Chancen und Gefahren |
06.12.2011 13:23 Uhr |
Von Maria Pues, Heidelberg / Was ist personalisierte Medizin – Hype oder Hope, Fluch oder Segen? Darüber diskutierten Mitglieder und Gäste der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Eines scheint sicher: Eine einfache Antwort kann es nicht geben.
Mutation gefunden, Diagnose klar, Behandlung auch – so einfach und eindeutig funktionieren die Verknüpfungen nicht, so sehr sich Ärzte und Patienten das auch wünschen mögen. Am Beispiel von »genomischen Landkarten« zweier Tumortypen demonstrierte Professor Dr. Peter H. Krammer dies in einem Vortrag anlässlich einer Podiumsdiskussion vor Mitgliedern und Gästen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Unterschiede sind groß
Die Peaks seien zwar charakteristisch für bestimmte Tumorarten, doch gebe es starke interindividuelle Unterschiede, erläuterte der Sprecher des Forschungsschwerpunktes Tumorimmunologie am Deutschen Krebsforschungszentrum und Leiter der Abteilung Immunogenetik. Auch das Tumorgewebe selbst sei kein homogenes Gebilde, sondern heterogen aufgebaut. Weitere Unterschiede gebe es zwischen den Geweben von Primärtumor und Metastasen. Bei den Mutationen müsse man außerdem sogenannte »Driver« und »Passenger« unterscheiden. Erstere bedingen die Tumorinitiation und -progression, Letztere eher »Kollateralschäden«, so der Immunologe.
Dass Gewebe desselben Tumortyps sich stark unterscheiden können, zeigten auch erste Zwischenergebnisse des International Cancer Genom Consortium, die eine unerwartet hohe Anzahl von Mutationen fanden. Insgesamt 50 Tumorentitäten haben sich die Wissenschaftler weltweit vorgenommen, in Deutschland forscht man über kindliche Hirntumore, maligne Lymphome und Prostatakarzinome. Pro Projekt sollen die Genome von 500 Patienten sequenziert werden, um Informationen über Tumorgewebe und gesunde Gewebe zu erhalten. Über die einzelnen Projekte dieses weltweiten Forschungsnetzwerks informiert die Website www.icgc.org.
Eine Weiterentwicklung der derzeitigen Möglichkeiten könnte darin bestehen, anhand des Genoms frühzeitig Informationen über drohende Erkrankungen zu erhalten. Das ermöglicht jedoch nicht zwangsläufig auch eine frühe Intervention. So ließe sich zum Beispiel bereits heute im Kindesalter feststellen, ob jemand nach seinem vierzigsten Geburtstag an einem Morbus Huntington erkranken werde, ohne dass man dies aber verhindern könnte, erläuterte Krammer.
Wie geht man mit einer solchen Prognose um? Diese Frage stellt sich nicht nur Betroffenen, sondern auch Ärzten und Apothekern angesichts ratsuchender Patienten (lesen Sie dazu auch Seite 40). Hoffen auf den medizinischen Fortschritt ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Ein risikoreiches Verhalten nach dem Prinzip »Jetzt erst recht, solange es noch geht« ist ebenso denkbar wie ein Suizid zum Vierzigsten. Und auch – »Brave New World« – die Forderung von Versicherern nach solchen Analysen zwecks Kalkulierung des Risikos und der Beitragshöhe. Auch Arbeitgeber könnten sich für die Genome ihrer Mitarbeiter interessieren.
Belastung für Betroffene
Dass die Möglichkeiten derart frühzeitiger Diagnostik viele Betroffene stark belasten, darf als wahrscheinlich gelten. Dies zeigt sich bereits heute in Familien, in denen gehäuft Brustkrebserkrankungen aufgetreten sind. Es gibt Frauen, die sich aufgrund eines erhöhten Risikos vorsorglich die Brust amputieren ließen. Und zwischen Analyse und Ergebnis: Wie geht man mit der Wartezeit um? Wie mit dem Druck durch Familie und Freunde, eine Analyse vornehmen zu lassen, obwohl man selbst es möglicherweise gar nicht will?
Foto: Fotolia/Videnovic
Zur Beobachtung und Beurteilung von Tumoren über die Zeit der Behandlung eigneten sich die Möglichkeiten der Genomanalyse auch eher selten, berichtete Krammer weiter. Diese liefere zwar bei Tumoren des blutbildenden Systems verwertbare Ergebnisse, nicht jedoch bei soliden Tumoren. Deren Gewebe seien meist zu heterogen aufgebaut.
In der Tumortherapie gebe es jedoch auch Ansätze, die Hoffnung machten. So seien neue Angriffspunkte vor dem Hintergrund der Erforschung von Signalwegen und Rezeptor-Polymorphismen denkbar. Das Ziel besteht hier darin, ein krankhaftes Geschehen gezielt über verschiedene Signalwege zu beeinflussen, etwa Wachstumsfaktoren oder -hormone. So könnten zum Beispiel Resistenzen umgangen werden.
Neue Biomarker könnten zudem die Diagnostik verbessern. Eine Kombination aus Epidemiologie und individueller Analyse könnte außerdem Auskunft über die Variabilität von Individuen innerhalb einer Population geben und eine individualisierte Therapie ermöglichen, wie dies in Ansätzen bereits in der Behandlung des Brustkrebses mit Trastuzumab (Herceptin®) der Fall ist. Auch Mutationen, die zu Veränderungen im Cytochrom-System der Leber und so zu einem veränderten Metabolismus zahlreicher Arzneistoffe führen, lassen sich bereits heute identifizieren und eine Pharmakotherapie entsprechend anpassen.
Dass die Reise tatsächlich in Richtung individualisierte oder personalisierte Medizin geht, bezweifeln allerdings manche Wissenschaftler. Sie halten die Bezeichnung »stratifizierte Medizin« für richtiger. Bei dieser werden Patientenpopulationen in Strata, klinisch relevante Untergruppen, unterteilt. Diese zeichnen sich durch ein gemeinsames Erkrankungsrisiko aus oder sprechen besonders gut auf bestimmte Therapien an.
Euphorie und Unbehagen
Professor Dr. Anthony Ho von der Universitätsklinik Heidelberg warnte: Möglicherweise führe dies zur Entwicklung teurer Nischenpräparate für eine privilegierte Minderheit, zu einer Inflation der Diagnostik und Explosion der Entwicklungskosten. Er hält es darüber hinaus für vermessen, aus der Analyse weniger Zellen, die selbst genetisch instabil sind, Rückschlüsse auf einen gesamten Tumor zu ziehen.
Auf alle sich ergebenden Fragen könne die Medizin nicht allein eine Antwort geben, betonte Krammer. Man brauche die Unterstützung von Juristen, Psychologen, Sozialwissenschaftlern und Vertretern weiterer Fachbereiche, um den Anforderungen gerecht zu werden, die mit den neuen technischen Möglichkeiten verbunden seien beziehungsweise sein könnten. Denn vieles überblicke man noch gar nicht.
So schwanken viele Wissenschaftler zwischen Euphorie angesichts zahlreicher möglicher Ansätze für Diagnose und Therapie und Unbehagen angesichts eines möglichen Missbrauchs der Möglichkeiten. Ho betonte, dass man den Patienten keine falschen Versprechen machen dürfe. Nur sehr wenige Ergebnisse aus den Laboren hätten bislang Eingang in die klinische Praxis gefunden. /