Eine unterschätzte Gefahr? |
27.08.2012 15:56 Uhr |
Von Iris Hinneburg / Jede Unterzuckerung ist für Menschen mit Diabetes akut gefährlich. Ob Hypoglykämien auch langfristige Schäden hervorrufen können, wird kontrovers diskutiert. Tipps aus der Apotheke können den Menschen helfen, die gefürchteten Ereignisse zu vermeiden.
Plötzlich bricht Schweiß aus, die Hände beginnen zu zittern: Zeichen einer Hypoglykämie. Diese gehört bei Menschen mit Diabetes mellitus zu den häufigsten akuten Komplikationen der Behandlung. Nach den klassischen Kriterien, der sogenannten »Whipple-Trias«, liegt eine Hypoglykämie vor, wenn bei niedrigem Blutzuckerspiegel typische Symptome auftreten (Tabelle), die durch Zufuhr von Glucose wieder verschwinden (1).
Art der Symptome | Manifestation |
---|---|
autonom | Schwitzen, Zittern, Heißhunger, Herzklopfen |
neuroglykopenisch | Gedankenflucht, Fahrigkeit, Wortfindungsstörungen, Redseligkeit (Logorrhoe), Reizbarkeit, Sehstörungen, Schläfrigkeit, Schwindel, Koordinationsstörungen im fortgeschrittenen Stadium: Krämpfe, eingeschränkte Handlungsfähigkeit, eingeschränktes Bewusstsein bis hin zur Bewusstlosigkeit |
allgemein | Übelkeit, Kopfschmerzen |
Welche Werte als »niedriger Blutzuckerspiegel« gelten, ist nicht einheitlich definiert. So liegt der Grenzwert in einer Definition der American Diabetes Association bei 70 mg/dl (3,89 mmol/l); andere Fachgesellschaften und Forschergruppen setzen niedrigere Werte an (2).
Die Grenze von 70 mg/dl orientiert sich an den Gegenregulationsmechanismen von stoffwechselgesunden Menschen. Bei Nicht-Diabetikern stoppt die Bauchspeicheldrüse ab Blutzuckerwerten von 80 bis 85 mg/dl die Sekretion von Insulin. Sinkt der Glucosespiegel weiter, setzt bei Werten von 65 bis 70 mg/dl die hormonelle Gegenregulation ein. Durch Ausschüttung von Glucagon und Catecholaminen steigt bei Stoffwechselgesunden der Blutzucker wieder an, sodass praktisch keine schweren Hypoglykämien auftreten. Bei niedrigen Blutzuckerwerten werden auch vermehrt Cortisol und Wachstumshormon freigesetzt (15).
Fixe Grenzwerte festzulegen ist nicht sinnvoll. Symptome einer Unterzuckerung können schon bei deutlich höheren Werten, etwa bei einer lange bestehenden Hyperglykämie, oder erst bei deutlich niedrigeren Glucosewerten, zum Beispiel bei einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung, auftreten. Für die Praxis relevant ist die Unterscheidung, ob der Patient die Stoffwechselentgleisung selbst beheben kann (milde Hypoglykämie) oder auf fremde Hilfe angewiesen ist (schwere Form). Diabetologen sprechen von asymptomatischer Hypoglykämie, wenn sich trotz niedriger Blutzuckerspiegel keine spezifischen Symptome bemerkbar machen.
Auch die Einteilung in leichte, mittelschwere und schwere Hypoglykämien wird gelegentlich verwendet. Bei einer leichten Unterzuckerung kann sich der Diabetiker selbst helfen, bei einer mittelschweren ist er zwar auf fremde Hilfe angewiesen, kann Glucose oder andere Zuckerarten aber peroral aufnehmen. Eine parenterale Behandlung mit Glucagon oder Glucose ist bei einer schweren Hypoglykämie notwendig, bei der der Patient bewusstlos ist oder unter einem eingetrübten Bewusstsein leidet (15).
Vielfältige Symptome
Die typischen Unterzuckerungssymptome entstehen durch die Reaktion des Körpers auf die niedrigen Blutzuckerspiegel. Sinkt die Blutglucose, wird der Sympathikus aktiviert. Catecholamine und Glucagon werden freigesetzt. Die Hormone stimulieren in der Leber die Produktion und Freisetzung von Glucose. Durch die Sympathikusaktivierung treten die autonomen Warnsymptome wie Schwitzen, Zittern oder Herzklopfen auf (Tabelle).
