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Ursache für Long Covid?

SARS-CoV-2 kann im Gehirn überdauern

Noch mehr als acht Monate nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion kann das Coronavirus laut einer aktuellen Studie im Gehirn nachgewiesen werden. Möglicherweise liegt hier eine Ursache für Long Covid – und ein Behandlungsansatz.
Annette Rößler
15.12.2022  15:30 Uhr

Obwohl die Atemwege und die Lunge bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 am stärksten betroffen sind, ist Covid-19 keine reine Atemwegserkrankung. Das wurde in der Pandemie schon sehr früh klar. Wie hoch die Viruslast in Geweben außerhalb des Respirationstrakts ist und ob beziehungsweise wie schnell SARS-CoV-2 von dort nach einer akuten Infektion wieder vollständig verschwindet, war bisher aber noch wenig untersucht. Das hat ein Team um Sydney R. Stein von der US-Gesundheitsbehörde NIAID jetzt nachgeholt und berichtet über seine Ergebnisse im Fachjournal »Nature«.

Die Wissenschaftler hatten 44 Patienten, die im ersten Jahr der Pandemie an oder mit Covid-19 gestorben waren, autopsiert und dabei in Gewebeproben aus 79 von 85 Körperregionen Virus-RNA nachgewiesen. Dazu zählte kardiovaskuläres, lymphatisches, gastrointestinales, renales, endokrines, reproduktives und muskuläres Gewebe.

Genanalysen der Virus-RNA aus verschiedenen Geweben belegten, dass es sich dabei um homogene Viruspopulationen handelte. Dies deuten die Autoren als klaren Hinweis darauf, dass sich SARS-CoV-2 über die Blutbahn im Körper verteilt, dass es also früh im Infektionsverlauf eine kurze virämische Phase geben muss. Andere Forscher hatten stattdessen vermutet, dass SARS-CoV-2 von infizierten Zellen, etwa Monozyten und Makrophagen, in Körperregionen außerhalb des Respirationstrakts getragen wird (»Cell Research« 2021, DOI: 10.1038/s41422-021-00523-8).

Virusreplikation, aber keine Entzündung

Die Gruppe um Stein konnte zeigen, dass eine Virusreplikation in vielen verschiedenen Gewebearten außerhalb der Atemwege früh im Infektionsverlauf einsetzen und mehrere Monate lang anhalten kann. Im Gegensatz zum Respirationstrakt, wo dies mit einer starken Entzündungsreaktion einherging, zeigte sich in Geweben außerhalb des Respirationstrakts aber keine anhaltende Entzündung.

Einen besonderen Fokus legten die Forscher auf die Untersuchung des Gehirns. Sie fanden SARS-CoV-2 im gesamten Gehirn von autopsierten Probanden, in einem Fall sogar noch 230 Tage nach Beginn der Symptome. Möglicherweise könnte eine anhaltende Virusreplikation im Gehirn und in anderen Geweben eine Erklärung für den sogenannten Brain Fog und andere Symptome des Long-Covid-Syndroms sein, vermutet Seniorautor Dr. Daniel Chertow. Es könnte daher sinnvoll sein, Long-Covid-Patienten mit Nirmatrelvir/Ritonavir (Paxlovid™) zu behandeln, heißt es in einer Pressemitteilung der NIAID.

Demnächst startet an der Duke University eine Phase-III-Studie, die genau das prüfen soll (NCT05595369). Für die auf ein Jahr angelegte Studie ist die Rekrutierung von 1700 Patienten angepeilt. Die placebokontrollierte, doppelblinde Paxlovid-Studie gehört zum RECOVER-Projekt (Researching Covid to Enhance Recovery), wie Dr. Stephen Hewitt National Cancer Institute (NCI) erklärt. Laut Hewitt werden in der RECOVER-Studie auch Autopsien von Personen ausgewertet, die gegen Covid-19 geimpft und mit besorgniserregenden Varianten (VOC) von SARS-CoV-2 infiziert waren.

Damit wird ein Nachteil der aktuellen Studie ausgeglichen, den die Autoren um Stein in der Diskussion selbst ansprechen: Die Teilnehmer waren größtenteils ältere, vorerkrankte und ungeimpfte Personen, außerdem zirkulierte zum Zeitpunkt der Studie noch das Wildtypvirus. Die Ergebnisse sind somit wohl nur mit Einschränkungen auf junge, gesunde und geimpfte Personen, die sich mit einer VOC infiziert haben, übertragbar. Gleichwohl glauben die Forscher, dass ihre Arbeit zu einem besseren Verständnis darüber beitragen kann, wie sich SARS-CoV-2 im Körper verbreitet und überdauert.

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