Das Reizdarm-Update |
Was geht und was nicht? Erstmalig gibt die neue Reizdarm-Leitlinie Ernährungsempfehlungen. / Foto: Adobe Stock/orelphoto
»Das Reizdarmsyndrom bleibt ein komplexes Krankheitsbild und ist am ehesten multifaktoriell, wobei Störungen der Darmbarriere (Stichwort leaky gut), der mukosalen Immunabwehr, des Mikrobioms, des enterischen Nervensystems und der Darm-Gehirn-Interaktion mit der Erkrankung in Verbindung gebracht werden«, erklärte Dr. Viola Andresen, Koordinatorin der aktualisierten Leitlinie, bei einer Online-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS). Zu diesem Zeitpunkt war die Konsultationsfassung der überarbeiteten Leitlinie im Netz zu lesen. Derzeit läuft die Revision, und die Veröffentlichung steht kurz bevor. Vor allem die Darmmikrobiota scheint eine größere Rolle im Krankheitsgeschehen zu spielen als bislang gedacht. Zumindest nehmen im Leitlinien-Update neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem in Quantität und Qualität veränderten Darmmikrobiom einen größeren Raum ein.
Die klinische Manifestation eines Reizdarmsyndroms mag suggestiv sein. Doch lasse es die mangelnde Spezifität der Symptomatik nicht zu, andere Erkrankungen sicher abzugrenzen, sagte Andresen, Gastroenterologin vom Viszeral-Medizinischen Zentrum des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg. Der Schwerpunkt der Diagnostik liege weniger auf bestimmten Untersuchungsmethoden als auf wichtigen Differenzialdiagnosen. »Das Reizdarmsyndrom ist zu einem guten Teil eine Ausschlussdiagnose.« In Abhängigkeit von den dominierenden Einzelsymptomen unterteilt man in Subtypen. Üblich ist hierbei die Einteilung in einen Obstipations-, einen Diarrhö-, einen Misch-, bei dem Diarrhö und Obstipation im Wechsel vorkommen, und einen Schmerz- und/oder Bläh-Typ. Die Zuordnung der Patienten zu einem dieser Subtypen hat sich als hilfreich für das diagnostische und therapeutische Management erwiesen.
In der aktualisierten Leitlinie habe man eine deutlich umfangreichere Diagnostik für Ernährung ausgearbeitet und etwa die Themen Glutensensitivität und Histaminintoleranz neu aufgenommen. Von IgG (Immunglobulin)-basierten Tests auf Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten wird ausdrücklich abgeraten. Denn hohe IgG-Titer entstehen auch bei vielen pathophysiologischen Störungen, Erkrankungen oder Entzündungen. Ebenso entbehrten Angebote wie »Stuhlanalyse auf Dysbiose« einer seriösen Grundlage genauso wie unnötige und problematische Eliminationsdiäten.
Was die Therapie betrifft, unterscheidet die überarbeitete Leitlinie allgemeine, symptomunabhängige Therapieverfahren von symptomorientierten medikamentösen Behandlungen. Gab es bislang keine Ernährungsempfehlungen für Reizdarmpatienten, so sprechen sich nun die Experten der DGVS und der kooperierenden Fachgesellschaften klar für die Low-FODMAP-Diät aus, mit der fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole vermieden werden. »Es gibt viele gute Studien zu dieser Art der Ernährung«, informierte Andresen. Zudem gehen die Leitlinienautoren umfangreicher als bislang auf psychotherapeutische Aspekte ein; besonders die Hypnotherapie scheint Potenzial zu bieten.
Probiotika haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen und sind in der aktualisierten Leitlinienfassung eine feste Behandlungsoption. Andresen: »Probiotika haben eine generelle positive Empfehlung, allerdings nicht mit Evidenzgrad A. Neuere Daten zeigen, dass sie im Mittel wirksam sind. Ob sie individuell eine Besserung bringen, ist nicht vorhersehbar.« Viele Zubereitungen sind Nahrungsergänzungsmittel, was mit einer eingeschränkten wissenschaftlichen Evidenz einhergeht. »Nur wenige Hersteller betreiben den Aufwand einer randomisierten, kontrollierten Studie.« Die Leitlinie nennt keine einzelnen Präparate. Doch Andresen hob die gute Datenlage von Kijimea® Reizdarm Pro hervor, ein Präparat mit hitzeinaktivierten Bifidobakterien. Eine im Fachjournal Lancet publizierte Studie mit annähernd 450 Patienten bescheinigt dem Probiotikum eine signifikante Wirksamkeit bei allen Reizdarm-Subtypen.
Dass die Mikroflora des Darms einen nicht ganz unerheblichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf nimmt, zeigen auch Forschungsergebnisse zum Breitbandantibiotikum Rifaximin (Xifaxan®). Dieses ist in der Lage, die Anzahl und die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Kolon der Patienten so verändern, dass sich deren Darmtätigkeit über den zweiwöchigen Behandlungs- und den anschließenden Nachbeobachtungszeitrum normalisierte. Positiv wurde dabei besonders der Effekt auf Blähungen bewertet; starke Blähungen sind mit einer überdurchschnittlich starken Besiedelung des Dünndarms assoziiert. Rifaximin reduziert die Bakterienmenge im Darm.
