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Covid-19 als Systemerkrankung

Das gesamte Ausmaß wird klarer

Anfangs dachte man, das neue Coronavirus löst eine Lungenerkrankung aus. Doch mittlerweile ist bekannt, dass es nicht dabei bleibt. Was Ärzte innerhalb eines Jahres über Covid-19 gelernt haben, fasste der Intensivmediziner Privatdozent Dr. Christoph Spinner beim Pharmacon@home zusammen.
Daniela Hüttemann
25.01.2021  16:00 Uhr

»Wir haben es bei SARS-CoV-2 mit einem Virus mit relativ hoher Pathogenität und Mortalität zu tun«, berichtete Spinner, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin II des Klinikums rechts der Isar der TU München, beim Abschlussvortrag des digitalen Fortbildungskongresses Pharmacon@home am Freitagabend. Spinner verantwortet dort die klinische Infektiologie und ist seit 2020 Pandemiebeauftragter.

Viel habe man seit dem ersten Auftreten des Virus gelernt. Ging man zunächst von einer Lungenerkrankung aus, weiß man heute, dass nahezu alle Körperzellen und Organe betroffen sind. »Davon hängen das klinische Bild und der Verlauf ab«, so Spinner. »Häufigstes betroffenes Organ in der Akutphase ist und bleibt die Lunge. Doch fast jeder dritte Patient erleidet auch eine Thrombose oder Embolie, die mitunter zu Schlaganfällen führen können. Aus Autopsien verstorbener Covid-19-Patienten weiß man, dass bei diesen häufig eine schwere Nierenbeteiligung vorliegt. Jeder zweite schwer Erkrankte weise zudem eine Virushepatitis auf. Auch neurologische Symptome sowie eine Perimyokarditis treten bei einem relevanten Teil der schwer Erkrankten auf. »Letzteres ist ein besonderes Problem für Menschen mit Vorerkrankungen am Herzen«, so Spinner.

Tückisch an einer SARS-CoV-2-Infektion ist zum einen, dass Infizierte auch asymptomatisch hoch infektiös sind und das Virus so weitergeben, ohne von einer eigenen Infektion zu wissen. Zudem kann eine Covid-19-Erkrankung mitunter rapide verlaufen. »Wir hatten Fälle, bei denen morgens die Viruslast noch gering war, aber abends im dreistelligen Millionenbereich lag. Diese Patienten entwickelten innerhalb weniger Stunden Symptome.« 

Nur vier Tage von Symptombeginn bis zum Krankenhaus

Im Schnitt dauert es vom Symptombeginn bis zu einer Pneumonie oder Hospitalisierung vier Tage (vier bis sieben), von Symptombeginn bis zur Intensivstation fünf Tage. Bis zu 14 Prozent der Patienten, die stationär aufgenommen werden, müssen auf die Intensivstation. 17 Prozent der Krankenhauspatienten müssen beatmet werden. Und mehr als jeder fünfte verstirbt (22 Prozent). Derzeit würden auf seiner Intensivstation zwei bis drei Menschen am Tag an Covid-19 sterben. Das seien aufgrund der derzeit hohen Erkrankungszahlen mehr als bislang gesehen. Jedoch sei die Sterblichkeit unter den Intensivpatienten von schätzungsweise 47 Prozent in der ersten Welle auf rund 30 Prozent gesunken. »Das Personal hat mehr Erfahrung und wir haben mehr Therapieoptionen«, erklärte Spinner.

»Die Patienten kommen häufig zu spät ins Krankenhaus«, berichtet Spinner. »Die Virusreplikation steht dann gar nicht mehr so im Vordergrund, sondern die Entzündungsreaktionen.« Gerade Patienten mit Vorerkrankungen sollten nicht zu spät hospitalisiert werden. 

Die Therapie orientiert sich auch am zeitlichen Verlauf der Erkrankung. Manche Medikamente müssen in der frühen, noch nicht schweren Phase von Covid-19 gegeben werden, um wirken zu können. Dazu gehören vor allem antivirale Substanzen wie Remdesivir oder auch Antikörper wie Bamlanivimab. Im späteren Verlauf geht es weniger um die Viruslast, sondern die überschießende Immunreaktion. Daher kommen vor allem immunmodulierende Medikamente wie Steroide und JAK-Inhibitoren, aber auch Antikoagulanzien und Vasodilatatoren zum Einsatz. Die Intensivmediziner haben bereits früh eine Leitlinie herausgegeben, die ständig aktualisiert wird. Als Mittel der Wahl und einzig zugelassenes Medikament gilt derzeit Dexamethason.

Was ist mit den Spätfolgen?

Zunächst einmal sollte man wissen, dass das sogenannte »Long Covid« noch keine einheitliche, international anerkannte Definition bekommen hat. Auch gibt es noch keine einheitlichen Empfehlungen zum Management möglicher Langzeitfolgen. »Schon von SARS-1 und MERS wissen wir, dass es zu psychiatrischen Folgen wie Verwirrung, Angst, Depressionen, Gedächtnis- und Schlafstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen kommen kann«, so Spinner.

Erste Daten aus Wuhan zu SARS-CoV-2 hätten gezeigt, dass 76 Prozent von 1733 aus dem Krankenhaus entlassenen Patienten mehr als drei Monate nach dem Klinikaufenthalt noch über Beschwerden berichteten: 76 Prozent klagten über Müdigkeit oder Muskelschwäche, 26 Prozent über Schlafstörungen und 23 Prozent über Ängste. Etwa die Hälfte zeigt in der Computertomografie noch Infiltrationen der Lunge.

Eine italienische Studie zeigte, dass 60 Tage nach Krankenhausentlassung nur 13 Prozent der Covid-19-Patienten symptomfrei waren. 32 Prozent litten weiterhin unter mindestens einem Symptom, 55 Prozent unter drei oder mehr Symptomen, darunter am häufigsten Fatigue, Dyspnoen und Gelenkschmerzen.

Doch auch nach mildem Covid-19 kann es zu dauerhaften Symptomen kommen, wie eine Studie aus Großbritannien zeigt. Hier gaben von 4182 Befragten 13,3 Prozent in der Selbstanamnese an, auch vier Wochen nach der akuten Erkrankung noch Symptome zu haben. Nach acht Wochen waren es 4,5 Prozent und nach zwölf Wochen noch 2,3 Prozent. »Bei schweren Verläufen brauche jedoch etwa 40 Prozent der hospitalisierten Patienten längerfristig Unterstützung«, so Spinner.

Bei schwer Erkrankten seien anhaltende Einschränkungen der Lunge häufig, berichtet der Infektiologe. Vor allem gebe es Hinweise auf Lungenfibrosen. »Bislang gibt es noch keine Empfehlungen, wie wir mit diesen Patienten umgehen sollen«, so der Arzt. Derzeit werde symptomatisch therapiert, hinzu kommen körperliches Training, Physiotherapie und eine psychosomatische Behandlung. Spinner ist überzeugt: »Wir werden in den nächsten Monaten noch viel über Covid-19 und seine Folgen lernen.« 

Ob SARS-CoV-2 einmal zu einer harmlosen, saisonalen Virusart wird wie andere Coronaviren, mit einer breiten Immunität in der Bevölkerung, bleibe abzuwarten. »Bis dahin brauchen wir die Impfungen«, betonte Spinner.

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