Auch im zentralen Nervensystem macht sich der niedrige Blutzuckerspiegel bemerkbar. Die neuroglykopenischen Symptome, etwa Konzentrationsstörungen oder Schwindel, entstehen durch den Glucosemangel im Gehirn. Bei noch niedrigeren Werten kommt es zu Krämpfen und Bewusstlosigkeit (1). Welche Symptome tatsächlich auftreten und wie stark sie ausgeprägt sind, kann individuell sehr unterschiedlich sein (Kasten).
Gestörte Wahrnehmung
Bei Menschen mit Diabetes können Hypoglykämie-Symptome auch auftreten, wenn der Blutzuckerspiegel über längere Zeit stark erhöht war und dann in den normnahen Bereich gesenkt wird. Diese »Pseudohypoglykämie« kann zu Beginn der Therapie eine bis zwei Wochen anhalten, bis sich der Körper an die neuen, niedrigeren Blutzuckerwerte gewöhnt hat (1).
K. K., 33, Diabetikerin seit ihrem 12. Lebensjahr
Bei einer Unterzuckerung fühle ich mich zittrig und energielos. Diese kommen bei mir vor, wenn ich tagsüber viel Stress hatte oder mich viel bewegt habe, wenig Zeit hatte zu essen und den Blutzucker zu messen. Saft finde ich angenehmer als die Traubenzuckerplättchen, für den Notfall habe ich die aber immer dabei. Glucose-Gele finde ich eher eklig. Bei nächtlichen Unterzuckerungen habe ich Schweißausbrüche und werde davon wach. Schwere Hypos hatte ich noch nicht, auch die Glucagon-Spritze musste ich noch nie benutzen. Bisher habe ich nicht bemerkt, dass sich die Symptome der Unterzuckerung im Lauf der Jahre verändert hätten. Mein tiefster gemessener Blutzuckerwert lag bei 20 mg/dl. Tagsüber habe ich Unterzuckerungen etwa einmal im Monat, nachts drei- bis viermal pro Jahr. Mein letzter HbA1c-Wert lag bei 6,8 Prozent.
E. D., 67, Diabetiker seit 20 Jahren
Dass ich Diabetes habe, wurde eher zufällig festgestellt, weil eine Operationswunde am Zeh schlecht verheilt ist. Insulin spritze ich seit etwa zehn Jahren, vorher bekam ich Tabletten. Folgeschäden habe ich an den Nerven und am Auge, letztes Jahr habe ich eine neue Niere bekommen. Unterzuckerungen habe ich etwa einmal im Monat, tagsüber häufiger als nachts. Ich bemerke sie am Schwitzen und Zittern, außerdem fühle ich mich schlapp. Die Symptome sind in den letzten Jahren schwächer geworden. Sie treten schon auf, wenn der Blutzucker zwischen 70 und 80 mg/dl liegt. Bewusstlos war ich dabei noch nie. Erklären kann ich mir die Hypos nicht immer, häufig haben sie mich überrascht. Mein tiefster gemessener Wert lag bisher bei 48 mg/dl. Mein letzter HbA1c-Wert lag bei 6,1 Prozent, früher hatte ich Werte bis 10 Prozent. Eine Unterzuckerungsepisode ist mir im Gedächtnis geblieben: Ich war zu Fuß unterwegs zur Arbeit. Plötzlich wurde die Straße ganz eng, die Häuser sahen sehr hoch und gelb aus. Ich wusste, dass es eine Wahrnehmungsstörung ist und dachte: Jetzt musst du schnell zur Arbeit und eine Cola trinken, denn ich hatte keinen Traubenzucker dabei. Vor dieser Episode hatte ich wahrscheinlich zu viel Insulin gespritzt.
Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Je häufiger Hypoglykämien auftreten, desto schwächer werden die Symptome und die hormonelle Gegenregulation. Dafür sind verschiedene Mechanismen verantwortlich.
