Die medikamentöse Last verringern |
Bluthochdruck, Depression, Demenz: Viele Bewohner von Pflegeheimen sind multimorbide und bekommen eine komplexe Dauermedikation. / Foto: KKH
In Deutschland leben mehr als 800.000 Menschen in Pflegeheimen. Sie sind zumeist hochaltrig, leiden an mehreren chronischen Erkrankungen und erhalten viele Medikamente gleichzeitig. Aufgrund von mit dem Alter einhergehenden Funktionseinschränkungen, zum Beispiel der Nieren, den Folgen chronischer Erkrankungen, zum Beispiel einer erhöhten Sturzneigung, sowie den Interaktionsmöglichkeiten bei komplexen Medikationen besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW).
Schätzungen zufolge sind etwa 6,5 Prozent aller stationären Einweisungen auf UAW zurückzuführen (Leitlinie Multimorbidität, Stand Januar 2018). 30 bis 70 Prozent davon werden als vermeidbar eingeschätzt. Die als vermeidbar angesehenen Ursachen betreffen überwiegend eine fehlerhafte Dosierung, Überschreiten der maximalen Tagesdosis, ungenügende Beachtung von Kontraindikationen und Gegenanzeigen, Nichtverordnung von Supportivtherapien oder auch Fehler bei der Anwendung des Arzneimittels.
Vor diesem Hintergrund haben Maßnahmen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) bei Pflegeheimbewohnern eine hohe Bedeutung. Die AMTS umfasst dabei die Gesamtheit aller Maßnahmen zur Gewährleistung eines optimalen Medikationsprozesses, um vermeidbare Risiken zu verringern.
In diesem Beitrag werden Modellprojekte zur Verbesserung der AMTS sowie aktuelle Empfehlungen zur Pharmakotherapie bei Pflegeheimbewohnern vorgestellt. Arzneimittellisten wie die Priscus- oder FORTA-Liste und die STOPP/START-Kriterien stellen eine Übersicht über bei Älteren zu vermeidende oder aber explizit empfohlene Medikamente dar.
Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Multimorbidität. Nach einer Definition ist damit das gleichzeitige Vorhandensein von drei oder mehr chronischen Erkrankungen gemeint. Doch nicht alle chronischen Krankheiten gehen mit relevanten Einschränkungen einher, erfordern eine kontinuierliche Betreuung/Behandlung oder werden vom Betroffenen selbst als Erkrankung erlebt. Aussagen zur Häufigkeit einer Multimorbidität bei Pflegeheimbewohnern sind daher nur mit Einschränkungen möglich und vergleichbar.
In Deutschland hat nahezu jeder zweite Über-65-Jährige mehr als drei chronische Erkrankungen; bei Menschen über 70 hat die große Mehrheit mehr als fünf gleichzeitig. Nach einer Querschnittserhebung in Nordrhein-Westfalen (NRW) hatten Heimbewohner durchschnittlich sogar acht Erkrankungen (1). Einem systematischen Review zufolge sind bei älteren Menschen die Kombinationen von Bluthochdruck und Depression (58 Prozent), Depression mit Gelenkerkrankungen (56 Prozent) sowie Hypertonie mit Demenz (37 Prozent) am häufigsten anzutreffen (2). Zusätzlich zu den genannten Leiden gehören Gefäßkrankheiten und gastroösophageale Refluxbeschwerden zu den häufigsten Erkrankungen bei Pflegeheimbewohnern.
Diese zunehmende Krankheitslast geht mit einer entsprechend höheren Rate an Medikamentenverordnungen einher. Gemäß der Querschnittstudien in NRW (1) und in Niedersachsen/Bremen (IMREN-Studie; 3) nehmen Pflegeheimbewohner zwischen sechs und neun Medikamente täglich regelmäßig ein. Werden Bedarfsmedikamente mitberücksichtigt, steigt diese Zahl noch einmal um mehr als zwei Medikamente im Durchschnitt an.
