»Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit« |
06.12.2011 18:04 Uhr |
Von Annette Mende und Stephanie Schersch, Berlin / Schätzungen zufolge sind in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen von Arzneimitteln abhängig. Mechthild Dyckmans (FDP), Drogenbeauftragte der Bundesregierung, fordert mehr Aufmerksamkeit für diese Erkrankung. Mit der Pharmazeutischen Zeitung sprach sie über Suchtprävention, Arzneimittelwerbung und Probleme im Kampf gegen Designerdrogen.
PZ: In Deutschland sind mehr Menschen abhängig von Arzneimitteln als von Alkohol. Rund 4 bis 5 Prozent aller häufig verordneten Medikamente besitzen Suchtpotenzial. Dennoch ist das Bewusstsein für dieses Problem in der Bevölkerung relativ gering. Woran liegt das?
Dyckmans: Die Arzneimittel-Abhängigkeit ist eine stille Sucht, weil sie weniger auffällt als andere Formen der Abhängigkeit. Daher ist Medikamentensucht in der Bevölkerung auch weniger bekannt. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für diese Erkrankung. Selbst gut ausgebildete Menschen wissen oftmals nicht, dass sie ein Medikament mit einem Abhängigkeitspotenzial einnehmen. Das heißt natürlich nicht, dass sie dieses Arzneimittel nicht nehmen sollen. Aber sie müssen sich der möglichen Gefahr bewusst sein, wenn sie das Medikament nicht wie vorgesehen zeitlich begrenzt einnehmen.
PZ: Wie lässt sich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erreichen? Aufklärungskampagnen zu Arzneimittelsucht und -missbrauch gibt es kaum.
Foto: PZ/Wagenzik
Dyckmans: Es gibt noch großen Aufklärungsbedarf. Seitens der Apotheker gibt es bereits gute Ansätze. Es ist sehr wichtig, dass jeder einzelne Apotheker bei der Abgabe eines entsprechenden Medikaments auf die Gefahr einer Arzneimittelabhängigkeit hinweist. Darüber hinaus müssen wir weitere Beratungs- und Behandlungsangebote für Medikamentenabhängige entwickeln. Außerdem gibt es Selbsthilfegruppen, bei denen Betroffene Hilfe finden.
PZ: Neben verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wie Benzodiazepinen und Psychostimulanzien besitzen auch einige OTC-Präparate Missbrauchspotenzial. Halten Sie ein generelles Werbeverbot für Arzneimittel, auch verschreibungsfreie, für sinnvoll?
Dyckmans: Ich finde es richtig, dass in Deutschland die Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente verboten ist. In den USA zum Beispiel ist das anders. Dort hat die unbeschränkte Werbung für Arzneimittel mit dazu beigetragen, dass es viel mehr medikamentenabhängige Menschen gibt als bei uns. Patienten fordern ihren Arzt dort gezielt auf, ihnen ein bestimmtes Präparat zu verordnen, weil sie die Werbung dafür gesehen haben. Ein Werbeverbot für OTC-Präparate halte ich allerdings nicht für notwendig. Über verschreibungsfreie Medikamente und ihre Gefahren muss der Patient selbstverständlich aufgeklärt werden. Diese Aufgabe übernimmt der Apotheker. Medikamente gehören in die Hände gut ausgebildeten Personals, das den Patienten bei der Abgabe fachkundig berät.
PZ: Heute sind Arzneimittel auch relativ leicht über das Internet zugänglich. Verschreibungspflichtige Medikamente erhält man dort oftmals mühelos ohne Rezept. Trägt das zum Problem von Arzneimittelsucht und -missbrauch bei?
Dyckmans: Ja, alles, was die Zugänglichkeit von Arzneimitteln erleichtert, kann das Problem verschärfen. Im Internet gibt es keine echte Sicherheit, dass ein verordnetes Medikament tatsächlich an denjenigen gelangt, dem es verschrieben wurde. Ich komme wieder auf das Beispiel USA zurück: Dort werden Medikamente wie Pizza ausgeliefert. Das möchte ich in Deutschland nicht haben. Ich kann nur sagen: Wehret den Anfängen.
PZ: Sie haben bereits angesprochen, dass Apotheker durch ihre Beratung eine wichtige Rolle in der Prävention von Arzneimittelsucht übernehmen. Wie könnten sie ihr Engagement weiter ausbauen?
Dyckmans: In der Zusammenarbeit zwischen Apotheke und Suchthilfe kann noch mehr getan werden. Der Apotheker bekommt in der Regel relativ schnell mit, ob ein Patient gefährdet ist, abhängig zu werden. In einem solchen Fall ist es natürlich nicht seine Aufgabe, Suchtberatung anzubieten. Wichtig ist, dass er weiß, wo der Patient Hilfe bekommt und an wen er ihn verweisen kann. Apotheken und Suchthilfeinrichtungen sollten daher vor Ort kooperieren. Für den Apotheker ist es sehr viel einfacher, einen Patienten vom Besuch einer Suchthilfeeinrichtung zu überzeugen, wenn er die Leute dort persönlich kennt.
PZ: Können Sie sich vorstellen, dass Apotheker darüber hinaus Aufgaben in anderen Bereichen der Suchtprävention und -erkennung übernehmen?