Häufige Hypoglykämien erhöhen die Zahl der Glucosetransporter an den Gehirnkapillaren; damit steigt der Glucosetransport ins Gehirn. Auch alternative Energiesubstrate wie Lactat oder Ketone werden leichter aufgenommen. Damit kann das Gehirn trotz niedriger Blutzuckerspiegel in der Peripherie die Energieversorgung noch eine Weile aufrechterhalten. Die sympathische Gegenregulation wird nicht aktiviert.
Wenn diese Kompensationsmechanismen bei weiter sinkenden Blutzuckerspiegeln nicht mehr ausreichen, äußert sich der Energiemangel im Gehirn sehr schnell. So kann es passieren, dass Diabetiker mit einer Wahrnehmungsstörung für Hypoglykämien diese erst lange nicht bemerken und dann nicht mehr in der Lage sind, selbst aktiv zu werden. Daher ist bei einer Wahrnehmungsstörung das Risiko für schwere Hypoglykämien besonders groß (1).
Nicht zu hoch und nicht zu niedrig: Ein Blutzuckertagebuch hilft vielen Menschen, ihren Diabetes besser zu kontrollieren. Zudem erkennen sie mögliche Ursachen einer Hypoglykämie, zum Beispiel eine zu hohe Insulindosis, leichter.
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Wenn die Sympathikus-vermittelten Warnsymptome fehlen oder verspätet einsetzen, spricht man vom Syndrom des »Hypoglykämie-assoziierten autonomen Versagens«. Dann kann eine Schulung zur Verbesserung der Hypoglykämie-Wahrnehmung sinnvoll sein. Programme wie BGAT (Blood glucose awareness training) oder HyPOS schulen die Teilnehmer, ihre individuellen Symptome einer Unterzuckerung zu erkennen. Sie lernen, gezielt nach den Ursachen niedriger Blutzuckerwerte zu suchen und die Therapie zu optimieren. Häufig hilft dabei ein Hypoglykämie-Tagebuch.
Gegenregulation vermindert
Auch die hormonelle Gegenregulation kann gestört sein. Ein wichtiger Mechanismus, um den Blutzuckerspiegel zu erhöhen, ist die Ausschüttung des Hormons Glucagon, das in der Leber die Freisetzung von Glucose aus Glykogen (Glykogenolyse) und die Gluconeogenese aus Aminosäuren und Laktat anregt.
Glucagon wird ausgeschüttet, wenn die Blutzuckerwerte und damit die Insulinspiegel abfallen. Wenn Diabetiker Insulin spritzen oder Antidiabetika einnehmen, die die Insulinausschüttung stimulieren, liegen die Insulinspiegel aber auch bei niedriger Blutglucose auf hohem Niveau. Damit fehlt ein wichtiger Anreiz für die Glucagon-Sekretion. Dadurch entstehen bei Menschen mit Diabetes leichter Hypoglykämien, die stärker ausgeprägt sind und länger anhalten (1).
Bei älteren Menschen sowie bei einer autonomen diabetischen Neuropathie ist die Gegenregulation ebenfalls häufig verlangsamt. Eine diabetische Gastroparese, bei der die Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt nicht zuverlässig funktioniert, begünstigt postprandiale Hypoglykämien. Das vor oder zur Mahlzeit gespritzte Insulin wirkt bereits, aber die Glucose aus der Mahlzeit ist noch nicht im Blut angekommen (3).
Problem nächtliche Hypoglykämien
Mehr als die Hälfte der schweren Unterzuckerungen treten während des Nachtschlafs auf. Schlafen senkt die Schwelle des Blutzuckers, ab der Catecholamine ausgeschüttet werden. Da der Anstieg der Catecholamine ein wesentlicher Aufwachreiz ist, kann es – besonders bei gestörter Gegenregulation – passieren, dass die Patienten bei einer nächtlichen Unterzuckerung nicht aufwachen.
Wer intensiv Sport treibt, muss seinen Blutzucker vor, während und nach dem Training messen.
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Menschen mit Diabetes sollten auf Zeichen einer unbemerkten nächtlichen Hypoglykämie achten: sehr hohe Nüchtern-Blutzuckerspiegel morgens, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Albträume und nächtliche Schweißausbrüche. Dann ist es sinnvoll, gelegentlich auch nachts (etwa zwischen drei und vier Uhr) den Blutzucker zu messen, um die Therapie anpassen zu können (1).