Physiologische Veränderungen im Alter beeinflussen die Verteilungsräume der Medikamente. Im Wesentlichen kommt es dabei zur Abnahme des Muskelgewebes und des Flüssigkeitsanteils sowie einer Zunahme des Fettgewebes. Letztere führt dazu, dass fettlösliche Medikamente besser gespeichert werden und länger wirken. Dies gilt beispielsweise für Benzodiazepine oder Furosemid.
Reichlich trinken: Das gilt nicht nur bei der Medikamenteneinnahme. / Foto: Adobe Stock/Robert Kneschke
Die Abnahme des Flüssigkeitsanteils (niedrigeres Gesamtkörperwasser) hat eine verstärkte Wirkung wasserlöslicher Medikamente wie ACE-Hemmer oder Thyroxin zur Folge.
Neben den indirekten Folgen durch eine veränderte Zusammensetzung des Gewebes kommt es im Alter auch zu direkten Funktionseinschränkungen an unterschiedlichen Organen. Die vermutlich größte Bedeutung hat die bei den meisten Menschen mit dem Alter abnehmende Nierenfunktion, da die meisten Medikamente direkt oder nach Metabolisierung über die Niere ausgeschieden werden.
Die Nierenfunktion kann durch die Messung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) bestimmt werden. Da diese Methode sehr aufwendig ist, erfolgt die näherungsweise (estimated) Bestimmung (eGFR) heutzutage auf Basis einer mathematischen Formel, in der meist Alter, Geschlecht und Serumkreatinin-Konzentration berücksichtigt werden.
Zu den bekanntesten und am häufigsten eingesetzten Formeln gehören die Cockroft-Gault-, die CKD-Epi- (chronic kidney disease epidemiology collaboration) und die MDRD-Formel (modification of diet in renal disease). Aktuelle Angaben zur Dosisreduktion bei Nierenfunktionsstörungen in den Fachinformationen beruhen in Europa meist auf den Bestimmungen nach Cockroft-Gault. Zur Verlaufsbeobachtung in der ärztlichen Versorgung werden inzwischen eher die beiden anderen Formeln empfohlen.
Für geriatrische Patienten bestehen weitere Einschränkungen, da die Formeln in dieser Altersgruppe zum Teil nicht validiert sind und die Ergebnisse die Nierenfunktion bei älteren Menschen überschätzen. Mit den BIS-Formeln (Berlin Initiative Study) wurden 2012 verschiedene Schätzungen speziell für die Gruppe der Über-70-Jährigen entwickelt (3).
Als Beispiel sind die Schätzungen zur Nierenfunktion bei einer 80-jährigen Frau (165 cm, 74 kg, Kreatinin 0,9 mg/dl) in Tabelle 1 dargestellt.
Schätzformel | eGFR (ml/min) |
---|---|
Cockroft-Gault | 58,2 |
MDRD | 67,11 |
CKD-Epi | 75,58 |
BIS 1 | 52,3 |
Hier wird deutlich, welche Schwankungsbreite und damit auch diagnostische Unsicherheit bei der Bestimmung einer Nierenfunktion besteht. Abhängig von der GFR erfolgt eine Klassifizierung des Schweregrads einer Nierenfunktionsstörung nach KDIGO (Kidney Disease Improving Global Outcomes) zwischen G1 (GFR > 90 ml/min) bis zu G5 (< 15 ml/min). So gilt eine eGFR über 60 ml/min als leicht vermindert, Werte zwischen 45 und 59 bereits als mäßig/mittelgradig vermindert (Tabelle 2).
CKD-Stadium | GFR (ml/min/1,73 qm) | Bewertung der GFR |
---|---|---|
1 | 120 bis 90 | normal oder erhöht |
2 | 89 bis 60 | leicht vermindert |
3a | 59 bis 45 | mäßig bis mittelgradig vermindert |
3b | 44 bis 30 | mittel- bis hochgradig vermindert |
4 | 29 bis 15 | hochgradig vermindert |
5 | 14 bis 0 | terminales Nierenversagen |
Nach internationaler Literatur leiden 40 bis 50 Prozent der Pflegeheimbewohner an einer chronischen Niereninsuffizienz (eGFR unter 60 ml/min nach Cockcroft-Gault).
