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Nahrungsergänzung

Gesundheit zum Schlucken?

Jeder dritte Deutsche konsumiert Nahrungsergänzungsmittel – insgesamt im Wert von einer Milliarde Euro jährlich. Die PZ sprach mit Apothekerin Christine Gitter über Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente und ihr neues Buch: »Ist das gesund oder kann das weg?«
Ulrike Abel-Wanek
06.07.2020  08:00 Uhr

PZ: Sie haben ein 300 Seiten dickes Buch über das Für und Wider von Nahrungsergänzungsmitteln geschrieben. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Gitter: Dass man wissen muss, was man da schluckt. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Nahrungsergänzungsmittel. Wo sie Sinn machen, empfehle ich sie. Wir alle brauchen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, ohne die geht es nicht. Aber man sollte die individuelle Situation betrachten, herausfinden, was einem wirklich fehlt und Nahrungsergänzungen nicht mit der Gießkanne verteilen. Lange Zeit sind wir beispielsweise mit Vitamin B12 recht großzügig umgegangen und jetzt gibt es Hinweise darauf, dass ein Zuviel davon Lungenkrebs begünstigen kann.

PZ: Kann es bei dem Überangebot an Nahrungsmitteln in den westlichen Industrieländern überhaupt ein Defizit an Nährstoffen geben, wenn man gesund ist?

Gitter: Theoretisch können wir alles, was wir brauchen, über die Nahrung zu uns nehmen. Praktisch muss man genauer hinschauen. Durch chronische Entzündungen oder starken Stress, und wer hat den heutzutage nicht, entstehen eine Menge freie Radikale, die die Zellen schädigen können. Hier sollte man von außen gegebenenfalls mit Antioxidanzien gegenregulieren.

Freie Radikale bilden aber auch ein wichtiges körpereigenes Regulationssystem, das das Immunsystem fördert und stärkt und schädliche Stoffe bekämpft. Wenn ich hier von außen mit Antioxidanzien eingreife, ohne sie wirklich zu brauchen, zum Beispiel, weil ich länger fit und jung bleiben will, kann das kontraproduktiv sein. Studien deuten eindeutig daraufhin, dass dann weniger eigene freie Radikale produziert werden. Die fehlen uns dann zum Schutz unseres Körpers vor Krankheiten. Auch während einer Krebstherapie sind Antioxidanzien kontraindiziert, weil sie die Chemo- und Strahlentherapie, je nach Dosis, empfindlich stören können.

PZ: Wem würden Sie Nahrungsergänzungen empfehlen?

Gitter: Vitamin D können wir wahrscheinlich fast alle gebrauchen, da sehe ich bei einer mittleren Dosis auch kein Problem. Für Menschen, die vegan leben, ist Vitamin B12 wichtig, weil es in pflanzlichen Lebensmitteln nicht enthalten ist. Schwangere brauchen Folsäure und eventuell Iod.

Mir geht es in meinem Buch nicht darum zu sagen: Nehmt am besten gar nichts, sondern ich möchte dafür sensibilisieren, genauer hinzuschauen und sich in der Apotheke beraten zu lassen. Stichwort »Wechselwirkungen«: Viele Frauen haben eine Schilddrüsenunterfunktion und nehmen L-Thyroxin. Gleichzeitig nehmen sie Eisentabletten. Der Eisenmangel verschwindet mit der Medikation, aber dafür werden die Symptome der Schilddrüsenunterfunktion stärker, zum Beispiel Müdigkeit, Frösteln und Gewichtszunahme. Manche Antibiotika und Calcium vertragen sich ebenso wenig. Über Nahrungsergänzungen, die Komplexe bilden und Arzneistoffe, die an Mineralstoffe gebunden werden, können nur wir Apotheker aufklären.

Auch wer abnehmen will und ein Arzneimittel oder Medizinprodukt einnimmt, das die Fettaufnahme im Darm hemmt, sollte wissen, dass sein Vitamin-D-Präparat dann nicht mehr richtig wirken kann. Vitamin D ist fettlöslich und wird in seiner Resorption ebenso ausgebremst wie die Nahrungsmittelfette.

PZ: Welche Prüfungen durchlaufen die Produkte mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, bevor sie auf den Markt kommen?

Gitter: Diese Geschichte ist schnell erzählt, denn es muss gar nichts geprüft werden und man muss vorab weder Wirksamkeit noch Sicherheit nachweisen. Wer ein Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt bringen will, und das kann jeder tun, muss das Produkt beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit anmelden. Dort leiten sie die Anzeige an die örtlichen Behörden weiter, also an Gesundheits- und Veterinärämter, die stichprobenartige Kontrollen durchführen. Wie wir alle wissen, sind diese Ämter aber schon mehr als ausgelastet mit der Aufsicht der Lebensmittelindustrie und Schlachtbetriebe. Um die Kontrolle von Nahrungsergänzungen kümmert sich aus meiner Sicht niemand so, wie es notwendig wäre. Deshalb bin ich dafür, dass man sie einem ähnlichen Zulassungsprozess unterzieht wie ein Arzneimittel.

Arzneimittelhersteller müssen per Gesetz den Gehalt an Pyrrolizidinalkaloiden überprüfen, wenn sie pflanzliche Wirkstoffe verwenden, zum Beispiel in Phytopharmaka. Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln müssen das nicht. Pyrrolizidinalkaloide oder PA sind sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die von vielen Pflanzen zur Abwehr von Fressfeinden gebildet werden und wirken nachweislich leberschädigend. Nicht die PA selbst, sondern deren Abbauprodukte in der Leber.

PZ: Wie kann man sich vor unseriösen oder auch verunreinigten Produkten schützen?

Gitter: Mein Tipp ist, in der Apotheke einzukaufen. Unsere Produkte beziehen wir von seriösen Anbietern. Wer darüber hinaus etwas über Verunreinigungen oder nicht deklarierte, verschreibungspflichtige Substanzen in Nahrungsergänzungsmitteln wissen will, findet auf der Seite der Verbraucherzentrale »Klartext-Nahrungsergaenzung.de« aktuelle Informationen.

PZ: Wie regelt der Gesetzgeber die Werbeaussagen für Nahrungsergänzungen?

Gitter: Diese Produkte dürfen nicht den Anschein erwecken, dass sie Krankheiten heilen können und ihre Verpackungen dürfen entsprechend nicht wie Arzneimittel aufgemacht sein. Der Verbraucher kann den Unterschied aber kaum erkennen. Auch hier kann die Beratung in der Apotheke helfen.

Die sogenannte Health Claims Verordnung regelt die gesundheitsbezogenen Aussagen, mit denen geworben werden darf. Man darf auf ein Vitamin-C-Produkt beispielsweise schreiben, dass es zur normalen Funktion des Immunsystems beiträgt. Zu sagen, dass es das Immunsystem stärkt, ist nicht erlaubt. Auch nicht die Aussage, dass Vitamin C gegen Erkältungen hilft. Gerade bei den ersten beiden Formulierungen frage ich mich, ob der Verbraucher den minimalen Unterschied erkennen kann. Ich glaube es nicht.

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