Die neue Hallo-wach-Pille |
Annette Rößler |
03.06.2020 08:00 Uhr |
Bei Patienten mit Narkolepsie dominiert die unendlich große Müdigkeit den gesamten Tagesablauf. Ähnlich kann es bei Patienten sein, die aufgrund einer obstruktiven Schlafapnoe keinen erholsamen Nachtschlaf finden. / Foto: Getty Images/Bernd Vogel
Narkolepsie ist eine seltene neurologische Erkrankung, die mit einer chronischen, schweren Schläfrigkeit am Tag einhergeht. Bei den Betroffenen kommt es infolge einer Autoimmunreaktion zu einem Verlust von hypothalamischen Nervenzellen, die das Neuropeptid Hypocretin produzieren. Dieses spielt bei der Regulation von Schlaf- und Wachzuständen eine zentrale Rolle. Außer der exzessiven Tagesschläfrigkeit sind kataplektische Anfälle kennzeichnend für die Narkolepsie. Hierbei tritt urplötzlich ein Verlust des Muskeltonus auf, sodass der Patient zusammenbricht, ohne jedoch das Bewusstsein zu verlieren. Auslöser der Kataplexie sind meist starke angenehme Emotionen.
Eine bleierne Müdigkeit am Tag kann auch die Folge eines wenig erholsamen Nachtschlafs sein. So ist es bei der obstruktiven Schlafapnoe (OSA). In diesem Fall sind es die – oft unbemerkten – Atemaussetzer im Schlaf und der damit einhergehende Sauerstoffmangel, der beim Betroffenen eine massive Stressreaktion hervorruft und die Qualität des Nachtschlafs mindert. Eine ursächliche Therapie ist die CPAP-Beatmung (Continuous Positive Airway Pressure), die jedoch von vielen Patienten nicht akzeptiert wird. Alternativen wie ein Zungenschrittmacher oder operative Eingriffe kommen nicht für jeden Patienten infrage.
Solriamfetol (Sunosi® 75 mg und 150 mg Filmtabletten, Jazz Pharmaceuticals) darf bei erwachsenen Narkolepsie-Patienten mit oder ohne Kataplexie sowie bei erwachsenen Patienten mit OSA eingesetzt werden. In beiden Fällen soll es die übermäßige Tagesschläfrigkeit reduzieren und die Wachheit verbessern. Bei OSA-Patienten muss eine primäre Therapie vor der Sunosi-Behandlung versucht werden und ist währenddessen beizubehalten.
Solriamfetol ist ein Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, was höchstwahrscheinlich die stimulierende Wirkung erklärt. Gleichzeitig erklärt es auch, warum der Wirkstoff bei bestimmten Patienten nicht angewendet werden darf: Gegenanzeigen sind schwerwiegende Herzprobleme wie ein stattgehabter Herzinfarkt innerhalb des vergangenen Jahres, instabile Angina pectoris, unkontrollierte Hypertonie oder schwerwiegende Arrhythmien sowie die gleichzeitige Anwendung von Monoaminoxidase-Hemmern. MAO-Hemmer müssen mindestens 14 Tage vor Beginn einer Sunosi-Einnahme abgesetzt worden sein.
Blutdruck und Herzfrequenz sind vor dem Start der Therapie und währenddessen in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren. Steigt einer dieser Werte an, ist eine Dosisreduktion oder das Absetzen des Stimulans zu erwägen. Besondere Vorsicht ist bei Patienten mit erhöhtem Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse, bei Älteren sowie bei gleichzeitiger Anwendung mit anderen Arzneimitteln, die Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen, geboten.
Neben dem Herzen muss auch die Psyche des Patienten im Blick behalten werden. Nebenwirkungen wie Angstzustände, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit wurden in Studien häufig beobachtet, tendierten aber dazu, im Verlauf der Behandlung wieder abzuklingen. Die Anwendung bei Patienten mit anamnestisch bekannter oder gleichzeitig vorliegender Psychose wurde nicht untersucht und muss mit äußerster Vorsicht erfolgen.
Die Tabletten sind morgens nach dem Aufwachen unabhängig von einer Mahlzeit einzunehmen. Die empfohlene Anfangsdosis bei Narkolepsie beträgt 75 mg; sie kann bei Bedarf frühestens nach drei Tagen einmalig auf 150 mg verdoppelt werden. Bei stark ausgeprägter Symptomatik kann gleich mit der Maximaldosis von 150 mg gestartet werden. Bei OSA wird als Anfangsdosis eine halbe 75-mg-Tablette (37,5 mg) empfohlen. Sie kann abhängig vom klinischen Ansprechen zunächst auf 75 mg und dann auf 150 mg erhöht werden, wobei zwischen den Aufdosierungen jeweils mindestens drei Tage liegen müssen.
Solriamfetol wird vorwiegend unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Für das Interaktionspotenzial durch Enzymhemmung oder -induktion ist das vorteilhaft – es gibt nämlich keines. Für die Anwendung bei mäßiger beziehungsweise schwerer Nierenfunktionsstörung (Kreatinin-Clearance 30 bis 59 beziehungsweise 15 bis 29 ml/min) bedeutet es jedoch Einschränkungen bezüglich der Anfangsdosis und möglicher Dosissteigerungen. Die genauen Empfehlungen sind der Fachinformation zu entnehmen.
