Jetzt kommen die Spätschäden |
27.11.2013 10:07 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Contergangeschädigte sind jetzt in einem Alter, in dem sie zunehmend unter Spätfolgen ihrer Behinderung leiden. So haben viele Betroffene chronische Schmerzen oder auch Schäden an den inneren Organen. Ein Symposium der Ärztekammer Nordrhein und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein machte auf dieses lange unterschätzte Thema aufmerksam.
Contergangeschädigte haben gelernt, ihren Alltag mit Disziplin und Erfindungsreichtum zu meistern. Sie kämmen sich mit den Füßen, öffnen Flaschen mit den Zähnen und manövrieren den Einkaufswagen mit dem Kinn durch den Supermarkt. Jetzt aber – in einem Alter von Anfang bis Mitte fünfzig – stoßen Contergangeschädigte an ihre Grenzen, denn jetzt treten infolge der täglichen Fehl- und Überbelastungen gehäuft zusätzliche medizinische Probleme auf. Schmerzhafte Verschleißerscheinungen an Wirbelsäule und Gelenken sowie Muskelverspannungen stehen im Vordergrund und schränken die Beweglichkeit erheblich ein. Aber auch innere Organe – das ist wenig bekannt – können durch Thalidomid (Contergan) von Geburt an geschädigt sein, wobei sich entsprechende Funktionseinbußen mit den Jahren zuspitzen.
Je nachdem in welcher Entwicklungsphase der Fetus dem Wirkstoff Thalidomid ausgesetzt war, können auch innere Organe, vor allem das Gefäßsystem und die Nieren geschädigt, sein.
Foto: dpa
Contergangeschädigte befinden sich aktuell in einer existenziellen Umbruchphase und sehen ihre mühsam erkämpfte Selbstständigkeit in Gefahr. Das wurde bei dem Symposium deutlich, das die Ärztekammer Nordrhein und die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein am 16. und 17. November 2013 gemeinsam in Düsseldorf veranstaltet haben. Und es wurde deutlich, dass man die Contergan-Spätfolgen bislang unterschätzt hat.
Selbstständigkeit in Gefahr
Für manche der oft komplexen medizinischen Probleme gibt es keine ausgereiften Therapiekonzepte. Vor allem aber fehlt eine flächendeckende qualitativ hochwertige Versorgung. Die rund 2700 Contergangeschädigten, die heute in Deutschland leben, sehen sich nicht selten mit einem Mangel an ärztlichem Spezialwissen, aber auch mit Unverständnis konfrontiert. Darüber haben Betroffene beim Symposium in Düsseldorf übereinstimmend berichtet.
Angst vorm Zahnarzt
Ein Beispiel: die zahnmedizinische Versorgung. Bei Contergangeschädigten kann es passieren, dass die Betäubung nicht so anschlägt, wie dies zu erwarten wäre. Die Ursachen sind nicht abschließend geklärt, eventuell könnten Gefäßanomalien eine Rolle spielen. Das Hauptproblem dabei ist, dass Zahnärzte häufig über dieses Phänomen nicht informiert sind, sie trauen laut den Betroffenen deren Aussagen nicht und behandeln ohne optimale Analgesie. Das hat dazu geführt, dass viele Contergangeschädigte gar nicht mehr zum Zahnarzt gehen.
Das ist umso dramatischer, als die Zähne für Contergangeschädigte ein wichtiges Instrument darstellen, mit dessen Hilfe sie ihren Alltag bewältigen. Fehlbildungen der Hände werden oft mit dem Mund kompensiert. Mit den Zähnen werden Gegenstände gegriffen und getragen. Entsprechend stark ist die Abnutzung vor allem der Frontzähne, die unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Funktion regelmäßig instand gesetzt werden müssen. Hinzu kommt, dass viele Contergangeschädigte nicht in der Lage sind, ihre Zähne optimal zu pflegen. Deshalb ist öfter als gewöhnlich eine zahnärztliche und mundhygienische Prophylaxe erforderlich, betonte Professor Dr. Peter Gängler von der Abteilung für Zahnerhaltung und Präventive Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke.
Grundsätzlich stellt die Behandlung von Conterganpatienten die Ärzte vor besondere Herausforderungen. Darüber berichtete auch Professor Dr. Klaus Peters, Abteilung für Orthopädie und Osteologie der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht. Die orthopädische Rehabilitation von Contergangeschädigten müsse – das werde oft nicht beachtet – bereits vor der Operation beginnen, betonte Peters. In den meisten Fällen sei es erforderlich, spezielle Gehhilfen anzufertigen, die den Patienten eine frühe Belastung etwa nach einer Hüftoperation ermöglichen und deren Handhabung bereits vorher trainiert werden müsse.
Die orthopädischen Folgeerkrankungen, an denen die meisten Contergangeschädigten leiden, sind auf Fehl- und Überbelastungen sowohl vorgeburtlich geschädigter als auch ursprünglich gesunder Körperteile zurückzuführen. Es handelt sich um fortschreitende Gelenkarthrosen beziehungsweise Wirbelsäulenveränderungen und Muskelverspannungen. Auch Kleinwüchsigkeit bei Fehlbildungen der unteren Extremitäten führt auf Dauer zu orthopädischen Problemen.