Wie gefährlich sind Hypoglykämien?
Unterzuckerungen können Diabetiker akut direkt und indirekt gefährden. Selbst eine leichte Hypoglykämie kann – wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird – zu Koma, Krämpfen und sogar zum Tod führen (2).
Indirekt sind die Patienten gefährdet, wenn der Blutzuckerabfall etwa beim Autofahren oder bei der Arbeit an Maschinen auftritt. Bei älteren Patienten steigt das Risiko für Stürze. Das gilt auch bei Kindern, wenn sie etwa beim Spielen an einem Klettergerüst eine Unterzuckerung erleiden, die Symptome nicht richtig einordnen und nicht schnell genug reagieren können. Das ist besonders bei Kleinkindern der Fall.
Über die langfristigen Folgen wiederkehrender Unterzuckerungen, etwa im Hinblick auf ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Demenz, diskutieren Experten kontrovers. Durch die Ausschüttung von Catecholaminen bei einer Hypoglykämie steigen Blutdruck, Herzfrequenz und damit der Sauerstoffbedarf des Herzens. Diese Veränderungen sieht der Arzt auch im EKG, sogar noch bis zu 24 Stunden, nachdem sich der Blutzuckerspiegel wieder normalisiert hat. Deshalb halten viele Fachleute Hypoglykämien für ein kardiovaskuläres Risiko.
Als Beleg für diese These werden die Ergebnisse von großen Diabetes-Studien angeführt (wie ACCORD, ADVANCE und VADT), bei denen in den Patientengruppen mit starker Blutzuckersenkung mehr schwere Hypoglykämien, mehr kardiovaskuläre Todesfälle sowie eine erhöhte Sterblichkeit auftraten (4). Allerdings könnten die Hypoglykämien eher ein Marker für einen schlechten Gesundheitszustand als die Ursache für die erhöhte Mortalität sein (5).
Kurzfristig kann eine Hypoglykämie die kognitiven Funktionen beeinträchtigen. Umstritten ist, ob sie auch langfristige Auswirkungen auf die Funktion des Gehirns und die Entwicklung einer Demenz hat. Bei erwachsenen Typ-1-Diabetikern gibt es bisher keine eindeutigen Belege dafür, dass Hypoglykämien langfristig die kognitiven Funktionen einschränken (2). Ob schwere Unterzuckerungen bei Kindern einen stärkeren Einfluss auf die Gehirnfunktion haben als eine schlechte Stoffwechseleinstellung, wird kontrovers diskutiert (6, 7).
Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes haben epidemiologische Studien widersprüchliche Ergebnisse gezeigt: Zwar hatten in einer Studie zu Beginn Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen mehr Hypoglykämien in der Anamnese, doch ließ sich im weiteren Verlauf der Studie nicht nachweisen, dass schwere Hypoglykämien das Auftreten einer Demenz oder einer anderen kognitiven Beeinträchtigung fördern (8). Eine zweite Studie fand dagegen bei Typ-2-Diabetikern mit einer oder mehreren Episoden von schweren Unterzuckerungen ein erhöhtes Demenzrisiko (9). Das Studiendesign lässt aber keine eindeutige Aussage zu Ursache und Wirkung zu.
Haushalts- und, noch besser, Traubenzucker eignen sich zur Sofortbehandlung einer Hypoglykämie.
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Experten vermuten, dass bei kognitiven Störungen mehr Hypoglykämien auftreten und umgekehrt diese die kognitive Funktion einschränken können. Wahrscheinlich wird im höheren Lebensalter die Funktion des Gehirns durch schwere Hypoglykämien mehr beeinträchtigt als bei jüngeren Erwachsenen (10).