In der bereits erwähnten Querschnittserhebung in deutschen Pflegeheimen (IMREN-Studie; 3) hatten zwei von drei Bewohner eine Niereninsuffizienz (eGFR unter 60 ml/min), jeder siebte eine schwere Insuffizienz mit Werten unter 30 ml/min.
Gegen Rücken- und Gelenkschmerzen bekommen viele Senioren nicht-steroidale Antiphlogistika. In Kombination mit ACE-Hemmern und Diuretika kann dies zum akuten Nierenversagen führen. / Foto: Adobe Stock/and.one
Mit dem Alter nahm die Nierenfunktion stetig ab. Nur wenige Bewohner unter 70 Jahren (unter 2 Prozent) hatten eine schwere Niereninsuffizienz (eGFR unter 30 ml/min); dieser Anteil stieg bei den Über-90-Jährigen auf fast ein Drittel.
Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung sei auf den noch immer zu hohen Einsatz von nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) hingewiesen. In der zitierten Erhebung erhielten zahlreiche Bewohner trotz schwerer Niereninsuffizienz (GFR unter 30 ml/min) regelmäßig ein NSAR. Bei den nicht-verschreibungspflichtigen NSAR hat die Apotheke eine große Chance, beratend einzugreifen.
Auf Basis der IMREN-Studie wurden in einem nächsten Schritt konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der AMTS mit den beteiligten Berufsgruppen (Apotheker und Hausärzte) entwickelt (4). Folgende Maßnahmen wurden von den Beteiligten als leicht umsetzbar und relevant bewertet:
Foto: Adobe Stock/contrastwerkstatt
Das von der Stadt-Apotheke betreute Pflegeheim bestellt Medikamente für die neu eingezogene Bewohnerin Margret M., 84 Jahre (fiktive Patientin). Die Medikation umfasst
Ramipril 10 mg (1 – 0 – 0),
Allopurinol 100 mg (1 – 0 – 0),
Simvastatin 40 mg (0 – 0 – 1),
Rivaroxaban 20 mg (1 – 0 – 0) und Metformin 500 mg (1 – 0 – 1).
Wegen eines akuten Atemwegsinfekts wurde im Notdienst
Amoxicillin 750 mg (1 – 1 – 1)
verordnet.
Aufgrund des Alters der Patientin ist eine eingeschränkte Nierenfunktion sehr wahrscheinlich. Nach Rücksprache mit der Hausärztin erfährt der Apotheker den aktuellen Kreatininwert (1,2 mg/dl) und die GFR (39 ml/min). Nach einer Konsultation von www.dosing.de empfiehlt er der Ärztin, die Dosis von Ramipril auf 5 mg sowie die von Amoxicillin auf zweimal 750 mg zu reduzieren. Die Metformin-Medikation sollte bei einem akuten Infekt zunächst pausiert werden.
Pflegeheimbewohner haben ein höheres Risiko für das Auftreten von UAW, aber nicht jedes neu aufgetretene Symptom oder neue Beschwerden sind zwangsläufig durch ein Medikament verursacht. Die Entdeckung einer unerwünschten Arzneimittelwirkung ist damit keineswegs trivial. Unabhängig von der Erhebungsmethode können sich die Ergebnisse deutlich unterscheiden. Zusätzlich können unspezifische Symptome wie Schwindel und Übelkeit zu einer weiteren symptomorientierten Verordnung führen. Eine solche Verschreibungskaskade kann die Polypharmakotherapie ebenso wie das Risiko für weitere UAW verstärken.
In zwei Querschnittserhebungen (AMTS-Ampel; Kasten) in Deutschland (elf Heime, 778 Bewohner, und vier Heime, 42 Bewohner) wurden über vier Wochen neue und bisher unbehandelte gesundheitliche Probleme systematisch erfasst und bewertet (1, 5). Die Inzidenz unerwünschter Arzneimittelereignisse (UAE) betrug in beiden Erhebungen knapp 8 Ereignisse/100 Bewohnermonate und entspricht damit den Ergebnissen vergleichbarer internationaler Erhebungen. Die ermittelten UAE wurden überwiegend als mild/moderat eingestuft, jedes dritte Ereignis aber als schwerwiegend/lebensbedrohlich.