Dyckmans: Ich glaube schon, dass die Apotheker hier, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, einiges leisten können, zum Beispiel im Bereich der Tabakentwöhnung. Wenn ein Raucher mit starkem Husten in die Apotheke kommt, kann der Apotheker ihn auf die Möglichkeiten einer Raucherentwöhnung hinweisen. Wichtig ist aber auch, dass sich Arzt und Apotheker vor Ort gut vernetzen. Dann kann der Patient gleich von mehreren Seiten gezielt auf Hilfsmöglichkeiten hingewiesen werden.
PZ: In Baden-Württemberg läuft gerade ein Projekt, bei dem Apotheker und Hausärzte sehr erfolgreich im ambulanten Entzug Benzodiazepin-Abhängiger zusammenarbeiten. Gibt es auch bundesweit eine Perspektive für solche Projekte?
Dyckmans: Das Projekt läuft in Baden-Württemberg nach ersten Anlaufschwierigkeiten inzwischen sehr gut. Wir müssen abwarten, welche Ergebnisse das Projekt bringt. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass wir dieses Modellprojekt auf die gesamte Bundesrepublik übertragen können.
PZ: Das ABDA-KBV-Modell setzt gezielt auf eine engere Kooperation von Arzt und Apotheker. Könnte das Konzept damit auch Projekten im Bereich Suchtentwöhnung den Weg bereiten?
Dyckmans: Das ABDA-KBV-Modell ist bei vielen Ärzten anfangs auf Widerstand gestoßen. Es könnte aber helfen, Abhängigkeiten frühzeitig zu erkennen. Daher halte ich es für richtig, dass im Versorgungsstrukturgesetz für die Gesetzliche Krankenversicherung die Möglichkeit geschaffen wurde, das Konzept in Modellregionen zu testen. Wir müssen schauen, wie sich das Ganze entwickelt und die Ergebnisse der Modellphase abwarten. Dabei dürfen wir aber nicht zu ungeduldig sein, die Anfangsschwierigkeiten sind oftmals immens.
PZ: Seit November wird Flunitrazepam nur noch auf BtM-Rezept verordnet. Gibt es Hinweise darauf, dass sich die Verschreibungen nun auf andere Benzodiazepine verlagern, und plant die Bundesregierung, in der Folge auch weitere Benzodiazepine unter BtM-Gesetz zu stellen?
Dyckmans: Es gibt noch keine konkreten Anzeichen für ein geändertes Verschreibungsverhalten. Wenn es so wäre, müssten wir natürlich handeln. Wir beobachten das sehr genau. Derzeit ist aber nicht geplant, weitere Benzodiazepine unter das BtM-Gesetz zu stellen.
PZ: Eine große Herausforderung für die Behörden sind die sogenannten Legal Highs. Diese Substanzen imitieren die Wirkung illegaler Drogen, sind selbst aber noch legal zu haben. Der Bundesregierung liegt ein Gutachten vor, demzufolge die Unterstellung ganzer Substanzklassen unter das BtM-Gesetz möglich wäre. Wie weit sind Sie mit der Prüfung dieses Gutachtens?
Dyckmans: Das Gutachten wird derzeit von der Bundesregierung geprüft. Wir müssen schauen, inwiefern wir die Vorschläge des Gutachtens übernehmen können. Viele Jugendliche und junge Erwachsene glauben, diese neuen psychoaktiven Substanzen seien eine ungefährliche »legale« Alternative zu Cannabis. Diesen Irrglauben müssen wir beenden. Und wir müssen den Herstellern und Händlern das Handwerk legen. Hier entstehen bereits Strukturen einer organisierten Kriminalität.
PZ: Die Grünen-Fraktion im Bundestag fordert, das sogenannte Drug-Checking zu legalisieren. Dabei testen Experten Drogen auf ihre Inhaltsstoffe und klären den Konsumenten anschließend über mögliche Risiken auf. Was halten Sie davon?
Dyckmans: Es gibt die Möglichkeit, über die Apotheken Substanzen auf ihre Inhaltsstoffe prüfen zu lassen. Drug-Checking zu legalisieren, halten wir von der Bundesregierung aber für das falsche Signal. Denn erstens bleibt eine Substanz gefährlich, auch wenn keine Verunreinigungen wie Blei oder Glassplitter darin enthalten sind. Und zweitens kann man immer nur eine Einzelprobe prüfen, die allerdings keine Rückschlüsse auf die »Qualität« einer ganzen Charge von Drogen zulässt. /
Der Auftrag der Apothekenbetriebsordnung ist eindeutig: »Das pharmazeutische Personal hat einem erkennbaren Arzneimittelmissbrauch in geeigneter Weise entgegenzutreten.« Doch woran lässt sich der Missbrauch von Arzneimitteln eigentlich erkennen? Welches sind die problematischen Präparategruppen? Und die vielleicht wichtigste Frage: Wie soll man sich verhalten, wenn man den Verdacht hat, dass ein Patient seine Medikamente ohne eigentliche Indikation, also missbräuchlich einnimmt? Antworten auf diese Fragen gibt der gerade aktualisierte Leitfaden der Bundesapothekerkammer »Medikamente: Abhängigkeit und Missbrauch – Leitfaden für die apothekerliche Praxis.« Dieser ist auch online unter www.abda.de/medikamentenmissbrauch.html abrufbar.