Als zentrales Stimulans besitzt Solriamfetol ein Missbrauchspotenzial. Dieses wurde laut Angaben des Herstellers in einer Studie untersucht und erwies sich dabei als gering. Die Teilnehmer hätten das Verum in der klinischen Studie zwar als attraktiver bewertet als ein Placebo. Die Attraktivität sei jedoch vergleichbar oder niedriger gewesen als die des Sympathomimetikums Phentermin, das schwach stimulierend wirkt. Dennoch ist bei Patienten Vorsicht geboten, von denen bekannt ist, dass sie schon einmal Stimulanzien oder Alkohol missbräuchlich eingenommen haben.
Frauen im gebärfähigen Alter und deren männliche Partner müssen während der Anwendung von Sunosi wirksam verhüten. Beim Stillen kann eine Gefährdung des Kindes unter der Einnahme des Arzneistoffs durch die Mutter nicht ausgeschlossen werden, weshalb eine Entscheidung getroffen werden muss, ob das Stillen oder die Behandlung unterbrochen werden sollen.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von Solriamfetol wurden in mehreren klinischen Studien untersucht, wobei zur Beurteilung unter anderem die Epworth Sleepiness Scale (ESS), der Maintenance of Wakefulness Test (MWT) und der Patient Global Impression of Change (PGIc) herangezogen wurden. Studie 1 war eine Parallelgruppenstudie mit Narkoleptikern, die randomisiert und doppelblind über zwölf Wochen entweder 75 mg (n = 59), 150 mg (n = 55) oder 300 mg Solriamfetol (keine Angabe) täglich oder Placebo (n = 58) erhielten. Am Ende dieser Zeit hatten sich unter der mittleren Verumdosis ESS und MWT (koprimäre Endpunkte) sowie PGIc verglichen mit Placebo statistisch signifikant gebessert. Unter der niedrigen Verumdosis war lediglich die Besserung der ESS statistisch signifikant. Die hohe Dosierung von 300 mg steigerte die Wirksamkeit nicht in ausreichendem Maß, um die dosisabhängig ebenfalls zunehmende Nebenwirkungsrate aufzuwiegen. Zugelassen wurde letztlich somit 150 mg als Maximaldosis.
Studie 2 hatte nahezu das identische Design wie Studie 1 mit dem Unterschied, dass die Teilnehmer an OSA litten und nicht an Narkolepsie. Außerdem wurde zusätzlich auch die Dosierung 37,5 mg Solriamfetol täglich getestet. In dieser Studie waren die erreichten Besserungen gegenüber Placbeo des koprimären Endpunkts sowohl unter 37,5 mg, unter 75 mg als auch unter 150 mg Solriamfetol täglich statistisch signifikant. Unter den beiden letztgenannten Dosierungen besserte sich zusätzlich der PGIc statistisch signifikant. Die noch höhere Dosierung von 300 mg täglich bewährte sich jedoch ebenso wenig wie in Studie 1. In beiden Studien waren die Wirkungen bereits in Woche 1 zu beobachten und hielten über zwölf Wochen an.
Die häufigsten gemeldeten Nebenwirkungen waren Kopfschmerzen (11,1 Prozent), Übelkeit (6,6 Prozent) und verminderter Appetit (6,8 Prozent). Die Nebenwirkungen traten zumeist innerhalb der ersten zwei Behandlungswochen auf und klangen bei den meisten Patienten nach einer medianen Dauer von weniger als zwei Wochen wieder ab. In den zwölf Wochen der klinischen Prüfung brachen 11 von 396 mit Solriamfetol behandelte Patienten die Studie ab (3 Prozent); in der Placebogruppe gab es unter 226 Patienten lediglich einen Studienabbrecher (<1 Prozent).
Während es für Narkolepsie-Patienten bereits Therapieoptionen zur Reduktion übermäßiger Tagesschläfrigkeit gibt, ist Solriamfetol für Erwachsene mit einer obstruktiven Schlafapnoe tatsächlich die erste in Europa zugelassene Therapieoption zur Behandlung der exzessiven Schläfrigkeit während des Tages. Das rechtfertigt die vorläufige Einstufung bei den Sprunginnovationen. Zudem zeigen die Zulassungsstudien, dass der neue Wirkstoff gut wirksam ist und ein Effekt auf die Wachheit relativ schnell eintritt.
Natürlich stellt sich auch im Falle von Solriamfetol die Frage nach dem Missbrauchspotenzial der Substanz. Eine Studie hat dies untersucht und gibt ein wenig Entwarnung. Sie zeigt zwar ein Missbrauchspotenzial, dieses ist aber vergleichbar oder niedriger als bei dem schwachen Stimulans Phentermin. Zu bedenken ist ferner, dass die Behandlung mit Solriamfetol zu dosisabhängigen Anstiegen des Blutdrucks und der Herzfrequenz führen kann. Vor Therapiebeginn und unter Einnahme sollte beides kontrolliert werden, insbesondere nach einer Dosiserhöhung.
Last but not least ist hervorzuheben, dass der Wirkmechanismus von Solriamfetol besser bekannt ist als der des häufig verordneten Narkolepsie-Wirkstoffs Modafinil. Es handelt sich um einen dualen Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, eine direkte Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin ist nicht bekannt. Ein dualer Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ist übrigens auch das Antidepressivum Bupropion. Schaut man in dessen Fachinformation, ist dort als sehr häufige Nebenwirkung Schlaflosigkeit genannt.
Sven Siebenand, Chefredakteur