Biologische Systeme statt Moleküle |
Theo Dingermann |
15.10.2023 08:00 Uhr |
Tumorimpfstoffe sind therapeutische Impfstoffe, die zur Behandlung von Krebserkrankungen dienen und eine Immunantwort gegen die Krebszellen vermitteln sollen. Damit unterscheiden sie sich von prophylaktischen Impfstoffen zum Schutz vor Infektionskrankheiten wie Masern oder Grippe (19).
Bisher gibt es nur ein Produkt, das indiese ATMP-Kategorie fällt. Dabei handelt es sich um »Zytokin-aktivierte Killerzellen (CIK-Zellen), frisch oder kryokonserviert, allogen«. Dies sind CD3⁺-CD56-T-Zellen, die zu ≤ 1 × 10⁸ Zellen/kg Körpergewicht in ≤ 100 ml Infusionsdispersion appliziert werden. Das Präparat ist vom PEI in Deutschland im Rahmen einer §4b-Genehmigung (AMG) zugelassen (20). Der Zulassungsinhaber ist der DRK-Blutspendedienst Baden-Württemberg.
Das Medikament wird bei Patienten eingesetzt, bei denen nach erfolgter Stammzelltransplantation ein Rezidiv der Leukämie festgestellt wurde (21).
Die bisherige Erfahrung zeigt, dass ein fairer und gleicher Zugang zur medizinischen Versorgung in Europa, die in der »Arzneimittelstrategie für Europa« der Kommission gefordert wird (22), gerade für ATMP nicht gegeben ist. Der in allen EU-Mitgliedstaaten gültigen einheitlichen Zulassung für das Inverkehrbringen steht eine länderspezifische Vielfalt an Kosten-Nutzen-Modellen, Erstattungsmodellen und gesetzlichen Vorgaben gegenüber. Die teils wenig überzeugenden Wirksamkeitsnachweise und eine begrenzte Nachbeobachtungszeit nach einmaliger Gabe in Verbindung mit hohen Kosten und das Fehlen innovativer Preisbildungsmodelle werden als Gründe genannt, weshalb ATMP nicht oder nur verzögert erstattet werden.
Die Europäische Kommission fordert einen fairen und gleichen Zugang zur medizinischen Versorgung und zu Medikamenten in Europa. Das ist bislang keineswegs selbstverständlich. / Foto: Getty Images/kate_sept2004
Tatsächlich scheitert die Verfügbarkeit bestimmter ATMP meist an der Einigung des pharmazeutischen Unternehmens mit den Krankenkassen. Dann geben die Unternehmen die Zulassung für ihre Produkte zurück und verlassen die nationalen Märkte oder den EU-Markt.
Beispiele sind die beiden Gentherapeutika Skysona® und Zytelgo® desUS-amerikanischen Unternehmens Bluebird (23). Skysona® ist das erste Gentherapeutikum zur Behandlung der zerebralen Adrenoleukodystrophie, einer schweren vererbten neurologischen Erkrankung, und Zynteglo® war zur Behandlung einer schweren Beta-Thalassämie zugelassen.
Zu hoffen bleibt, dass der Zugang zu ATMP mit der neuen EU-HTA-Verordnung (HTA: Health Technology Assessment) verbessert wird, die im Jahr 2025 in Kraft treten wird (24). Mit dieser Verordnung wird die Nutzenbewertung von neuen Therapien erstmals auf europäischer Ebene geregelt. Diese erfolgt dann parallel zur europäischen Zulassung. Ziele sind der schnellere Zugang zu neuen Therapien, die Verringerung von Doppelarbeit und die Harmonisierung der klinischen Bewertung.
Theo Dingermann studierte Pharmazie in Erlangen. Nach Promotion und Habilitation war er bis 2013 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Jetzt ist er Seniorprofessor der Universität. Die Apotheker kennen ihn als Referenten und Autor von wissenschaftlichen Fach- und Lehrbüchern. Der PZ ist er seit April 2010 als externes Mitglied der Chefredaktion, seit Frühjahr 2019 als einer von drei Chefredakteuren und aktuell als Senior Editor verbunden.