In einem Folgeprojekt wurden ebenfalls UAW mit der gleichen Methode erhoben. Als häufigste Symptome neuer UAW traten Somnolenz, Übelkeit, weitere gastrointestinale Beschwerden sowie Stürze auf. Die am häufigsten betroffenen Organsysteme waren in absteigender Reihenfolge Gastrointestinaltrakt, Herz und Nerven/Gehirn. Fast 60 Prozent der dokumentierten UAE wurden rückblickend im Expertenkonsens als vermeidbar eingeschätzt. Hier besteht also ein großes Verbesserungspotenzial.
Als Interventionsinstrument wurde in den Studien eine selbst entwickelte sogenannte AMTS-Karte eingesetzt
Download unter: www.ABDA.de/uploads/tx_news/AMTSMerkkarte.pdf
Diese wurde den teilnehmenden Berufsgruppen (Pflegende, Apotheker, Hausärzte) als Unterstützung zur Verfügung gestellt. Sie enthält wesentliche Inhalte der Interventionsschulungen sowie Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Arzneimitteltherapiesicherheit. Dazu gehören:
Das Ziel dieser Studie war es, die Häufigkeit von UAW bei Pflegeheimbewohnern zu erfassen und durch eine multiprofessionelle Intervention zu reduzieren.
Die heimversorgenden Apotheker bildeten gemeinsam mit Pflegekräften pro Station/Wohnbereich ein AMTS-Team. In wöchentlichen Teamsitzungen erfolgte die Durchsicht der von den Pflegenden geführten Therapiebeobachtungsbögen, um mögliche UAW zu entdecken und die beteiligten Hausärzte zu informieren. Darüber hinaus führten die Apotheker zu bestimmten Zeitpunkten (Einzug, Krankenhausentlassung, Verdacht auf eine UAW) eine strukturierte Medikationsanalyse durch und formulierten konkrete Handlungsempfehlungen für den Hausarzt. Die Analyse umfasste dabei die Kontrolle auf:
Der Leitfaden zur Medikationsanalyse sowie die Faxvorlagen, die zur Übermittlung der Änderungsvorschläge eingesetzt wurden, stehen zum Download bereit unter
www.amts-ampel.de/fileadmin/img/downloads/AMPELAbschlussbericht-gesamt-15-12-16.pdf (S. 152ff).
Für hochaltrige Menschen werden aufgrund eines nur geringen Nutzens bei gleichzeitig potenziell hohem Risiko einige Wirkstoffe als potenziell inadäquate Medikation (Potentially Inappropriate Medication, PIM) bezeichnet. Ihr Einsatz sollte möglichst reduziert und durch Präparate mit einem günstigeren Nutzen-Risiko-Profil ersetzt werden. Kennzeichen eines potenziell inadäquaten Medikaments sind:
Es gibt zahlreiche unterschiedliche Definitionen einer PIM. Manche beschränken sich auf eine Aufzählung der aus Expertensicht zu vermeidenden Wirkstoffe, eventuell erweitert um die Nennung möglicher Alternativen (Beers-Liste, Priscus-Liste). In anderen Listen wie den START/STOPP-Kriterien werden Diagnosen, Symptome oder gleichzeitig verordnete Medikamente berücksichtigt (START: Screening Tool to Alert to Right Treatment; STOPP: Screening Tool of Older Persons’ Prescriptions). Manche Listen konzentrieren sich nur auf bestimmte Nebenwirkungen (Anticholinergic Drug Burden). Die im folgenden besprochenen Listen sind im Internet zu finden.
