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Neuro-Aids

Wenn das Virus die Nerven angreift

29.11.2011  18:04 Uhr

Von Stefan Oetzel / Das HI-Virus attackiert nicht nur das Immunsystem, sondern kann auch das zentrale und periphere Nervensystem der Patienten angreifen und so zunehmend schädigen. Solche mit einer HIV-Infektion verbundenen neurologischen Erkrankungen werden zusammenfassend als Neuro-Aids bezeichnet.

Dank des Fortschritts, der in den letzten Jahren bei der medikamentösen Therapie erreicht wurde, können HIV-infizierte Patienten mittlerweile viele Jahre lang verhältnismäßig uneingeschränkt leben. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung werden jedoch die Langzeitfolgen, die mit der Infek­tion selbst, aber auch der antiretroviralen Therapie verbunden sind, zunehmend deutlich. Hierzu gehören unter anderem Komplikationen, die das zen­trale und/oder periphere Nervensystem betreffen. Bei rund 60 bis 80 Prozent aller HIV-infizierten Patienten treten neurologische Erkrankungen auf. Beispiele hierfür sind HIV-assoziierte Demenz und ihre Vorstufen, Polyneuropathien, Myelopathien sowie das Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS).

Auch infolge von opportunistischen Infek­tionen wie Kryptokokken-Menin­gitis oder Toxoplasmose kann es zu Schädigun­gen des zentralen Nervensystems kommen (mehr dazu: Opportunistische Infektionen: Kryptokokken im Gehirn). Mit Aids assoziierte Tumoren wie das Non-Hodgkin-Lymphom können auf das Gehirn übergreifen und so ebenfalls zu neurologischen Ausfallerscheinungen führen. Zudem entwickeln viele HIV-infizierte Patienten im Verlauf ihrer Krankheit Depressionen. Dabei ist nicht in allen Fällen die Diagnose »HIV/Aids« an sich Ursache für die Störung, sondern auch das Virus selbst kann die Gehirnchemie verändern und so eine Depression auslösen.

 

HI-Virus gelangt ins Gehirn

 

Das HI-Virus ist in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und ins Gehirn vorzudringen. Dort befällt es die Astrozyten, verändert deren Signalgebung und verursacht so letztlich ein Absterben der Neurone. Das Virus setzt aber auch Prozesse der Immunabwehr in Gang, die zusätzlich das Nervengewebe angreifen. Diese Vorgänge können über Vorstufen wie das »asymptomatische HIV-assoziierte neuropsychologische Defizit« und das »milde HIV-assoziierte neurokognitive Defizit« schließlich zu einer HIV-­assoziierten Demenz führen.

 

Zwischen 7 und 27 Prozent der Patienten in den Spätstadien der Infektion sind von einem Demenz-Vollbild betroffen, rund 30 bis 40 Prozent leiden unter leichter ausgeprägten Formen. Das charakteristische Krankheitsbild der HIV-­assoziierten Demenz hat sich seit einigen Jahren gewandelt: Bis zu Beginn des Jahrtausends entwickelten sich zunächst parkinsonähnliche motorische Symptome wie schlurfender Gang, steife und eng am Körper liegende Arme und zitternde Hände. Erst im weiteren Verlauf kam es zu Gedächtnis- nd Konzentrationsstörungen sowie zu Denkverlangsamung und Flexibilitätsverlust. Heutzutage fehlen meist deutliche motorische Beeinträchtigungen. Stattdessen stehen Einbußen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung, sprachliche Fähigkeiten, Ab­straktionsvermögen, Gedächtnis und Wahrnehmungsgeschwindigkeit im Vordergrund. Die Ursache für diesen Wandel des Krankheitsbildes ist noch nicht abschließend geklärt.

 

Behandelt wird die HIV-assoziierte Demenz in erster Linie mit einer hoch aktiven antiretroviralen Therapie (HAART). Dabei ist es wichtig, möglichst liquorgängige antiretrovirale Substanzen miteinander zu kombinieren, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Die Liquorgängigkeit ist insbesondere belegt für die nucleosidischen Reverse-Transkriptasehemmer (NRTI) Azidothymidin (Zidovudin), Abacavir, Lamivudin, Didanosin, Stavudin, für die nichtnucleosidischen Reverse-Transkriptasehemmer (NNRTI) Nevirapin und Efavirenz sowie die Proteasehemmer Indinavir, Lopinavir und Atazanavir. Bei Versagen der HAART sollte der Arzt breit wirksame antivirale Substanzen, zum Beispiel Foscarnet oder Cidofovir, einsetzen sowie gegebenenfalls Antidepressiva unter Beachtung der pharmakokinetischen Interaktionen.

 

So kann es beispielsweise bei gleichzeitiger Gabe von trizyklischen Antidepressiva (TCA) und Proteasehemmern zu erhöhten, eventuell sogar toxischen TCA-Spiegeln kommen, beim Einsatz von NNRTI hingegen zu verminderten Konzentrationen des Antidepressivums und damit zu einer reduzierten Wirksamkeit. Hintergrund ist, dass die HIV-Medikamente den Abbau der TCA über die Leber (vor allem CYP-3A4) entsprechend beeinflussen. Daher sollte der Arzt die jeweilige Therapie dementsprechend anpassen.