Antidiabetika mit Risiko
Das Risiko für Hypoglykämien hängt auch von der Medikation ab. Bei den antidiabetischen Arzneistoffen sind es vor allem Insulin, Sulfonylharnstoffe und Glinide, die Hypoglykämien auslösen können. Metformin, α-Glucosidasehemmer, Insulin-Sensitizer (Pioglitazon) und die inkretinbasierten Wirkstoffe (Inkretin-Mimetika und Gliptine) bergen dagegen kein klinisch relevantes Risiko. Das Risiko für leichte oder mittelschwere Hypoglykämien ist unter der Therapie mit Sulfonylharnstoffen etwa vier- bis fünfmal so hoch wie bei Metformin oder einem Glitazon (11).
Theoretisch sollten die kürzer wirksamen Glinide im Vergleich zu den Sulfonylharnstoffen seltener Unterzuckerungen verursachen. In Studien konnte dies nicht zweifelsfrei belegt werden (12). Innerhalb der Sulfonylharnstoffe scheint Glibenclamid ein höheres Risiko für Hypoglykämien aufzuweisen als etwa Glipizid oder Gliclazid. In der Praxis beeinflussen allerdings andere Faktoren wie die Adhärenz des Patienten oder Interaktionen das Unterzuckerungsrisiko stärker als die Unterschiede in der Pharmakologie der einzelnen Sulfonylharnstoffe (13).
Die in manchen Studien gezeigten Unterschiede in den Hypoglykämie-Raten verschiedener Insuline sind umstritten. So ist nicht eindeutig geklärt, ob Insulinanaloga bei Typ-1-Diabetikern seltener Hypoglykämien verursachen als Humaninsulin. Zwar gibt es einzelne Hinweise aus Studien, doch waren diese von der Fallzahl her nicht darauf angelegt, diese Unterschiede nachzuweisen (2).
Konzentrationsstörungen und Schwindel können Anzeichen einer Hypoglykämie sein. Dann ist rasches Handeln nötig.
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Bei Typ-2-Diabetikern treten unter kurz wirksamen Insulinanaloga ähnlich häufig Hypoglykämien auf wie unter kurz wirksamem Humaninsulin. Die lang wirksamen Insulinanaloga Detemir und Glargin verursachen bei Typ-2-Diabetikern weniger nächtliche Ereignisse. Ob auch weniger schwere Hypoglykämien auftreten, kann nach derzeitiger Studienlage nicht sicher beurteilt werden (12).
Das neue Insulinanalogon Degludec könnte nach den Ergebnissen von Phase-III-Studien sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2-Diabetikern das Risiko für nächtliche Hypoglykämien im Vergleich zu Insulin Glargin verringern. Allerdings lassen die veröffentlichten Studien die Frage offen, ob die relativ geringen Unterschiede tatsächlich einen klinisch relevanten Vorteil für die Patienten bringen (17).
Normnah einstellen?
Oftmals ist es zur Vermeidung von Spätkomplikationen sinnvoll, Blutzuckerwerte im normnahen Bereich anzustreben. Damit steigt aber das Risiko für Hypoglykämien. Daher ist es wichtig, die Blutzuckerziele immer individuell auf den Patienten abzustimmen. So kann es bei häufigen Hypoglykämien, Wahrnehmungsstörungen oder besonderen Patientengruppen, zum Beispiel alten Menschen, notwendig sein, die Zielwerte vorübergehend oder dauerhaft anzuheben.
Glucagon wird bei Hypoglykämien angewendet, wenn der Patient bewusstlos ist. Das Fertigarzneimittel beinhaltet eine Ampulle mit lyophilisiertem Pulver zusammen mit einer Fertigspritze mit Lösungsmittel. Das Lösungsmittel wird in die Ampulle gespritzt, dann das Pulver aufgelöst.
Der Helfer zieht die fertige Lösung in die Spritze auf und spritzt sie dem bewusstlosen Diabetiker in Oberarm, Oberschenkel oder Gesäß. Dies ist auch durch die Kleidung möglich. Der Apotheker sollte Angehörige dazu ermutigen, im Notfall die Glucagon-Spritze zu verwenden. Man kann dem Patienten damit nicht schaden! Da das Arzneimittel nur begrenzt haltbar ist, ist es notwendig, das Notfallset regelmäßig auszutauschen.
Werden normnahe Blutzuckerwerte angestrebt, muss der Patient den Blutzuckerspiegel regelmäßig überprüfen, um eine mögliche Unterzuckerung zeitnah erkennen und schnell behandeln zu können. Menschen mit Diabetes sollten Blutzuckerwerte unter 70 mg/dl (4,0 mmol/l) möglichst vermeiden (6, 12, 14).