Die genannten Listen findet man zum Download im Internet:
Priscus-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen: http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf
START-/STOPP-Kriterien: www.bentonfranklincms.com/yahoo_site_admin/assets/docs/Buchman_Hand_Out-_liste-start-stopp-version.53101600.pdf
FORTA-Liste 2018: www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt-deutsch/
Neben international bekannteren Zusammenfassungen wie der Beers-Liste gibt es seit inzwischen fast zehn Jahren auch eine deutsche Liste, da die internationalen Empfehlungen nicht ohne weiteres auf den deutschen Arzneimittelmarkt übertragbar waren. Die Empfehlungen der Priscus-Liste basieren neben einer umfassenden Literatursuche auf der Bewertung ausgewählter Medikamente durch Expertengruppen. Damit ist Priscus eine Negativliste: Die darin enthaltenen 83 Wirkstoffe sollten bei Älteren möglichst nicht eingesetzt werden. Die Liste ist geeignet, um die Qualität der Verordnungen auf einer aggregierten Ebene bewerten zu können.
Nach Analyse von Krankenkassendaten (6) erhielten 28 Prozent der älteren Versicherten mindestens ein Medikament aus der Priscus-Liste. Bei den Über-90-Jährigen betrug die Prävalenz sogar 42 Prozent. Die Verordnung erfolgte häufig nur einmalig, jedoch erhielten knapp 10 Prozent der Patienten die kritischen Präparate als Dauerverordnung.
Bei den Priscus-Empfehlungen handelt es sich um relative Kontraindikationen. Eine Verordnung ist daher nicht mit einer Fehlverordnung gleichzusetzen. Wenn es im individuellen Fall keine Alternative zu einem Präparat dieser Liste gibt, kann eine Verordnung sinnvoll sein. Auch die Entstehung als Expertenkonsens bringt es mit sich, dass einzelne Bewertungen kritisiert und von anderen Experten durchaus als sinnvoll bei Älteren empfohlen werden. Dies gilt zum Beispiel für den Einsatz von Nitrofurantoin zur kurzzeitigen Behandlung eines Harnwegsinfekts.
Der Vorteil der Priscus-Liste: Sie kann auch ohne Kenntnis der individuellen Diagnosen genutzt werden, um PIM zu identifizieren und sinnvollere Alternativen zu empfehlen.
Die STOPP-Kriterien (Screening Tool of Older Persons’ Prescriptions) wurden 2008 von einer irischen Arbeitsgruppe entwickelt und 2014 überabeitet (6). Wie die anderen Empfehlungen basiert die Auswahl primär auf einer Beurteilung durch eine Expertenrunde und der anschließenden Berücksichtigung der vorhandenen Evidenz. Die STOPP-Kriterien sind nach Organsystemen aufgeschlüsselt und berücksichtigen vorhandene Diagnosen ebenso wie die Therapiedauer. Drei Beispiele:
Die STOPP-Kriterien können in der individuellen Beratung eingesetzt werden. In mehreren Interventionsstudien konnte die Häufigkeit von UAW durch Anwendung der Kriterien reduziert werden.
Als Ergänzung zu den STOPP-Kriterien hat die gleiche Arbeitsgruppe auch START-Kriterien entwickelt (Screening Tool to Alert to Right Treatment). Diese zielen darauf ab, eine Untertherapie durch Nichtverschreibung trotz gegebener Indikation zu vermeiden.
Im Gegensatz zur Priscus-Liste und den STOPP-Kriterien stellt die FORTA-Liste den Versuch dar, Medikamente nach ihrer Eignung für Ältere zu klassifizieren, vergleichbar einer Positivliste. Die FORTA-Liste (Fit For the Aged) teilt häufig verordnete Medikamente nach ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit in vier Kategorien (A: unverzichtbar, B: vorteilhaft, C: fragwürdig, D: zu vermeiden) ein. Die A-Kategorie soll vergeben werden, wenn der Wirkstoff in größeren Studien an Älteren geprüft wurde und eine eindeutig positive Nutzenbewertung vorliegt. In der aktuellen Version werden 296 Wirkstoffe berücksichtigt.
Ähnlich der Priscus-Liste basiert die Bewertung der Wirkstoffe auf einem Expertenkonsens, berücksichtigt aber die jeweilige Indikation des Wirkstoffs. Dies ist insbesondere bedeutsam, wenn Wirkstoffe bei mehreren Indikationen eingesetzt werden können. Betarezeptorenblocker werden für die Behandlung einer Herzinsuffizienz mit A, zur Behandlung einer Hypertonie aber mit B bewertet.