Die Folgeschäden im Bereich des Bewegungsapparats gehen mit zunehmenden Funktionseinschränkungen einher. Besonders betroffen sind feinmotorische Tätigkeiten, die zum Beispiel bei der Körperpflege erforderlich sind, sowie körperlich anstrengende Arbeiten wie etwa beim Putzen. Die Bewältigung des Alltags wird dadurch erschwert, und mehr und mehr wird fremde Hilfe erforderlich.
Schmerzen gehören zum Alltag
Außerdem gehören infolge der komplexen orthopädischen Probleme Schmerzen für viele Contergangeschädigte zum Alltag. In der 2012 publizierten Nationalen Contergan-Studie, die erstmals umfassende belastbare Daten lieferte, berichteten insgesamt 84,3 Prozent der Befragten über Schmerzen. In 50 Prozent der Fälle treten die Schmerzen täglich auf, in 39 Prozent bestehen Dauerschmerzen. Bei schwerer beziehungsweise multipler Schädigung leiden 100 Prozent der Betroffenen unter starken Schmerzen.
Wie Dr. Kilian Kalmbach von der Abteilung für Anästhesie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie, Evangelisches Krankenhaus Köln-Kalk, erklärte, besteht schmerztherapeutisch grundsätzlich in Deutschland eine Unterversorgung. Ziel müsse es sein, mit einer individuellen Strategie unter Ausschöpfung medikamentöser und nicht-medikamentöser Verfahren die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Speziell bei komplexen Schmerzsyndromen, wie sie bei Contergan-Patienten häufig vorliegen, sei Schmerzfreiheit nicht immer zu erreichen. Kalmbach betonte die Wichtigkeit der aktivierenden Physiotherapie. Die Beweglichkeit der Patienten zu erhalten beziehungsweise wieder herzustellen, sei entscheidend für die langfristige Lebensqualität. Unbedingt müsse verhindert werden, dass Contergangeschädigte in einen Teufelskreis aus Schmerz, Depression und Isolation hineingeraten.
Laut der Nationalen Contergan-Studie würden 80 Prozent der Betroffenen nach eigenen Angaben gerne regelmäßig (das heißt mehrmals wöchentlich) Physiotherapie in Anspruch nehmen. In mehr als einem Drittel der Fälle ist dieser Bedarf jedoch nicht gedeckt.
Erhöhtes Infarktrisiko
Über Missbildungen innerer Organe und des Blutgefäßsystems im Zusammenhang mit Contergan referierte beim Symposium Dr. Christina Ding-Greiner vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Ding-Greiner ist Mitautorin der Nationalen Contergan-Studie, in der 870 Betroffene und 62 Ärzte intensiv zur aktuellen Situation Contergangeschädigter befragt wurden. Die durch Contergan hervorgerufenen Schädigungsmuster sind sehr heterogen und richten sich danach, in welcher Entwicklungsphase der Embryo dem Wirkstoff Thalidomid ausgesetzt war. Fast alle inneren Organe können betroffen sein, wobei solche Schäden oft erst relativ spät auffallen, berichtete die Medizinerin.
Im Alltag kommen Contergangeschädigte meist gut zurecht. Doch auf Dauer können die Fehl- und Überbelastungen zu Problemen führen. Chronische Schmerzen sind häufig.
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Fest steht, dass das kardiovaskuäre System in einem weit größeren Ausmaß betroffen ist als bislang bekannt. Thalidomid kann zu Störungen sowohl der Vaskulogenese (Gefäßneubildung) als auch der Angiogenese (Gefäßaussprossung) führen. Atypische Gefäßverläufe, Gefäßabbrüche, Wandschwäche sowie reduzierte Gefäßlumina sind beschrieben. Mit solchen Missbildungen könnte das nachweislich erhöhte Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko von Contergangeschädigten zusammenhängen.
Auch Nierenschäden sind keine Seltenheit. Manchmal ist nur eine Niere angelegt, aber auch andere Missbildungen kommen vor. In der Folge kann sich eine fortschreitende Niereninsuffizienz entwickeln. Oft spielt dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass Contergangeschädigte zu wenig trinken, um assistierte Toilettengänge zu vermeiden. Unterm Strich erleben Contergangeschädigte ihre physische Lebensqualität ähnlich eingeschränkt wie eine um zwanzig Jahre ältere Gruppe der »Normalbevölkerung«. Dieses dramatische Ergebnis der Heidelberger Studie geht Hand in Hand mit einer steigenden Zahl depressiver Erkrankungen.
Versorgungsnetz gefordert
Auch dies unterstreiche die Notwendigkeit, bessere Versorgungsstrukturen für Contergangeschädigte zu schaffen, betonte Professor Dr. Christian Albus von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsklinik Köln. Dabei seien eine optimierte Schmerztherapie, die Sicherstellung adäquater Assistenzmöglichkeiten sowie eine ausreichende finanzielle Unterstützung vorrangig.
Finanziell hat die Nationale Contergan-Studie einen großen Fortschritt für Geschädigte gebracht: Eine auf Basis der erhobenen Daten vorgenommene Gesetzesänderung hat mit Wirkung zum 1. Januar 2013 zu einer Anhebung der Renten von maximal 1155 Euro auf maximal 6912 Euro geführt. /