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Fostemsavir

Resistenzbrecher bei HIV-1-Infektion

Ein neues HIV-Medikament erweitert die Therapieoptionen für Patienten mit Multiresistenz: Fostemsavir. Es darf nie allein angewendet werden und auch nur dann, wenn kein anderes wirksames Therapieregime verfügbar ist.
Annette Rößler
06.05.2021  07:00 Uhr

Fostemsavir (Rukobia® 600 mg Retardtabletten, ViiV Healthcare) ist ein Prodrug, das von Dünndarmzellen durch alkalische Phosphatase zu seinem aktiven Metaboliten Temsavir verstoffwechselt wird. Temsavir wird gut resorbiert und bindet im Blut direkt an die gp120-Untereinheit des HIV-1-Hüllproteins gp160. Dadurch kann das Virus nicht mehr an den CD4-Rezeptor auf T-Helferzellen andocken und folglich auch nicht in diese eindringen. Aufgrund dieses Wirkmechanismus wird Fostemsavir als Pre-Attachment-Inhibitor bezeichnet.

Der neue Arzneistoff ist nicht gegen alle HI-Viren wirksam. Er wirkt ausschließlich gegen HIV-1-Viren der Gruppe M. Das ist kaum von Nachteil, weil diese 90 Prozent aller HIV-Infektionen ausmachen. Innerhalb der Gruppe M wird jedoch noch weiter in mehrere Subtypen unterteilt. So gibt es etwa den Subtyp CRF01_AE, der unter anderem in Südostasien vorherrscht. Gegen CRF01_AE ist Fostemsavir ebenfalls nicht wirksam. Da in Europa aber ein anderer Subtyp vorherrscht, nämlich der Subtyp B, ist dies für die meisten Patienten in Deutschland wahrscheinlich nicht relevant. Eine Typisierung des Erregers ist jedenfalls keine Voraussetzung für die Therapie.

Rukobia ist zur Behandlung von Erwachsenen mit multiresistenter HIV-1-Infektion bestimmt. Bei diesen darf es in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln eingesetzt werden, wenn kein anderes supprimierendes Behandlungsregime zur Verfügung steht. Die empfohlene Dosis beträgt 600 mg zweimal täglich. Die Retardtablette kann unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen werden und soll im Ganzen mit Wasser geschluckt werden. Eine versäumte Dosis soll nachgeholt werden, sobald der Patient sich daran erinnert; falls zu diesem Zeitpunkt bereits die nächste Dosis fällig ist, soll jedoch nicht die doppelte Menge eingenommen werden, sondern die Einnahme wie gewohnt fortgesetzt werden.

Wechselwirkungen beachten

Verschiedene pharmakokinetische Wechselwirkungen mit Temsavir sind möglich. Der Abbau erfolgt unter anderem über CYP3A4. Darüber hinaus ist Temsavir ein Substrat von P-Glykoprotein (p-gp) und dem Breast Cancer Resistance Protein (BCRP) sowie ein Inhibitor der organischen Anionentransporter OATP1B1/3. Die Fachinformation enthält daher eine lange Tabelle mit verschiedenen Wechselwirkungen. Eine Dosisanpassung ist aber lediglich in wenigen Fällen erforderlich.

Wird Tenofoviralafenamid (TAF) zusammen mit Fostemsavir gegeben, soll die TAF-Dosis nur 10 mg betragen. Dies ist bei den HIV-Kombinationspräparaten Genvoya® und Symtuza® der Fall, in Biktarvy® und Odefsey® ist TAF dagegen mit 25 mg zu hoch dosiert. Gleiches gilt für das TAF-Monopräparat Vemlidy®, das bei Hepatitis B eingesetzt wird. Von dem HIV-Kombinationspräparat Descovy® gibt es eine Variante mit 10 mg TAF und eine mit 25 mg.

Bei Rosuvastatin, Atorvastatin, Pitavastatin, Fluvastatin und Simvastatin kommt es zu einem Anstieg der Plasmakonzentration, wenn Fostemsavir gleichzeitig angewendet wird. Daher sollten diese Statine zusammen mit dem neuen Arzneistoff nur in der niedrigsten möglichen Initialdosis und bei sorgfältiger Überwachung auf Nebenwirkungen gegeben werden. Eine mögliche Alternative ist Pravastatin, das kein Substrat von BCRP ist.

Kontraindiziert ist die gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A-Induktoren wie Rifampicin, Carbamazepin und Johanniskraut mit Fostemsavir. Die Kombination mit starken CYP3A4-, BCRP- und/oder P-gp-Inhibitoren ist dagegen ohne Dosisanpassung möglich.