In der FORTA-Liste werden Wirkstoffe in ihrer jeweiligen Indikation betrachtet. So haben etwa Betablocker für die Behandlung einer Herzinsuffizienz eine A-Empfehlung, bei Hypertonie aber nur B. / Foto: Adobe Stock/Cherry and Bees
Kritisch ist anzumerken, dass die Bewertung einzelner Medikamente nicht immer der vorhandenen Evidenz entspricht. So erhalten Gliptine eine A-Bewertung, obwohl es deutliche Belege für einen fehlenden Nutzen mit einer entsprechend kritischen Bewertung durch IQWiG und GBA gibt (www.g-ba.de/downloads/92-975-1557/ 2016-07-01_Nutzenbewertung-IQWiG_ Sitagliptin_D-245.pdf).
Entscheidend für die Verbesserung der Arzneimitteltherapie in Pflegeheimen ist die Frage, ob die Berücksichtigung einer der Listen relevante Endpunkte wie Krankenhauseinweisungen oder relevante UAW tatsächlich reduziert. In zwei Studien wurden die Empfehlungen der FORTA-Liste in einer geriatrischen Klinik umgesetzt und mit einer Kontrollgruppe verglichen (7, 8). In den Interventionsgruppen nahmen UAW wie Stürze jeweils ab, was auf einen positiven Effekt durch die Umstellung der Medikation nach den FORTA-Kriterien hinweist.
Die Unterschiede in den inhaltlichen Schwerpunkten und den berücksichtigten Wirkstoffen führen aber dazu, dass die Bewertungsergebnisse der Studien nicht identisch sind. Dies wird in einem Fallbeispiel deutlich (Kasten). In der Apotheke sind häufig keine vollständigen Angaben zu Diagnosen oder aktuellen Laborwerten vorhanden. Daher ist eine Bewertung auf Basis der Priscus-Liste hier am einfachsten umzusetzen.
Eine nachhaltige Verbesserung der AMTS in Pflegeheimen erfordert ein interdisziplinäres und multimodales Vorgehen. Insbesondere bei einer Kooperation mit Hausärzten liegen dem Apotheker dann umfassende Informationen zu den Vorerkrankungen und Laboruntersuchungen vor, die eine Medikamentenbewertung mit weiteren Kriterien ermöglichen.
Foto: Adobe Stock/Sandor Kacso
Diagnosen: Depression, Altersdemenz, Osteoporose mit pathologischer Fraktur, Hypertonie, Zustand nach Apoplex, chronisches Schmerzsyndrom, absolute Arrythmie, GFR 54 ml/min
Medikation:
Amlodipin 5 mg 1 – 0 – 0,
ASS 100 mg 0 – 1 – 0,
Calcium Vitamin D 1 – 0 – 0,
Metoprolol succinat 47,5 mg 1 – 0 – 0,5, Mirtazapin 30 mg 0 – 0 – 1,
Pantoprazol 20 mg 1 – 0 – 0,
Pipamperon Saft 0 – 0 – 5 ml,
Digitoxin 0,07 mg 1 – 0 – 0,
Tilidin Tr. bei Bedarf und Ibandronsäure (alle drei Monate)
Die Erfassung und Erkennung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Heimbewohnern können durch die Zusammenarbeit mit Pflegenden verbessert werden.
Die Vermeidung ungeeigneter Medikamente kann unerwünschte Arzneimittelwirkungen reduzieren. Für den Einsatz in der Apotheke ist die Priscus-Liste am besten geeignet.
Die Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern gelingt am besten in einem interdisziplinären Team mit Beteiligung der Pflegenden und der Hausärzte. /
Dr. Guido Schmiemann studierte Humanmedizin in Göttingen und Maastricht (NL) und wurde 1999 promoviert. 2004 erwarb er den Abschluss Master of Public Health an der FH Oldenburg – Emden. Von 2006 bis 2011 war Schmiemann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, tätig und erhielt hier 2014 die Venia Legendi für das Fach Allgemeinmedizin. Dr. Schmiemann ist stellvertretender Leiter der Abteilung Versorgungsforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, und als Facharzt für Allgemeinmedizin in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis in Verden tätig.