 

Die Rolle der Zytokine

 

Das HI-Virus beeinflusst bestimmte Zytokine, die als Botenstoffe des Immunsystems fungieren, und löst so wahrscheinlich zerstörerische Entzündungsprozesse im Gehirn aus. Demnach wäre die Blockade solcher aggressiver Zytokine für die Zukunft ein weiterer möglicher Ansatzpunkt für die Behandlung einer HIV-assoziierten Demenz. Entsprechende Untersuchungen hierzu laufen bereits.

 

Etwa 30 bis 50 Prozent aller HIV-infizierten Patienten sind von einer Poly­neuropathie betroffen, leiden also aufgrund der Infektion oder infolge der antiretroviralen Medikamente unter einer Erkrankung des peripheren Nervensystems. Die Betroffenen klagen über Missempfindungen an den Füßen und Beinen wie Brennen, Pelzigkeit, Kribbeln, Krämpfe oder Taubheitsgefühl. Meist später treten motorische Symptome wie Schwund der kleinen Hand- und Fußmuskulatur, Reflexverlust oder -abschwächung sowie gelegentliche Muskelzuckungen auf. Hinzu können autonome Störungen kommen wie gestörte Schweißsekretion, Erektionsstörungen oder Herzrhythmusstörungen. Polyneuropathien treten in sehr unterschiedlichen klinischen Verlaufsformen auf, sind meistens fortschreitend. Die Symptome breiten sich von den unteren Gliedmaßen auf die oberen aus.

Kausal lassen sich Polyneuropathien – je nach klinischer Ausprägung – beispielsweise mit Immunglobulinen oder Corticosteroiden behandeln. Bei medikamentös-toxisch induzierten Formen kann ein Absetzen der toxischen Substanz in Absprache mit dem internistischen HIV-Behandler notwendig sein. Die HAART sollte möglichst unter Ausschluss potenziell neurotoxischer Substanzen erfolgen. Darüber hinaus kann eine symptomatische Schmerztherapie beispielsweise mit den Antikonvulsiva Gabapentin, Lamotrigin, Carbamazepin, dem Opioid Buprenorphin oder dem Antidepressivum Amitriptylin indiziert sein.

 

Scherengang durch Spastik

 

Eine HIV-Infektion kann auch Myelopathien – Schädigungen des Rückenmarks – nach sich ziehen, wobei die überwiegende Zahl der Patienten erst spät im Verlauf der Infektion daran erkrankt. Ein frühes Zeichen sind Fehlempfindungen (Parästhesien, Dysästhesien), weil Sinnesreize durch das Rückenmark nicht mehr ordnungsgemäß an das Gehirn geleitet und daher von diesem missverstanden werden. Bei fortschreitender Erkrankung steigt die Muskelanspannung und der Patient leidet zunehmend unter Gangstörungen, die durch sogenannten Scherengang, bei dem die Beine überkreuzt werden, beziehungsweise spastische Lähmung der Beine gekennzeichnet sind. Zudem kommt es vermehrt zu Blasenentleerungsstörungen. Am Ende der Erkrankung sind die Patienten nicht mehr selbstständig gehfähig und brauchen Hilfe im Alltag.

 

Vor der Behandlung müssen zunächst alle anderen Ursachen einer Myelopathie ausgeschlossen werden. Kommt nur noch eine HIV-assoziierte Rückenmarksschädigung infrage, dann ist eine konsequente antiretrovirale Therapie die beste Wahl, das heißt, der behandelnde Arzt sollte eine HAART einleiten beziehungsweise intensivieren. Darüber hinaus können weitere symptomatische Behandlungen notwendig werden, zum Beispiel krankengymnastische Übungen, Schmerztherapie, Einsatz von Botulinumtoxin bei Fehlstellungen der Gelenke, Behandlung der Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen.

 

Eine relativ neue Komplikation einer HIV-Infektion ist das sogenannte Immunrekonstitutionssyndrom (Immune Reconstitution Inflammatory Syndrom, IRIS). Das IRIS entwickelt sich meist kurz nach Beginn einer HAART, während der sich die Patienten zunächst gut erholen. Dann bewirkt die hochaktive antiretrovirale Therapie jedoch eine übermäßige Stimulation des Immunsystems und aktiviert so Entzündungszellen im Gewebe und auch im Gehirn. Irreversible neurologische Schäden können die Folge sein. Diese Entzündungsreaktion kann zudem eine subklinische opportunistische Krankheit (Infektion oder Tumor) demaskieren, also symptomatisch werden lassen. Auch bereits behandelte opportunistische Infektionen können wieder aufflammen.

 

Bei Patienten, die ein solches Immunrekonstitutionssyndrom entwickeln, sollte die HAART vorsichtig eingesetzt werden, also zum Beispiel erst nach erfolgreicher Behandlung einer opportunistischen Infektion begonnen werden. Umstritten ist die Gabe von Corticosteroiden: Sie kann einerseits lebensrettend sein, andererseits aber auch das Immunsystem erneut schwächen. Hier muss der behandelnde Arzt jeweils von Fall zu Fall entscheiden. / 

 

Literatur

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