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Immunologische Amnesie

Wie Masern das Immungedächtnis löschen

Eine Maserninfektion beeinträchtigt das Immunsystem so nachhaltig, dass Betroffene über Jahre anfälliger für weitere Infektionskrankheiten sind. Zwei Publikationen im Fachjournal »Science« klären nun auf, wie es dazu kommt.
Annette Mende
01.11.2019  17:00 Uhr

Die Masern sind eine extrem ansteckende Infektionskrankheit, an der – trotz aller Bemühungen, den Erreger durch flächendeckende Impfung auszurotten – jährlich weltweit mehr als 7 Millionen Menschen erkranken und mehr als 100.000 sterben. Die unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation erfasste Masern-bedingte Sterblichkeit beruht vor allem auf möglichen Komplikationen wie Lungen- und Hirnhautentzündung.

In Wahrheit ist die Sterblichkeit vermutlich noch deutlich höher, wenn man die negativen Auswirkungen einer Maserninfektion auf das Immunsystem berücksichtigt. Denn epidemiologische Studien haben gezeigt, dass Patienten nach einer Maserninfektion über mehrere Jahre anfälliger für andere Infektionskrankheiten sind. Eine Gruppe um den US-amerikanischen Epidemiologen Professor Dr. Michael Mina stellte 2015 im Fachjournal »Science« eine Berechnung auf, wonach Infektionen mit dem Masernvirus in der Ära vor der Masernimpfung für bis zu 50 Prozent der Infektions-bedingten Todesfälle im Kindesalter verantwortlich waren. Die meisten dieser Kinder seien dabei an anderen Krankheiten als den Masern gestorben.

Jetzt hat der Arbeitskreis Mina erneut in »Science« eine Studie publiziert, die die auch als immunologische Amnesie bezeichnete Immunsuppression infolge einer Maserninfektion erklärt. Die Forscher hatten vermutet, dass durch das Masernvirus vor allem immunologische Gedächtniszellen ausgeknockt werden, weil der Rezeptor CD150/SLAMF1, über den das Masernvirus in Zellen eindringen kann, auf T- und B-Gedächtniszellen sowie auf Plasmazellen stark exprimiert wird. Um die Auswirkungen einer Maserninfektion auf im Blut zirkulierende Antikörper zu untersuchen, nutzten die Forscher ein spezielles Immunoassay namens VirScan, das Antikörper gegen Tausende virale Epitope nachweist.

Während eines Masernausbruchs in den Niederlanden rekrutierten sie in einer Gegend mit niedriger Impfbereitschaft 77 nicht geimpfte Kinder, die im Verlauf an Masern erkrankten. Der Vorher-Nachher-Vergleich des Antikörperpools dieser Kinder zeigte, dass die Maserninfektion 11 bis 73 Prozent der zuvor vorhandenen Antikörper eliminiert hatte. Die Kinder bildeten diese Antikörper erst wieder, nachdem sie erneut mit den entsprechenden Erregern in Kontakt gekommen waren. Bei gegen Masern geimpften Kindern wurde dagegen kein Antikörperschwund beobachtet.

Einer weiteren aktuellen Publikation in »Science Immunology« zufolge beruht dieser immunologische Gedächtnisschwund darauf, dass sich der naive B-Zell-Pool nach einer Maserninfektion nur unvollständig rekonstituiert. Zudem kommt es laut den Autoren um Dr. Velislava Petrova vom Wellcome Sanger Institute in Cambridge, Großbritannien, zu einer Depletion von B-Zell-Klonen, die zuvor expandiert waren. Das Masernvirus löscht also sowohl einen Teil des natürlich vorhandenen als auch des im Laufe des Lebens erworbenen Immungedächtnisses.

Die Wissenschaftler machten die Probe aufs Exempel und infizierten Frettchen, die aufgrund einer Impfung eigentlich hätten vor Influenza geschützt sein müssen, nach einer durchgemachten Maserninfektion mit dem Influenzavirus. Die Tiere erkrankten an Influenza. Dies zeige, so die Forscher, dass die Masernimpfung besonders wichtig sei, da sie nicht nur vor Infektionen mit dem Masernvirus schützt, sondern auch indirekt den Schutz vor anderen impfpräventablen Pathogenen gewährleistet, der durch eine Maserninfektion gefährdet sei.

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