In Deutschland ist Rifaximin derzeit nur zur Behandlung von Reisediarrhö zugelassen. »Für den Reizdarm muss es also off label eingesetzt werden«, informierte Andresen. »Wie es wirkt, ist letztlich nicht geklärt. Es hat den Vorteil, dass es lokal im Darm wirkt und nach oraler Anwendung zu weniger als 1 Prozent resorbiert wird.« In der aktualisierten Fassung hat es eine Empfehlung für therapierefraktäre Patienten mit nicht-obstipiertem Reizdarm erhalten.
Für die meisten Reizdarm-Patienten sind Schmerzen und Bauchkrämpfe die vorherrschenden Symptome. »Stehen Schmerzen im Vordergrund, empfiehlt die aktualisierte Leitlinie verstärkt Spasmolytika - mit einer spezifischen Nennung von Pfefferminzöl«, sagte Andresen. Darunter fallen die fixen Kombinationen mit Pfefferminzöl, etwa die mit Kümmelöl (Carmenthin®) oder die mit der Bitteren Schleifenblume als namensgebendem Bestandteil (Iberogast®). Menthol als Hauptinhaltsstoff des Pfefferminzöls scheint den Darm über einen calciumantagonistischen Effekt beruhigen zu können. Pfefferminzöl ist auch als Monotherapeutikum (wie Buscomint® und Medacalm®) verfügbar.
Daneben haben trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin, Doxepin oder Trimipramin einen gesicherten analgetischen Effekt bei Reizdarm-Patienten und versprechen symptomunabhängigen Erfolg. Vermutlich ist dafür die komplexe Wirkung auf serotoninerge, opioide und adrenerge Nerven verantwortlich. Die verminderte Empfindung von Symptomen beruht wahrscheinlich auf einer Modulation der zentralen Reizverarbeitung und scheint unabhängig von einem psychotropen Effekt. Während Trizyklika eine positive Empfehlung bei Schmerz-betontem Reizdarm bekommen haben, sieht Andresen die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer SSRI eher bei psychischer Begleitsymptomatik. Antidepressiva sollten gegenüber dem Patienten eher als Schmerzmodulatoren bezeichnet werden. Viele Reizdarm-Patienten hätten Vorbehalte gegenüber dieser Therapie.
Für den Diarrhö-Typ neu aufgenommen haben die Leitlinienautoren Colesevelam und Eluxadolin, eine stärkere Empfehlung bekommen die 5-HT3-Antagonisten. Wer verstärkt unter Verstopfung leidet, der profitiert von Macrogol, zumindest hat es gegenüber der Vorgängerversion der Leitlinie eine stärkere Empfehlung bekommen. Positiv werden zudem Prucaloprid und Linaclotid für Obstipations-Patienten bewertet.
Die mangelnde Spezifität der Symptomatik eines Reizdarmsyndroms lässt es nicht zu, andere Erkrankungen sicher abzugrenzen. Zudem überlappen sich Ursachen und Beschwerden etwa von Refluxkrankheit, funktioneller Dyspepsie und Reizdarm. / Foto: Stephan Spitzer
Die Befindlichkeiten des Verdauungstrakts diktieren den Tagesablauf von Patienten mit Reizdarmsyndrom. Eine Toilette sollte immer in Reichweite sein. Denn Betroffene reagieren teilweise heftig und empfindlich mit gastrointestinalen Symptomen auf die unterschiedlichsten Umwelteinflüsse. Typisch ist eine chronische Symptomatik, die durch die vier Leitsymptome Bauchschmerzen, Blähungen, Verstopfung und Durchfall geprägt ist. Die Beschwerden treten oft kombiniert und nicht selten im Wechsel auf. Sie können über Wochen, Monate und Jahre persistieren. Zudem gibt es Überschneidungen zum Symptomenkomplex der Refluxkrankheit und der funktionellen Dyspepsie (siehe Grafik).
Experten schätzen, dass etwa 7 Prozent der Bevölkerung, dabei mehr Frauen als Männer, einen Reizdarm haben. Meist sind die Symptome so weit erträglich, dass sie nur hin und wieder auftreten und die Betroffenen deshalb keinen Arzt aufsuchen. Bei etwa einem Drittel der Patienten sind die Beschwerden allerdings stark ausgeprägt. Zwar ist die Lebenserwartung nicht verkürzt, aber die Lebensqualität wird beträchtlich sabotiert.
> Kommt ein Patient immer wieder wegen unterschiedlicher Magen-Darm-Beschwerden in die Apotheke, ist an die Möglichkeit eines Reizdarmsyndroms zu denken. Eine Diagnosestellung durch einen Arzt beendet häufig eine lange Zeit der Ungewissheit und Unsicherheit bei den Patienten.
> Die Dauer der Therapie ist vorab mit dem Patienten zu besprechen. Ein Punkt, bei dem Apotheker und PTA in der Beratung gefordert sind. Ein medikamentöser Therapieversuch ist zunächst eine Zeit lang durchzuhalten; spricht dieser nicht an, soll er spätestens nach drei Monaten abgebrochen werden.