Wenn die Muskeln schwinden |
07.12.2016 10:15 Uhr |
Von Hannelore Gießen, München / Ein Muskelabbau im Alter ist normal. Aber ein Drittel aller Pflegeheimbewohner hat mehr an Muskelkraft und Muskelmasse verloren, als dem altersbedingten Abbau entspricht – mit schwerwiegenden Folgen. Mit optimierter Ernährung und körperlichem Training lässt sich eine fortschreitende Sarkopenie aufhalten.
Ab dem fünfzigsten Lebensjahr verliert der Mensch durchschnittlich 1 bis 2 Prozent seiner Muskelmasse und etwa 1,5 Prozent seiner Muskelkraft pro Jahr. Bei manchen Personen geht der Abbau über das normale Maß hinaus, was als Sarkopenie bezeichnet wird. Ursache des starken muskulären Abbaus sind endokrine, neurodegenerative und inflammatorische Veränderungen, berichtete Dr. Eva Kiesswetter vom Institut für Biomedizin des Alters der Universität Nürnberg-Erlangen beim Update Ernährungsmedizin Ende Oktober in München. Vor allem trage jedoch eine unzureichende Ernährung zu einer Sarkopenie bei. In fortgeschrittener Form beeinträchtige diese alle motorischen Funktionen, die ein selbstständiges Leben gewährleisten, sagte die Ernährungswissenschaftlerin.
Etwa ein Drittel aller Senioren in Pflegeheimen leidet unter einem Muskelabbau, der über das altersbedingte Maß hinausgeht. Eine Ursache ist Immobilität.
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Kauen und Schlucken machen älteren Menschen oft Mühe, sodass sie zu wenig essen. Häufig fehlt es auch an Appetit. Doch selbst wenn die Kalorienzufuhr noch ausreicht, nehmen ältere Menschen häufig zu wenig Protein zu sich. »Menge und Qualität des Nahrungseiweißes sind für die Muskelfunktion jedoch besonders wichtig«, betonte Kiesswetter. Bei älteren Menschen ist der Muskelaufbau schwieriger zu stimulieren als bei jüngeren Erwachsenen. Ursache dieser »anabolen Resistenz« seien Entzündungsprozesse und eine verminderte postprandiale Synthese von Protein.
Eiweißmenge und -qualität
Die bisherige Empfehlung der deutschsprachigen Fachgesellschaften von 0,8 g pro kg Körpergewicht (KG) ist für ältere Menschen vermutlich zu gering angesetzt und sollte auf 1,0 bis 1,2 g/kg KG erhöht werden. Optimal sei es, die Eiweißmenge auf alle drei Mahlzeiten zu verteilen, weil die Aufnahmekapazität pro Mahlzeit begrenzt ist, führte die Wissenschaftlerin weiter aus.
Nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität des Proteins ist entscheidend. Besonders gut werden Molkeproteine resorbiert. Diese sind neben der Fraktion der Kaseine ein wichtiger Bestandteil von Milch. Eine 2011 im »American Journal of Clinical Nutrition« (AJCN) publizierte Studie zeigte, dass Molkeprotein schneller als Kasein verdaut wird, die Konzentration an Aminosäuren im Blut früher und deutlicher ansteigt und die Muskelproteinsynthese stärker stimuliert wird (DOI: 10.3945/ajcn.110.008102). Je nach dem Tempo ihrer Metabolisierung unterscheidet man schnelle und langsame Proteine.
Besonders günstig auf die Muskelproteinsynthese wirkt auch der hohe Leucingehalt des Molkeproteins. Die essenzielle Aminosäure stellt nicht nur ein wichtiges Substrat für den Proteinaufbau dar, sondern aktiviert die Synthese auch über einen Signalweg. Leucin ist in tierischen und pflanzlichen Proteinen enthalten, beispielsweise in Rind- und Geflügelfleisch, Lachs und Milchprodukten, aber auch in Weizen, Erbsen und Walnüssen. Möglichst jede Mahlzeit sollte mindestens 2,5 bis 3 g Leucin enthalten, um die Proteinsynthese in den Muskeln optimal anzuregen. Diese Schwelle wird etwa mit 150 g Lachsfilet erreicht.
Neben der Ernährung regt auch körperliche Aktivität den Aufbau von Muskelprotein an. In einer Studie mit 75-jährigen Senioren verbesserte ein kombiniertes Ausdauer- und Krafttraining die postprandiale Muskelproteinsynthese nach einer standardisierten Gabe von 20 g Protein (»AJCN« 2010, DOI: 10.3945/ajcn.2010.29649). Dieser Effekt hielt auch noch einige Tage nach dem Training an.
Zudem verstärkt Bewegungsmangel eine anabole Resistenz. Kombinierte Interventionen, die sich sowohl auf eine gute Proteinversorgung, gegebenenfalls eine Proteinsupplementierung, als auch körperliches Training stützen, hätten sich besonders effektiv erwiesen, um einer Sarkopenie entgegenzuwirken, lautete Kiesswetters Fazit.
Den Muskelaufbau fördern
Lachs ist eine gute, leucinreiche Proteinquelle.
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Ein Metabolit des Leucins, β-Hydroxy- β-Methylbutyrat (HMB), kommt ebenfalls in menschlichen Muskelzellen vor. Die Substanz scheint die Proteinbilanz positiv zu beeinflussen, indem sie den Aufbau von Eiweiß steigert und dessen Abbau hemmt. Die Gabe von HMB zur Prävention und Therapie der Sarkopenie wurde in einigen Studien an älteren und stationären Patienten untersucht. Allerdings ließen sich daraus derzeit keine eindeutigen Empfehlungen für eine HMB-Supplementation ableiten, da Langzeitdaten fehlen, so Kiesswetter.
Ältere Menschen haben häufig einen zu niedrigen Vitamin-D-Spiegel. Meist sind sie zu wenig im Freien, zudem läuft die Biosynthese des Vitamins in ihrer Haut verzögert ab. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf den Knochen-, sondern auch auf den Muskelstoffwechsel aus. Um das Vitamin-D-Defizit zu decken, reichen Sonneneinstrahlung und eine verbesserte Ernährung meist nicht aus und eine Supplementierung mit 800 bis 1000 I.E. Vitamin D pro Tag ist notwendig.
Auch Antioxidanzien und Omega-3-Fettsäuren spielen bei Entzündungsprozessen eine wichtige Rolle. In der InCHIANTI-Studie mit mehr als 900 älteren Probanden war allerdings nur die Gabe von Vitamin C, nicht aber die Supplementierung mit Vitamin E, Retinol und β-Carotin mit einer verbesserten Beinkraft und höherer körperlicher Leistungsfähigkeit assoziiert (»The Journals of Gerontology: Series A« 2014, DOI: 10.1093/gerona/glu181).
Ob Omega-3-Fettsäuren die Muskelproteinsynthese fördern, wurde in einer kleinen Interventionsstudie mit 45 Seniorinnen getestet: Die Gabe von täglich 2 g Fischöl über 90 beziehungsweise 150 Tage unterstützte dabei den Effekt eines dann folgenden Trainings, sodass sich Gehgeschwindigkeit und Griffstärke stärker verbesserten als bei den Probandinnen, die kein Fischöl erhalten hatten (»AJCN« 2012, DOI: 10.3945/ajcn.111.021915).
»Aufgrund der noch unbefriedigenden Studienlage können derzeit keine spezifischen Empfehlungen für die Zufuhr einzelner Supplemente abgeleitet werden«, sagte Kiesswetter. Der Fokus liege auf einer optimierten Ernährung und gezieltem Kraft- und Ausdauertraining. /