Nach aktueller Studienlage sind CD20-Antikörper (Ocrelizumab, off Label Rituximab) die einzige Option für die Therapie der primär progredienten MS. Nur Ocrelizumab hat eine Zulassung für diese Indikation (Abbildung 2). Doch auch für diese Arzneistoffe konnte eine signifikante Wirksamkeit nur für Patienten unter 45 oder 50 Jahren gezeigt werden, während mit zunehmendem Alter die Häufigkeit von Nebenwirkungen ansteigt (15, 16). Daher sollte eine Therapie mit CD20-Antikörpern nur dann bei Patienten jenseits des 50. Lebensjahres begonnen werden, wenn eine die Selbstständigkeit gefährdende Behinderung droht (1). Eine bisher gut verträgliche Therapie muss bei älteren Patienten nicht zwingend abgesetzt werden.
Abbildung 2: Therapiealgorithmus bei Patienten mit progredienter MS; modifiziert nach (1) / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Da Arzneistoffe mit Zulassung für die sekundär progrediente MS in der Regel nur bei aktiver Erkrankung wirksam sind, muss vor Therapiebeginn eine entsprechende Klassifizierung (aktiv/nicht aktiv) erfolgen. Bei aktiver SPMS können Siponimod (oral), Beta-Interferone, Cladribin oder CD20-Antikörper zum Einsatz kommen (Abbildung 2). Am besten ist die Wirksamkeit bei jungen Patienten mit kurzer Krankheitsdauer, geringerem Behinderungsgrad, die Grundprogression überlagernden Schüben oder schneller Zunahme der Behinderung sowie hoher Entzündungsaktivität.
Bei nicht aktiver SPMS erhält der Patient keine Immuntherapie, sondern eine regelmäßige MRT-Kontrolle und klinische Verlaufskontrolle (1).
Es gibt Patienten, die vor der Immuntherapie nur eine geringe Krankheitsaktivität hatten und unter der Therapie mit Wirkstoffen der Kategorie 1 jahrelang keine Krankheitsaktivität zeigen. Falls diese es wünschen, kann nach mindestens fünf Jahren Therapiedauer ein Absetzen versucht werden. Für andere Konstellationen gibt es leider kaum Daten zur Beendigung einer Therapie, sodass die Leitlinienautoren hier keine Empfehlung geben. Arzt und Patient müssen individuell entscheiden.
Bei einem Absetzversuch sollte der Arzt nach sechs und zwölf Monaten eine Verlaufskontrolle veranlassen und bei Wiederauftreten von Krankheitsaktivität die Immuntherapie wieder verordnen.
Besonders bei Beenden der Therapie mit Fingolimod (und eventuell auch den neueren S1P-Modulatoren) und Natalizumab ist ein schnelles Wiederaufflammen der Krankheitsaktivität beschrieben. Dies müssen Arzt und Patient beim Absetzen beachten (1).

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Die neue MS-Leitlinie (1) behandelt auch die deutlich seltener auftretenden, mit MS verwandten Pathologien Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen.
NMOSD betreffen in Deutschland circa 1500 bis 2000 Personen, Frauen sind deutlich häufiger betroffen. Der Erkrankungsbeginn liegt später als bei MS. Meist sind das Rückenmark und der Sehnerv von den Entzündungen betroffen, die schubförmig auftreten und sich im Unterschied zur MS oft nicht vollständig zurückbilden. Kennzeichnend sind Autoantikörper gegen Aquaporin-4-Kanäle auf Astrozyten sowie hohe IL-6-Konzentrationen. Häufige Symptome sind Sehstörungen, Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen. Spezifisch für NMOSD zugelassen sind der gegen den Komplementfaktor C5 gerichtete Antikörper Eculizumab sowie der IL-6-Rezeptor-Antikörper Satralizumab, der seit Sommer 2021 im Handel ist.
MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen sind eine eigenständige Entität, die durch das Auftreten von Immunoglobulin-G-(IgG)-Antikörpern gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG-IgG) gekennzeichnet ist. Die Symptome sind ähnlich wie bei NMOSD, allerdings sind die Manifestationen weiter gefasst und umfassen beispielsweise auch Enzephalitiden. Es gibt keine kontrollierten Studien oder spezifisch für diese Erkrankungen zugelassenen Therapeutika. Eine Behandlung mit Beta-Interferonen, Glatirameroiden oder Alemtuzumab sollte vermieden werden, da diese keine oder sogar negative Wirkungen haben.