Es gibt keine »Immunitätsschuld« |
Theo Dingermann |
14.12.2022 14:30 Uhr |
Momentan leiden außergewöhnlich viele Kinder an Infektionen der Atemwege, sodass Kinderärzte und -kliniken stark belastet sind. / Foto: Getty Images/Milorad Kravic
Der Begriff »Immunitätsschuld« (Immunity Debt) bezeichnet ein Konzept, wonach das Immunsystem infolge fehlender Kontakte zu Pathogenen weniger leistungsfähig wird. Kommen Betroffene, insbesondere Kinder, dann wieder in Kontakt mit den Erregern, ist ihr Immunsystem schnell überfordert und die »Schuld« muss in Form von schwereren Krankheitsverläufen zurückgezahlt werden. Diejenigen, die von einer »Immunitätsschuld« sprechen, halten sie für eine Folge der Coronapandemie, die durch Eindämmungsmaßnahmen wie Masketragen und Kontaktbeschränkungen entstanden ist. Die Evidenz für das Konzept ist aber umstritten.
Bekannt wurde der Begriff im Juni 2021, als ihn Dr. Miho Inada Robert Cohen, Professor an einem pädiatrischen Forschungszentrum in der Nähe von Paris, in einem vielgelesenen Artikel in der konservativen US-amerikanischen Zeitung »The Wall Street Journal« verwendete. Er zitierte dabei eine Publikation aus dem Fachjournal »PNAS« vom Dezember 2020 (DOI: 10.1073/pnas.2013182117). In dieser Originalpublikation taucht allerdings die Bezeichnung »Immunitätsschuld« nicht auf – wie überhaupt vor dem Jahr 2021 noch niemand den Begriff verwendet hatte.
Erst infolge des Artikels im »Wall Street Journal«, der von mehreren Nachrichtenagenturen aufgegriffen wurde und dadurch viral ging, sei das Konzept zunehmend als etabliert wahrgenommen worden, heißt es auf der Investigativ-Plattform »Counter Disinformation Project«. Mehr und mehr sei die »Immunitätsschuld« als Gegengewicht zu den Maßnahmen zur Pandemieeindämmung positioniert worden und der Eindruck entstanden, dass sie sogar ein größeres Problem darstellen könnte als die Pandemie selbst.
Unter Fachleuten herrscht jedoch die einhellige Meinung, dass dieses Konzept falsch ist. Das Immunsystem sei nicht wie ein Muskel, der infolge von Nichtbenutzung verschwindet, schreibt etwa der Epidemiologe Professor Dr. Colin Furness von der Universität von Torontoauf Twitter. Er vergleicht das Immunsystem stattdessen mit einer Fotosammlung. »Und Fotosammlungen verblassen nicht, nur weil man sie nicht anschaut. Sie bleiben liegen, bis sie gebraucht werden«, erklärt Furness.
Allerdings ist es nicht unmöglich, dass ein Immungedächtnis zumindest teilweise verloren geht. Das passiert jedoch selten und es ist auch nicht das Ergebnis einer immunologischen Unterforderung. Im Gegenteil: Durch eine Infektion mit einem Pathogen können Teile des Immungedächtnisses gelöscht werden.
Dies wurde für Infektionen mit dem Masernvirus zunächst 2015 im Fachjournal »Science« postuliert (DOI: 10.1126/science.aaa3662) und dann 2019 noch einmal bestätigt. Demnach löscht das Masernvirus Teile sowohl des angeborenen als auch des erworbenen Immungedächtnisses, was als immunologische Amnesie bezeichnet wird.
Wahrscheinlich ist auch das Coronavirus SARS-CoV-2 dazu in der Lage: Es ist gut dokumentiert, dass es durch eine SARS-CoV-2-Infektion zu Fehlsteuerungen des Immunsystems beispielsweise durch Auslösung von Autoimmunreaktionen kommen kann. Und bekanntlich birgt eine Infektion mit SARS-CoV-2 auch immer das Risiko für Long Covid, bei dessen Pathologie unzweifelhaft überaktive immunologische Prozesse eine Rolle spielen.
Derzeit erkranken auch in Gegenden, in denen es für Kinder nie Maßnahmen zur Pandemieeindämmung gegeben hat, beispielsweise in Schweden oder in US-Bundesstaaten mit konservativer Regierung, überdurchschnittlich viele Kinder schwer an Atemwegsinfektionen. Eine »Immunitätsschuld« im oben diskutierten Sinn kann dafür aber genauso wenig verantwortlich gemacht werden wie die Covid-19-Impfung, denn die meisten dieser Kinder sind nicht gegen Corona geimpft.
Vielmehr wurden durch Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder die Kontaktreduzierung Säuglinge und Kleinkinder vor Infektionen geschützt, für die sie in ihrem Alter besonders anfällig sind, darunter RSV und Grippe. So ist zumindest ein Teil der momentanen Infekte auf Nachholeffekte zurückzuführen: Dadurch, dass viele Viren während der Zeit der Maßnahmen weniger stark in der Bevölkerung zirkulierten, infizierten sich Kinder seltener damit, sodass jetzt mehrere Jahrgänge gleichzeitig erkranken.
Der Begriff der »Immunitätsschuld«, der derzeit im Zusammenhang mit den außergewöhnlich vielen Fällen von Atemwegsinfektionen bei Kindern durch die Medien geistert, basiert auf einer falschen Annahme, leitet in die Irre und sollte daher nicht verwendet werden. Denn die Leistungsfähigkeit des Immunsystems ist kein Kontostand, der durch mangelnde Inanspruchnahme weniger wird, bis er schließlich in den roten Zahlen landet. Wenn Kinder sich jetzt mit einer Reihe von Krankheiten infizieren, mit denen sie durch die Abschirmung während der Pandemie nicht in Kontakt gekommen sind, begleichen sie damit keine »Schulden«. Ihr Immunsystem funktioniert in aller Regel gut. Weil sich die Erreger in der Pandemie schlechter ausbreiten konnten und dadurch weniger Kinder als sonst üblich erkrankten, sind es aber jetzt mehr, die potenziell erkranken können – und auch erkranken. Das ist reine Statistik.
Insofern stimmt es zwar, dass die Eindämmungsmaßnahmen während der Pandemie die derzeitige Situation indirekt verursacht haben. Aber eben nicht durch eine »Immunitätsschuld«, sondern durch eine Expositionslücke. Statt die unliebsamen Maßnahmen durch erfundene Phänomene zu kritisieren, sollte man sich eher über die Konsequenzen Gedanken machen, die der Verzicht darauf mit sich bringen kann. Dass derzeit so viele Kinder erkranken, ist eine davon. Eine weitere ist die zunehmend ungehinderte Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung, die stets auch die Gefahr neuer Mutationen mit sich bringt.
Professor Dr. Theo Dingermann, Senior Editor der PZ
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.