Behandlung im Akutfall
Bei einer Hypoglykämie sollte der Patient zwei bis drei Kohlenhydrateinheiten an schnellen Kohlenhydraten zu sich nehmen. Das sind zum Beispiel vier Täfelchen Traubenzucker oder 200 ml zuckerhaltige Limonade oder Fruchtsaft. Bei schweren Hypoglykämien ist er dabei auf fremde Hilfe angewiesen. Grundsätzlich gilt: »erst essen, dann messen« (Grafik).
Schnell verfügbar ist Glucose in Form von Traubenzuckertäfelchen, entsprechenden Flüssigpräparaten oder Gelen. Auch zuckerhaltige Limonaden oder Säfte sind geeignet. Keine Light-Getränke! Diese enthalten Süßstoffe statt Zucker. Unter einer Therapie mit α-Glucosidasehemmern (Acarbose, Miglitol) kann man die Unterzuckerung nur mit Glucose behandeln, da die Arzneistoffe die Aufspaltung von Disacchariden hemmen.
Schokolade oder andere fettreiche Süßigkeiten sind zur Soforttherapie nicht geeignet, da Fett die Resorption der Kohlenhydrate behindert. Wichtig ist es, nach den schnellen Kohlenhydraten noch komplexe Kohlenhydrate wie Brot oder Kekse zu essen, um den Blutzucker zu stabilisieren und die Glykogenspeicher wieder aufzufüllen.
Ist der Patient bewusstlos, muss man den Notarzt rufen (Grafik). Hypoglykämien sind lebensbedrohliche Notfälle! Ersthelfer dürfen einem Bewusstlosen weder feste Speisen noch Flüssigkeiten einflößen, sonst droht Ersticken. Eine wichtige Erste-Hilfe-Maßnahme ist die subkutane Applikation von Glucagon aus dem Notfall-Kit (Kasten). Der Notarzt spritzt intravenös Glucose und veranlasst bei Bedarf eine stationäre Behandlung.
Bei einem bewusstlosen Patienten mit bekanntem Diabetes liegt sehr wahrscheinlich eher eine Hypoglykämie als ein hyperglykämisches Koma vor. Unterscheiden lassen sich die beiden Zustände auch dadurch, dass sich bei einer Hyperglykämie das Bewusstsein im Lauf von Stunden oder Tagen eintrübt, während ein hypoglykämisches Koma deutlich schneller eintritt. Im Zweifelsfall ist es besser, von einer Hypoglykämie auszugehen und Glucagon zu verabreichen, denn es ist lebensgefährlich, eine massive Unterzuckerung nicht zu behandeln (16).
Therapiefehler vermeiden
Zu den wichtigsten Ursachen für Hypoglykämien gehören Therapiefehler. Unterzuckerungen treten häufig auf, wenn der Glucoseverbrauch steigt, etwa bei sportlicher Aktivität. Je nach Dauer und Intensität der körperlichen Betätigung müssen vorher sowohl die basale als auch die prandiale Insulindosis angepasst werden. Der Ausgangsblutzucker sollte bei mindestens 120 mg/dl (6,6 mmol/l) liegen. Ansonsten gilt: besser noch Kohlenhydrate aufnehmen.
Schema zur Ersten Hilfe bei Hypoglykämien, modifiziert nach (2)
Da die Muskulatur bei körperlicher Aktivität besser durchblutet wird, steigt auch die Resorptionsrate von intramuskulär injiziertem Insulin. Deshalb sollte Insulin vor dem Sport besser subkutan gespritzt werden. Bei sehr intensiver sportlicher Aktivität kann es nach einiger Zeit zu sogenannten Späthypoglykämien kommen, wenn der Körper die Glykogenspeicher der Muskulatur wieder auffüllt. Deshalb sollten Diabetiker vor, während und nach dem Sport regelmäßig ihren Blutzucker messen (6).
