Biologische Systeme statt Moleküle |
Theo Dingermann |
15.10.2023 08:00 Uhr |
Unter den bisher zugelassenen ATMP bilden Gentherapeutika die Hauptgruppe. Ein Gentherapeutikum ist ein biologisches Arzneimittel, dessen Wirkstoff eine Nukleinsäure (Träger der Erbinformationen) enthält oder daraus besteht. Es wird eingesetzt, um eine Nukleinsäure-Sequenz zu regulieren, zu reparieren, zu ersetzen, hinzuzufügen oder zu entfernen. Die therapeutische, prophylaktische oder diagnostische Wirkung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der rekombinanten Nukleinsäure-Sequenz, die es enthält, oder mit dem Protein, das auf Basis dieser genetischen Information gebildet wird (5).
Derzeit sind 14 Fertigarzneimittel von der Europäischen Kommission zugelassen (Grafik). Für weitere drei Präparate (Glybera®, Zynteglo® und Skysona®) haben die Hersteller die Zulassung zurückgegeben. Das ist ein hoher Prozentsatz und deutet Probleme an, die generell mit ATMP verbunden sind.
Zeitskala der seit 2009 zentral bei der EMA zugelassenen ATMP (Stand 8/2023); modifiziert nach (6) / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Ein lehrreiches Beispiel ist Glybera®, das als erstes Gentherapeutikum bereits 2012 zugelassen wurde (7). Es wurde zur Behandlung von Erwachsenen mit Lipoprotein-Lipase-Defizienz (LPLD) entwickelt, die trotz fettarmer Diät an schweren oder multiplen Entzündungsschüben der Bauchspeicheldrüse leiden. Ursache ist ein Defekt im Gen für das Enzym Lipoprotein-Lipase, das für den Fettabbau verantwortlich ist. Der Wirkstoff von Glybera, Alipogentiparvovec, enthält eine natürlich vorkommende, hochaktive Variante des Gens für die Lipoprotein-Lipase. Dieses Gen wird mithilfe eines viralen Vektors in das Muskelgewebe der Patienten eingeschleust.
Der Weg zur Zulassung von Alipogentiparvovec war lang und »kurvenreich« (8). Es begann mit der Einreichung eines Erstantrags im Dezember 2009, der vom Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) und vom Ausschuss für neuartige Therapien (CAT) im Juni 2011 abgelehnt wurde. Bei der erneuten Prüfung im selben Jahr blieb einer der beiden Ausschüsse bei seiner ablehnenden Haltung. Als die Europäische Kommission schließlich im Januar 2012 eine erneute Prüfung des Antrags auf Zulassung von Glybera für einen eingeschränkteren Verwendungszweck, nämlich für LPLD-Patienten mit schweren und wiederholten Anfällen von Pankreatitis trotz Einschränkung der Fettaufnahme in der Nahrung, beantragte, gaben sowohl der CHMP als auch der CAT ihre Zustimmung.
Allerdings war die Ernüchterung groß, als erst nach drei langen Jahren die erste zahlende Patientin für das Präparat gefunden wurde. Die Situation verbesserte sich nicht entscheidend, sodass der Hersteller uniQure Glybera nur fünf Jahre später wieder vom Markt nahm.
Hinzu kam, dass die Wirksamkeit von Glybera nie wirklich beeindruckte. Die Blutfettwerte ließen sich nur zeitweilig senken und die Patienten mussten weiterhin strenge Diät halten. Die Zahl der gefährlichen Pankreatitis-Anfälle nahm jedoch spürbar ab und die Betroffenen gewannen ein wichtiges Stück Lebensqualität zurück.
Letztlich scheiterte ein Erfolg jedoch an den hohen Kosten. Die Behandlung an der Berliner Charité schlug mit 900.000 Euro zu Buche. Da die Dosis vom Körpergewicht abhängt, hätten die Kosten bei anderen Patienten leicht die Millionengrenze überschreiten können. Solche Summen wollten die Kassen damals nicht übernehmen.
Dass dieses Beispiel nicht repräsentativ für die klinische Bedeutung der Gentherapeutika ist, lässt sich recht objektiv daran erkennen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit Stand vom 12. April 2021 nur einem von acht begutachteten Präparaten (Imlygic®) keinen belegbaren Zusatznutzen zuerkennt. Den anderen Präparaten wurden entweder ein »nicht quantifizierbarer Zusatznutzen«, ein »Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen« oder ein »Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen« zuerkannt (www.covalue.de/gentherapeutika-in-der-frühen-nutzenbewertung).