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Tuberöse Sklerose

Ersatzbremse Everolimus

19.11.2012  16:20 Uhr

Von Sven Siebenand, Nürnberg / Ob als Wirkstoff nach Transplantationen, bei Nierenkrebs oder Mammakarzinom: Der mTOR-Inhibitor Everolimus mausert sich fast zu einem Tausendsassa. Ende Oktober hat die Europäische Arzneimittelbehörde EMA grünes Licht für die Behandlung einer weiteren Erkrankung gegeben. Dabei handelt es sich wie im Vorjahr um eine Unter­gruppe von Patienten mit tuberöser Sklerose.

Die tuberöse Sklerose (TSC) ist eine komplexe Systemerkrankung, die zu Fehlbildungen und Entstehung von Tumoren in fast allen Organen führen kann. »Es handelt sich um eine Erkrankung, die sich mosaikartig manifestiert«, sagte Professor Dr. Michael Fischereder vom Universitätsklinikum München auf einer Presseveranstaltung von Novartis Pharma. Der Mediziner informierte, dass die Erkrankung oft schon im Säuglings- oder Kindesalter auftritt, es aber auch noch Diagnosen bei Erwachsenen gibt. In Deutschland leben schätzungsweise 8000 Menschen mit dieser seltenen Erkrankung.

Bei der Entstehung der TSC spielt der mTOR-Signalweg eine entscheidende Rolle. Fischereder bezeichnete diese Kinase als »zentralen Motor für Stoffwechselsignale der Zelle«. mTOR fungiert so als wichtiger Regulator von Tumorzellwachs­tum, -teilung und -stoffwechsel sowie der Angiogenese. Im gesunden Organismus wird mTOR von einem Proteinkomplex aus den beiden Untereinheiten TSC1 und TSC2 inhibitorisch reguliert. Bei TSC-Patienten kann der TSC1-TSC2-Komplex aufgrund von Mutationen der Gene für TSC1 beziehungsweise TSC2 nicht mehr regulatorisch auf den mTOR-Signalweg einwirken. In circa 30 Prozent der Fälle werden diese Mutationen von den Eltern vererbt, während die Mutationen bei circa 70  Prozent der Fälle spontan in der Embryonalentwicklung auftreten.

 

Tödliche Blutungen

 

Der Funktionsverlust des TSC1-TSC2-Komplexes führt zu einer dauerhaften und übermäßigen Aktivierung des mTOR-Signalwegs. Federeder verglich dies mit dem Ausfall einer Bremse, der überschießende Zellproliferation, unkontrolliertes Zellwachstum und die Ausbildung von Tumoren, sogenannten Hamartomen, zur Folge hat. Diese können zum Beispiel im Gehirn oder in den Nieren auftreten. Im Gehirn spricht man von subependymalen Riesenzellastrozytomen (SEGA), bei der Niere von renalen Angiomyolipomen (AML). Neben Nieren und Gehirn zählt zudem die Haut zu den am häufigsten in Mitleidenschaft gezogenen Organen.

 

Vor allem bei erwachsenen TSC- Patienten sind fast immer die Nieren betroffen. Bei bis zu 80 Prozent der TSC-Patienten entwickeln sich meist im Jugendlichen- und Erwachsenenalter renale AML. Sie verdrängen gesundes Nierengewebe und können Komplikationen auslösen. »Durch Wachstum und Blutungsneigung ergibt sich aus den renalen Angiomyolipomen eine vitale Bedrohung der Patienten«, betonte Federeder. Akute renale Blutungen sowie terminale Niereninsuffizienz zählen zu den häufigsten Todesursachen bei TSC-Patienten.

 

Lange Zeit wurden Betroffene mit TSC ausschließlich symptomatisch behandelt und die Therapie richtete sich individuell gegen die spezifischen Ausprägungen der Krankheit. Dies änderte sich im vergangenen Jahr, als der mTOR-Inhibitor Everolimus (Votubia®) für Patienten mit SEGA aufgrund einer TSC zugelassen wurde. Seit Oktober 2012 steht der Wirkstoff auch zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit AML assoziiert mit TSC zur Verfügung. Laut Fachinformation können die Patienten behandelt werden, bei denen ein Risiko für Komplikationen vorliegt, die jedoch nicht unmittelbar operiert werden müssen. Den Experten der Veranstaltung zufolge könnten noch weitere Einsatzgebiete bei TSC folgen, zum Beispiel bei Patienten mit TSC-assoziierten Krampfanfällen. Immerhin tritt Epilepsie bei 80 bis 90 Prozent aller TSC-Patienten auf.

Wie wirkt Everolimus bei TSC? Der mTOR-Inhibitor ersetzt die Funktion der ausgefallenen Bremsen TSC1 und TSC2. Dadurch stellt er das gestörte Gleichgewicht im mTOR-Signalweg wieder her. Tumorzellwachstum, -stoffwechsel und -angiogenese werden gehemmt.

 

Grundlage für die Zulassung bei renalen AML sind die Daten der Phase-III-Studie EXIST-2. In dieser reduzierte Everolimus das AML-Volumen um mindestens die Hälfte bei 42 Prozent der Patienten nach drei und bei 55 Prozent der Patienten nach sechs Monaten. In der Placebogruppe erzielte dagegen kein Patient ein solches Ansprechen, weder nach drei noch nach sechs Monaten. Die in der Fachinformation empfohlene Dosierung beträgt einmal täglich 10 mg Everolimus.

 

Professor Dr. Klemens Budde von der Berliner Charité machte auf einen weiteren positiven Nebeneffekt von Everolimus aufmerksam. Nahezu alle in die EXIST-2-Studie eingeschlossenen TSC-Patienten wiesen Hautläsionen auf. Diese werden von den Patienten häufig als sehr belastend empfunden. Durch die Behandlung mit Everolimus verbesserten sich die Hautläsionen um mindestens die Hälfte bei rund jedem vierten Patienten. Unter Placebo war dies bei keinem Patienten der Fall.

 

Auf Mundpflege achten

 

Budde informierte zudem, dass in der Studie bei den ernsten Nebenwirkungen kein Unterschied zwischen Verum- und Kontrollgruppe zu erkennen war. Bei etwa der Hälfte der Patienten unter Everolimus mussten die Ärzte die Dosis reduzieren oder eine Therapiepause einlegen. Budde zufolge sei dies zu verkraften, da die bei TSC vorkommenden Tumoren zumeist sehr langsam wachsen. Immerhin sei es eine lebenslange Therapie mit Everolimus, die man den Betroffenen abverlange und deshalb müsse es ein Behandlungsziel sein, die Nebenwirkungen so gering wie möglich zu halten.

 

Das pharmazeutische Personal kann die Patienten für eine gängige Nebenwirkung, die Stomatitis, sensibilisieren und eine topische Behandlung empfehlen. Alkohol- und peroxidhaltige Mundspülungen sollten aber vermieden werden, da sie den Zustand verschlechtern können. Zudem kann man den Patienten raten, bei der Mundpflege besonders vorsichtig zu sein. Auch in Sachen Wechselwirkungen gibt es einiges zu beachten: Die gleichzeitige Gabe von Everolimus mit CYP3A4-Inhibitoren sowie -Induktoren und/oder Induktoren und Inhibitoren von p-Glycoprotein sollte vermieden werden. Gleiches gilt laut Fachinformation auch für den Einsatz von Lebendimpfstoffen. /

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