Temsavir erhöht die Plasmakonzentrationen von Ethinylestradiol und wahrscheinlich auch von direkt wirkenden antiviralen Arzneistoffen gegen das Hepatitis-C-Virus (HCV-DAA). Unter Rukobia soll daher die tägliche Ethinylestradiol-Dosis nicht mehr als 30 µg betragen; auf ein erhöhtes Thromboserisiko ist vor allem bei Frauen mit weiteren Risikofaktoren zu achten. Der Anstieg der HCV-DAA-Plasmakonzentration ist laut Fachinfo lediglich bei Grazoprevir klinisch relevant, sodass die Kombination von Rukobia mit Elbasvir/Grazoprevir (Zepatier®) nicht empfohlen wird, für andere HCV-DAA aber keine Einschränkungen bestehen.

Bei vierfacher Überdosierung wirkt Temsavir QTc-Zeit-verlängernd. Bei Patienten mit einer Verlängerung des QTc-Intervalls in der Vorgeschichte sowie bei gleichzeitiger Anwendung von anderen Arzneimitteln, die die Erregungsleitung im Herzen beeinflussen, ist daher Vorsicht geboten.

In der Schwangerschaft sollte die Gabe von Fostemsavir aus Vorsichtsgründen vermieden werden. Stillen sollten mit Fostemsavir behandelte Patientinnen unter keinen Umständen, weil HIV-infizierte Frauen generell nicht stillen sollten, um das HI-Virus nicht auf ihr Kind zu übertragen.

Rascher und anhaltender Rückgang der Viruslast

Wirksamkeit und Sicherheit von Fostemsavir wurden in der Phase-III-Studie BRIGHTE überprüft. Die 371 Teilnehmer waren stark vorbehandelt, wiesen eine Viruslast von ≥ 400 Kopien pro ml auf und hatten aufgrund von Resistenzen, Unverträglichkeiten, Kontraindikationen oder Sicherheitsbedenken nur noch höchstens zwei Klassen von antiretroviralen Arzneimitteln (ART) zur Verfügung. Die Probanden wurden aufgeteilt in eine randomisierte Kohorte (n = 272) und eine nicht randomisierte Kohorte (n = 99).

Die Teilnehmer der randomisierten Kohorte erhielten zunächst zusätzlich zu ihrem aktuellen, versagenden Regime über acht Tage verblindet entweder zweimal täglich 600 mg Fostemsavir oder Placebo – eine »funktionelle Monotherapie«, da das Hintergrundregime ja de facto unwirksam war. Nach acht Tagen wurden alle Patienten dieser Kohorte im offenen Design mit Fostemsavir plus einer optimierten Hintergrundtherapie (OBT) weiterbehandelt. Im Verlauf wurde die Viruslast erneut in Woche 24, Woche 48 und Woche 96 bestimmt.

Primärer Wirksamkeitsendpunkt war die Abnahme der Viruslast während der funktionellen Monotherapie mit Fostemsavir: Unter Verum sank diese im Mittel um 0,791 Log10 Kopien pro ml, unter Placebo dagegen nur um 0,166 Log10 Kopien pro ml und damit signifikant weniger. In Woche 24 war bei 53 Prozent der Patienten die Viruslast unter 40 Kopien pro ml gesunken, in Woche 48 bei 54 Prozent und in Woche 96 bei 60 Prozent.

Die Probanden der nicht randomisierten Kohorte hatten verglichen mit denen der randomisierten Kohorte eine schlechtere Ausgangslage. Ihnen standen beim Screening keine vollständig aktiven, zugelassenen ART mehr zur Verfügung. Sie erhielten in einem offenen Design ab Tag 1 zweimal täglich 600 mg Fostemsavir plus OBT. Nach 24, 48 beziehungsweise 96 Behandlungswochen erreichten von diesen Patienten 42, 43 beziehungsweise 39 Prozent eine Viruslast unter 200 Kopien pro ml.

Inflammatorisches Immunrekonstitutionssyndrom

Erhalten HIV-Patienten mit schwerem Immundefekt eine wirksame ART, können sie darauf innerhalb von Wochen oder Monaten mit einer überschießenden Entzündung reagieren. Das inflammatorische Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS) führt unter anderem zu einer vorübergehenden Verschlechterung von bestehenden opportunistischen Infektionen und kann einen schweren klinischen Verlauf nehmen. Ein IRIS wurde unter Fostemsavir in Studien häufig beobachtet und ist die schwerwiegendste Nebenwirkung.

Häufiger waren Durchfall, Kopfschmerzen, Übelkeit, Ausschlag, Abdominalschmerz und Erbrechen, die bei 24 bis 11 Prozent der Behandelten auftraten.

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