Umgekehrt können Hypoglykämien auch bei vergessenen Mahlzeiten oder Magen-Darm-Infekten auftreten, wenn der Diabetes-Patient die Dosis der Medikamente nicht anpasst. Auch Alkohol kann die Ursache sein: Alkohol wirkt selbst blutzuckersenkend. Außerdem hemmt er die Gluconeogenese in der Leber und damit die Gegenregulation bei einer Hypoglykämie. Dieser Effekt kann einige Stunden anhalten (1). Vor allem Insulin-pflichtige Diabetiker sollten Alkohol nur in Verbindung mit einer kohlenhydrathaltigen Mahlzeit trinken (12).
Bei Nierenkranken muss der Arzt die Dosierung der Antidiabetika reduzieren, da sich besonders bei Insulin und Sulfonylharnstoffen die Halbwertszeit verlängert. Ein erhöhtes Risiko für Unterzuckerung besteht bei Nieren- oder Leberinsuffizienz auch deshalb, weil Leber und Niere an der Gluconeogenese beteiligt sind und bei einer Insuffizienz nicht genügend Glucose bereitsteht. Das gilt auch bei hormonellen Erkrankungen mit Einfluss auf den Blutzuckerspiegel, etwa einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz oder Hypophysenvorderlappeninsuffizienz (1). Bei diesen Erkrankungen ist die Synthese von Cortisol gestört, das den Blutzuckerspiegel anheben kann.
Pharmazeutische Beratung
Blutzuckerprobleme können auch entstehen, wenn Patienten ihre Insulinarten verwechseln, Insulin zur falschen Zeit spritzen oder die Dosis zu hoch wählen. Gerade bei älteren Kunden sollte der Apotheker regelmäßig nachfragen, wie sie mit ihrer Insulintherapie zurechtkommen.
Bei Verwendung verschiedener Insulinarten ist es hilfreich, wenn sich die Pens ausreichend unterscheiden, etwa in der Farbe. Ein Spritzplan mit farbigen Markierungen erleichtert dem Patienten dann die Übersicht, wann er welchen Pen benutzen muss. Bei eingeschränktem Sehvermögen sind Pens mit großer Anzeige sowie deutlichen Klickgeräuschen beim Einstellen der Dosis sinnvoll.
Ältere Menschen sind besonders gefährdet für Hypoglykämien, vor allem wenn sie mehrere Arzneimittel einnehmen, unregelmäßig essen und Warnsymptome nicht mehr wahrnehmen oder benennen können.
Foto: Superbild
Viele Patienten applizieren ihr Insulin heute mit Pens. Für den Fall, dass der Pen defekt ist oder verloren geht, sollten sie Ersatzpens und/oder Insulinspritzen vorrätig haben. Der Apotheker sollte unbedingt darauf hinweisen, dass für eine korrekte Dosierung die Insulinlösung aus dem Pen nur mit Spritzen aufgezogen werden darf, die für U100-Insuline graduiert sind.
Kinder besonders gefährdet
Kinder, vor allem bis zum fünften Lebensjahr, sind besonders gefährdet, eine Hypoglykämie zu erleiden. Bewegung lässt sich bei ihnen schlecht planen und Eltern können nicht immer zuverlässig abschätzen, wie viel ihr Kind bei den Mahlzeiten tatsächlich isst. Kleinkinder können Anzeichen einer Unterzuckerung in der Regel noch nicht selbst kommunizieren. Eltern müssen hier besonders aufmerksam sein.
Neben den klassischen Warnzeichen kann sich eine Unterzuckerung bei Kindern auch durch eine plötzliche Wesensveränderung bemerkbar machen: Sie werden aggressiv, albern herum oder fallen durch Weinerlichkeit oder besondere Anhänglichkeit auf (15). Kinderdiabetologen raten bei kleinen Kindern häufig zu einer Insulinpumpe, da sich die Insulindosis damit kleinschrittig und zeitnah – je nach Modell auch per Fernsteuerung – anpassen lässt. Das gilt vor allem, wenn trotz einer intensivierten Insulintherapie häufige, schwere oder nächtliche Hypoglykämien auftreten (6).
Erhöhtes Risiko bei Senioren
Ältere Menschen haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko für schwere Hypoglykämien. Dies gilt vor allem, wenn sie viele Medikamente einnehmen, nicht regelmäßig essen oder ihre Nierenfunktion eingeschränkt ist.
