besser als eines, das nach Holland geschickt wird«, sagte Arntzen vor allem in Richtung der Versandapotheke Doc Morris, die ihren Sitz im niederländischen Heerlen hat.
Wort & Bild Chef Andreas Arntzen (links) und BD Rowa-Chef Antonios Vonofakos plädieren für mehr Zusammenarbeit im Apothekenmarkt. / Foto: BD Rowa
Dass sich derzeit verstärkt Lieferdienste etablieren, die etwa in Kooperation mit Apotheken Medikamente nach Hause liefern, beschäftigte Arntzen ebenfalls. Beispielsweise fahren die ersten Kuriere von Mayd Arzneimittel für Apotheken aus, die ABDA sieht das allerdings als rechtlich unzulässig an. Ein weiterer Lieferdienst, First A, will zunächst in Berlin eine eigene Online-Apotheke aufbauen und selbst per Fahrradkurier ausliefern. Arntzen zufolge sei es wichtig, diese Entwicklungen nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Dienste wollten einfach nur schnell wachsen und würden dann vermutlich an die Lebensmittel-Lieferdienste Gorillas oder Lieferando verkauft, um eine gemeinsame, große Plattform aufzubauen, prognostiziert Arntzen. Deshalb sei wichtig, wer jetzt die Daten der Kunden und die Kundenkontakte bekomme. Verinnerlichen sollten sich Apotheker, dass es morgen einen Player auf dem Markt geben könnte, von dem heute noch nie jemand gehört habe. »Es ist ein riesiger Fehler zu glauben, dass das Tempo der letzten 5 Jahre das gleiche ist, wie das Tempo der nächsten 5 Jahre, es wird immer schneller«, so Arntzen. Auch der Mediziner und Fernsehmoderator Johannes Wimmer empfiehlt den Apothekern sich zu überlegen, wie man selbst systemisch Arzneimittel mit Sinn und pharmazeutischer Expertise versenden könnte. Es mache etwa bezüglich der Routenplanung keinen Sinn, wenn ein Botendienst bei der Auslieferung noch an drei anderen Apotheken vorbeifährt, so Wimmer, der selbst als Jugendlicher Medikamente für eine Apotheke mit dem Fahrrad ausgeliefert hat.
Zukunftsträchtig sei zudem, die Apotheke als Erlebniswelt zu kreieren, betonte Antonios Vanofakos, Geschäftsführer von BD Rowa. »Obwohl es den Versandhandel gibt, ist der Einzelhandel nicht verschwunden.« Dies habe damit zu tun, dass die Kunden ein Erlebnis wollen, wenn sie einkaufen gehen, dies müsse die Apotheke der Zukunft auch etwa mit Impfungen oder Cannabis-Beratung und Abgabe bieten. Die Standesvertretung sei hier aber sehr zurückhaltend und müsste viel offener sein, kritisierte Vanofakos. Apotheken könnten sich auch überlegen, eine Sprechstunde ähnlich einer Club-Mitgliedschaft im Fitnessstudio anzubieten, schlägt Wimmer vor. Zweimal die Woche eine pharmazeutische Beratung anzubieten sei sicher zukunftsträchtiger, als Cremes und Nahrungsergänzungsmittel zu verkaufen.
Auch die Berliner Apothekerin Ina Lucas wünscht sich, dass das Thema pharmazeutische Dienstleistungen wichtiger wird. Ihre Apothekenmitarbeiter haben sich bereits bezüglich Grippe-Impfungen in Apotheken schulen lassen. »Mein Team impft sich gerade gegenseitig mit Natriumchlorid, um die Impfungen zu üben«, so Lucas. In Berlin ist wie auch in neun anderen Kammerbezirken dieses Jahr ein entsprechendes Modellprojekt geplant. Auch in Richtung Abgabe von Genuss-Cannabis in der Apotheke zeigt sich die Apothekerin offen. »Ich verstehe nicht, wieso Cannabis nicht in der Apotheke abgegeben werden sollte.« Apotheker seien ständig in Präventionsbereichen unterwegs. Wenn jemand 2 Nasensprays in ihrer Apotheke kaufe, dann wären ihre Mitarbeiter auch direkt »im potenziellen Abhängigkeitsradar«. Die Apotheken müssten in der Zukunft zudem eine »unheimliche Hybridstellung einnehmen«, glaubt Lucas. Die Mischung der Vor-Ort-Apotheke sowie einer Erreichbarkeit nach Ladenschluss sei wichtig.
Eine weitere künftige Aufgabe für Apotheker sieht Jürgen Graalmann von der Agentur Brückenköpfe. Graalmann hat langjährige Erfahrung im Krankenkassenbereich und war bis vor einigen Jahren Vorstandschef des AOK-Bundesverbands. Im Bereich der Polymedikation im ambulanten Pflegesektor sei die ärztliche Behandlung katastrophal, so Graalmann. Hier könnten Apotheker eine zentrale Aufgabe in Pflegeheimen übernehmen, um präventiv Krankenhausaufenthalte etwa aufgrund von falscher Medikation oder Dosierung vorzubeugen. Zudem sieht er Apotheken in der Aufgabe vulnerable Bevölkerungsgruppen mit einer »kritischen« Gesundheitskompetenz zu unterstützen.
Graalmann warf auch einen Blick in die Glaskugel, was die nächste mögliche Gesundheitsministerin oder den nächsten Gesundheitsminister auf Bundesebene angeht. In seinen Augen wolle die FDP diesen Posten auf gar keinen Fall, die SPD beanspruche traditionsgemäß das Arbeits- und Sozialministerium, deshalb könnte es gut sein, dass die Grünen das Gesundheitsministerium erhalten werden, so Graalmann. Damit könnte Maria Klein-Schmeink die nächste Bundesgesundheitsministerin werden, prognostiziert der Gesundheitspolitikexperte. Diese Wahl wäre auch nicht die schlechteste, schätzt er. Klein-Schmeink verhandelt derzeit für die Grünen federführend die Ampel-Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit. Die Gespräche in den Arbeitsgruppen laufen seit Mittwoch und sollen am 10. November beendet sein.
Den langjährige Krankenkassen-Experte beschäftigt auch den großen, finanziellen Defizit, den die Kassen für nächstes Jahr prognostiziert haben. »Es braucht eine große, strukturelle Reform, um diesem Defizit entgegenzuwirken«, prognostiziert er. Die letzte große Reform dieser Art war das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG), so Graalmann. Bezüglich eines künftigen Ampel-Koalitionspapieres geht er davon aus, dass SPD, Grüne und FDP verstärkt auf dezentrale, kommunale Gesundheitszentren mit großer Bürgernähe setzen. »Meine Hoffnung ist, dass sich die Politik nicht auf die einzelnen Sektoren fokussiert, sondern dass die Sache aus Patientensicht angeschaut wird«, so Graalmann. Zudem geht er davon aus, dass die Apotheken nicht im kommenden Koalitionsvertrag auftauchen werden. Das sollte die Pharmazeuten aber nicht davon abhalten sich zu überlegen, welche Rolle sie unter anderen bei den künftigen regionalen Gesundheitszentren spielen könnten.