Die Schattenseite des Immunsystems |
Das klassische Bild einer Autoimmunerkrankung sieht vor, dass autoreaktive T-Zellen und Autoantikörper das tun, was sie auch gegen Pathogene tun sollen: ihr Antigen eliminieren. Dadurch kommt es meist zu einer inflammatorischen Gewebezerstörung, wie es etwa bei T1D, RA oder MS der Fall ist.
Gerade bei Autoantikörpern können allerdings noch andere Eigenschaften relevant sein. Die Antigenbindungsdomäne eines Antikörpers bildet mit ihrem sogenannten Paratop eine Oberfläche, die das Epitop des komplementären Antigens spezifisch erkennt (Abbildung 1). Liegt dieses Epitop nun beispielsweise innerhalb der Ligandenbindungsdomäne eines Rezeptors, kann der Autoantikörper den Liganden nachahmen und den Rezeptor aktivieren. Das ist beispielsweise beim Hyperthyreoidismus des Morbus Basedow der Fall. Autoantikörper binden hier an TSH-Rezeptoren und imitieren die Wirkung, die normalerweise vom Thyreoidea-stimulierenden Hormon (TSH) aus der Hypophyse ausgelöst wird: Die Schilddrüsenhormone werden verstärkt gebildet.
Ob ein Autoantikörper pathogene oder sogar eher schützende Effekte induziert, hängt auch vom konstanten Fc-Teil eines Immunglobulins ab: Je nachdem welcher IgG-Unterklasse er angehört und wie stark die Glykosylierung des Fc-Teils ausfällt, interagiert der Autoantikörper unterschiedlich gut mit inhibierenden oder stimulierenden Rezeptoren auf natürlichen Killerzellen oder Makrophagen.
Auch eine Gruppe autoreaktiver T-Zellen ruft keine Gewebeschädigung hervor, sondern hat sogar eher eine schützende Funktion: Die Treg-Zellen erkennen spezifisch ihr Autoantigen, unterdrücken aber die Reaktion anderer Immunzellen.
Es ist also der physiologische (Normal-)Zustand, dass der Mensch autoreaktive Zellen und Autoantikörper hat, sie müssen nur im Gleichgewicht mit den reaktiven Zellen stehen.
Autoimmunerkrankungen entstehen wahrscheinlich multifaktoriell, ähnlich wie Tumorerkrankungen. In der Theorie sind autoreaktive B- und T-Zellen eine Voraussetzung, doch tragen zusätzliche Faktoren zur Krankheitsentstehung bei.
Dazu gehören etwa genetische Faktoren. Seit etlichen Jahren ist bekannt, dass Polymorphismen in den Genen, die für MHC-Moleküle codieren, mit Autoimmunerkrankungen assoziiert sind. Sowohl MHC-I- als auch MHC-II-Moleküle präsentieren in einer speziellen »Mulde« kurze Peptide eines Antigens. Je nachdem von welchen Aminosäuren diese Mulde gebildet wird, besteht eine gewisse Präferenz beispielsweise für eher hydrophobe oder amphiphile Peptide. Dass dabei auch bestimmte Selbstantigene (bevorzugt) präsentiert werden können, liegt auf der Hand. Welche Allele der MHC-Gene besonders für eine Autoimmunerkrankung prädisponieren, hängt entscheidend von der üblichen Verteilung der polymorphen Gene und damit von der Ethnie der untersuchten Bevölkerung ab.
Ein Transkriptionsfaktor, dessen Mutation mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Autoimmunerkrankung führt, ist der Autoimmun-Regulator AIRE. Dieser spielt bei der Negativselektion der T-Lymphozyten im Thymus eine wichtige Rolle. Er sorgt dafür, dass Epithelzellen im Thymus alle erdenklichen Proteine des Wirts exprimieren. Funktioniert AIRE nicht, führt das zu Autoimmunerkrankungen: Die T-Zellen konnten wegen der gestörten Präsentation der Autoantigene nicht richtig lernen, Fremd von Selbst zu unterscheiden.
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Eine sehr klare Prädisposition für Autoimmunerkrankungen bringt das biologische Geschlecht mit sich. Frauen sind zwei- bis sogar neunfach häufiger von MS, RA, Hashimoto-Thyreoiditis oder SLE betroffen. Begründen lässt sich diese Prädisposition mit dem Hormonhaushalt und beispielsweise der Estrogen-abhängigen selektiven Transkription verschiedener Proteine, die zu einer Autoimmunerkrankung führen können. Auch die zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen in den weiblichen Körperzellen wird als Ursache diskutiert. Je nachdem ob das väterliche oder mütterliche X-Chromosom stummgeschaltet wird, werden die vom verbliebenen aktiven X-Chromosom exprimierten Proteine eventuell als fremd erkannt. Eine fehlende Inaktivierung hingegen kann zu einer Überexpression bestimmter X-chromosomal codierter Proteine führen. Bei SLE werden beispielsweise die Gene für CD40LG und CXCR3 vermehrt transkribiert und translatiert.
Etliche weitere Moleküle wurden mittlerweile identifiziert, die in mutierter Form mit einer oder mehreren Autoimmunerkrankungen assoziiert werden. Häufig sind diese wie auch MHC oder AIRE direkt an der Antigenpräsentation beteiligt. Aber auch Faktoren, die Signale in Richtung Aktivierung, Differenzierung oder Apoptose der B- und T-Lymphozyten auslösen, können in mutierter Form zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen beitragen.
Dass jedoch selbst eineiige Zwillinge nicht zwingend an derselben Autoimmunkrankheit leiden müssen, spricht dafür, dass neben genetischen Faktoren zusätzlich äußere Einflüsse beteiligt sind.