Erste orale Therapie in Sicht |
Brigitte M. Gensthaler |
01.03.2021 17:35 Uhr |
Für Säuglinge mit spinaler Muskelatrophie Typ 1 fast unerreichbar: die motorischen Fortschritte eines Kindes im ersten Lebensjahr wie den Kopf allein halten, sitzen, stehen und laufen. Unbehandelt sterben viele sehr früh oder müssen beatmet werden. / Foto: Adobe Stock/lev dolgachov
Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine schwere, seltene neurodegenerative Erkrankung, die unbehandelt zu schwerer Behinderung und frühem Tod von Säuglingen führt. Die Erkrankung betrifft die Motoneuronen im Gehirn und Rückenmark, die die Muskelbewegung kontrollieren. Den Patienten fehlt aufgrund von Gendefekten ein Protein namens »Survival motor neuron« (SMN).
Da elektrische Impulse vom Gehirn nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet werden, resultieren fortschreitende Muskelschwäche und –atrophie sowie Paresen. Der klinische Verlauf ist sehr variabel. Die schwerste Form (SMA Typ 1) führt unbehandelt bei 90 Prozent der Säuglinge innerhalb von zwei Jahren zum Tod oder zur ständigen Beatmungspflicht. Es gibt auch kindliche und juvenile SMA bis hin zu langsam fortschreitenden Formen, die erst im Erwachsenenalter auftreten können.
Seit 2016 sind mit dem RNA-Therapeutikum Nusinersen (Spinraza®) und seit 2019 mit dem Gentherapeutikum Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma™) zwei Medikamente zur Behandlung der SMA zugelassen. Der oral verfügbare Wirkstoff Risdiplam (Evrysdi®, Roche) ist seit 2020 in den USA zugelassen und wurde von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA in einem beschleunigten Verfahren geprüft. Das Orphan Drug soll zur Behandlung von Patienten ab zwei Monaten mit »5q SMA« vom Typ 1 bis 3 oder mit bis zu vier SMA2-Kopien eingesetzt werden.
Das SMN-Protein wird normalerweise von zwei Genen (SMN1 und SMN2) kodiert. Den meisten SMA-Patienten fehlt das SMN1-Gen, aber sie haben wenigstens eine Kopie des SMN2-Gens. Allerdings entsteht daraus nur ein verkürztes SMN-Protein mit deutlich reduzierter Funktion.
Das synthetische Molekül Risdiplam wirkt als »mRNA-Spleißmodifikator« für SMN2 und ermöglicht so die Bildung eines normal langen und funktionsfähigen SMN-Proteins. Dies soll das Überleben der Motoneuronen verbessern und Symptome lindern. Großer Vorteil: Die Patienten können das Medikament einmal täglich zu Hause oral einnehmen.
Wirksamkeit und Sicherheit von Evrysdi wurden in mehreren klinischen Studien getestet. Die CHMP-Empfehlung basiert auf zwei klinischen Studien, in die junge Säuglinge (Typ 1, FIREFISH-Studie) sowie Patienten zwischen zwei und 25 Jahren mit spät einsetzender Erkrankung (Typ 2 und 3, SUNFISH-Studie) eingeschlossen waren. In der FIREFISH-Studie zeigten sich günstige Effekte auf das Überleben der Säuglinge und deren motorische Entwicklung (wie kurzzeitiges Sitzen ohne Unterstützung oder Aufrechthalten des Kopfes) unter Risdiplam. Zudem stieg die Menge an SMA-Protein während der zwölfmonatigen Therapie. Auch in der SUNFISH-Studie erreichten die Patienten motorische Vorteile und eine erhöhte Menge an SMA-Protein, verglichen mit dem natürlichen Verlauf der Erkrankung.
Die häufigsten unerwünschten Effekte waren Kopfschmerzen, Ulzerationen im Mund und Aphthen, Harnwegsinfekte, Gelenkschmerzen, Übelkeit, Pyrexie und Schwindel.
Das Unternehmen ist verpflichtet, weitere Studien mit dem Orhan Drug vorzulegen. Eine Beobachtungsstudie soll Langzeiteffekte der Therapie mit Risdiplam gegenüber historischen Kontrollen aufzeigen.