Problematisch ist, dass die Symptome einer Unterzuckerung im Alter schwächer werden. Bei Senioren kann sich eine Hypoglykämie auch durch Schwäche, Schwindel, verwaschene Sprache und Verwirrtheit äußern. Nicht immer denken Angehörige und Patienten dann an eine Stoffwechselentgleisung. Der Apotheker sollte besonders aufmerksam sein, wenn Diabetiker oder ihre Angehörigen solche Symptome schildern.
Besonders schwierig sind die Anzeichen einer Unterzuckerung bei Demenzpatienten zu erkennen. Diese haben aber durch ihren Bewegungsdrang und die schlecht vorhersehbare Nahrungsaufnahme häufig ein erhöhtes Risiko für Hypoglykämien.
Unterzuckerungen gehören zu den häufigsten Ursachen für eine Krankenhauseinweisung bei Älteren und führen nicht selten zu Stürzen. Um das Risiko zu verringern, sollte der Arzt die Zielwerte der Diabetestherapie überprüfen. Gerade bei älteren Patienten ist es nicht immer sinnvoll, den Blutzucker normnah zu senken (14).
Interaktionsrisiko prüfen
Auch Interaktionen können das Risiko für Hypoglykämien erhöhen. Darauf sollte das Apothekenteam die Patienten hinweisen. So senken Salicylate in Dosierungen von 2 bis 3 g den Blutzuckerspiegel, indem sie unter anderem die Freisetzung von Insulin erhöhen und die Lipolyse beeinflussen. Dadurch verbessert sich die Glucosetoleranz. Die ABDA-Datenbank weist darauf hin, dass Menschen mit Diabetes unter einer hoch dosierten Salicylattherapie regelmäßig den Blutzucker messen und die Medikation bei Bedarf anpassen sollten.
Klinisch wesentlich relevanter ist die Interaktion mit Betablockern, die die sympathikusvermittelte Gegenregulation bei einer Hypoglykämie beeinflussen. Vor allem unselektive Betablocker »maskieren« die typischen Warnzeichen Zittern und Herzklopfen (über eine Blockade der β1-Rezeptoren) und verzögern den Blutzuckeranstieg (über Hemmung der β2-Rezeptoren in der Leber). Die Symptome Schwitzen und Heißhunger verstärken sich meist, da sie nicht über adrenerge, sondern cholinerge Rezeptoren vermittelt werden.
Für Diabetespatienten sind β1-selektive Betablocker besser geeignet, da sie in niedriger Dosierung die Glucosebildung und -freisetzung in der Leber nicht beeinflussen. In höheren Dosen verliert sich die Selektivität. Auf jeden Fall sollte der Apotheker die Patienten informieren, dass sich die Anzeichen einer Unterzuckerung verändern können. Die Interaktion kann auch bei Augentropfen mit Betablockern auftreten.
Weitere Arzneistoffe wie Fibrate oder einige Antibiotika können die Wirksamkeit von Antidiabetika verstärken. Daher empfiehlt sich ein ausführlicher Interaktionscheck, um das Risiko für Hypoglykämien rechtzeitig zu erkennen. Gerade zu Beginn oder zum Ende einer Therapie mit entsprechenden Arzneistoffen ist es sinnvoll, den Blutzuckerspiegel häufiger als sonst zu messen. /
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Iris Hinneburg studierte Pharmazie an der Philipps-Universität, Marburg, und wurde an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg, promoviert. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre in Halle und Helsinki (Finnland) arbeitet sie heute freiberuflich als Medizinjournalistin. Ihr Schwerpunkt ist die pharmazeutische Fortbildung. Sie ist Autorin der Bücher »Beratungspraxis Diabetes mellitus« und »Beratungspraxis Schilddrüsenerkrankungen« und produziert die Podcasts »3 Minuten Fortbildung« und gemeinsam mit Elisabeth Thesing-Bleck »Die seniorengerechte Apotheke«.
Dr. Iris Hinneburg, Wegscheiderstraße 12, 06110 Halle (Saale), E-Mail: medizinjournalistin(at)gmx.net, http://medizinjournalistin.blogspot.com
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