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Kommentar

Jetzt erst recht

26.10.2016  09:01 Uhr

Von Lutz Tisch / Mit dem Urteil vom 19. Oktober 2016 (C-148/15) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Verfahren zwischen der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs und der Deutschen Parkinson Vereinigung entschieden, dass die deutschen Vorschriften zur Gewährleistung eines einheitlichen Apothekenabgabepreises für verschreibungspflichtige Arzneimittel, soweit sie auch gegenüber ausländischen Versandanbietern gelten sollen, gegen das europäische Recht verstoßen. Mit dieser Entscheidung hat sich der EuGH nicht nur von vielen von ihm bislang vertretenen Grundsätzen verabschiedet, sondern er hat gezeigt, dass seine Rechtsprechung gerade für das Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten unkalkulierbar geworden ist.

Bislang konnte man davon ausgehen, dass Maßnahmen, die für alle Marktteilnehmer in gleicher Weise gelten und sie faktisch gleich betreffen, als Verkaufsmodalität bewertet wurden, mit der Folge, dass darin keine Beschränkung des Marktzugangs gesehen wurde. Dementsprechend hat der EuGH etwa die Buchpreisbindung weitgehend unbeanstandet gelassen. Bezüglich der Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel führen die fünf Richter der erkennenden Kammer jedoch jetzt an, dass sich die Festlegung einheit­licher Abgabepreise auf ausländische Versandapotheken stärker auswirke als auf im deutschen Hoheitsgebiet ansässige Apotheken. Für Versandapotheken mit ihrem eingeschränkten Leistungsangebot sei der Preis ein wichtigerer Wettbewerbsfaktor als für traditionelle Apotheken. Gleiche Preise seien daher eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV.

Nicht neu ist die Feststellung des EuGH, dass Ausnahmen vom Grundsatz des freien Warenverkehrs innerhalb der Union grundsätzlich, etwa zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, möglich und diese Ausnahmen eng auszulegen sind. Die auf diese Feststellung folgenden Erwägungen des Gerichtshofs zeigen jedoch, dass nunmehr offensichtlich entgegen der Titulierung des Gesundheitsschutzes als »Wert höchsten Ranges« der Warenverkehrsfreiheit der unbedingte Vorrang eingeräumt wird.

 

Wirklich dramatisch ist jedoch, dass der Gerichtshof im Hinblick auf die Beurteilung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung Kompetenzen nationaler Gesetzgeber drastisch einschränkt. Hatte der Gerichtshof in seiner Entscheidung zum Fremdbesitzverbot an Apotheken (EuGH v. 19.05.2009, C-171/07, C-172/07) den Mitgliedstaaten noch die Einschätzungsprärogative dafür zuerkannt, auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll, erkennt er diese den Mitgliedstaaten nunmehr lediglich noch formal zu. Er fordert von den Mitgliedstaaten nämlich statistisch belegbare oder objektiv nachprüfbare Beweise dafür, dass die von ihnen ergriffene Maßnahme gerechtfertigt ist. Das ist allerdings das Gegenteil einer Einschätzungsprärogative. An deren Stelle setzt der EuGH in nahezu vollständiger Ignoranz des Parteivortrags und der Argumentation der Bundesrepublik Deutschland eine Deregulierung, die den Bestand und die Struktur des deutschen Apothekenwesens maximal gefährdet.

 

In der vom EuGH nochmals bestätigten Entscheidung zum Fremdbesitzverbot führte er 2009 aus, der Mitgliedstaat müsse, »wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibt, Schutzmaßnahmen treffen können, ohne warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht ist. Außerdem kann der Mitgliedstaat diejenigen Maßnahmen treffen, die eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, wozu im Einzelnen eine Gefahr für die sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung gehört, weitestmöglich verringern.« An die Stelle dieser nun wohl als historisch zu bezeichnenden Umsicht setzt der EuGH mit der vorliegenden Entscheidung eine profane Marktbetrachtung, die den erhaltenswerten Wertvorstellungen Deutschlands im Gesundheitswesen radikal widerspricht.

 

Abgesehen von veränderten Maßstäben und dem neuen Selbstverständnis des EuGH im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, vermag das Urteil auch aufgrund vieler Unstimmigkeiten und Wertungswidersprüche nicht zu überzeugen. Beispielsweise argumentiert der Gerichtshof damit, dass traditionelle Apotheken grundsätzlich besser als Versandapotheken in der Lage seien, Patienten durch ihr Personal vor Ort individuell zu beraten und eine Notfallversorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen. Diesen »Wettbewerbsvorteil« müssten Versandapotheken durch einen Preiswettbewerb ausgleichen können. Diese Argumentation lässt aber komplett außer acht, dass es sich vielmehr um teure Gemeinwohlpflichten der sogenannten traditionellen Apotheken handelt, die bisher aus der staatlich festgelegten Apothekenmarge auf verschreibungspflichtige Arzneimittel finanziert werden. Im Rahmen einer vom EuGH angelegten, rein ökonomischen Betrachtung wohl eher ein Wettbewerbsnachteil.

 

Auch die der gesamten Entscheidung zugrundeliegende Erwägung des Gerichtshofs, die Preisfreigabe verbillige verschreibungspflichtige Arzneimittel, führt der Gerichtshof selbst ad absurdum, wenn er zuvor vorträgt, dass Apotheken in Gegenden mit wenig Konkurrenz vor Ort höhere Preise verlangen könnten. Bei den Ausführungen zur fehlenden Konkurrenz verliert der Gerichtshof aus den Augen, dass der preisaktive Konkurrent Versandhandel natürlich überall zugegen ist. Aus rechtstaatlicher Sicht bedenklich ist konkret bei diesen Ausführungen zudem, dass der EuGH auf »Unterlagen, auf die sich die Kommission stützt« Bezug nimmt. Diese Unterlagen werden weder im Tatbestand noch an sonstiger Stelle des Urteils konkret benannt. Höchstwahrscheinlich bezieht sich der Gerichtshof auf ein Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2014, in dem sich ähnliche Erwägungen finden lassen, die stets im Konjunktiv gehalten sind und die bislang weder den deutschen Gesetzgeber noch die deutschen Gerichte überzeugt haben. Kann das der Maßstab sein, an dem sich ein Staat bei der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes seiner Bürger orientiert?

 

Der jetzt ergangenen Entscheidung des EuGH kann etwas Weiteres entnommen werden: Das Arzneimittel wird nicht mehr als Ware besonderer Art betrachtet. Es wird als gewöhnliche Handelsware eingestuft und den allgemein geltenden Marktregeln unterworfen. Dass zu einem effektiven Gesundheitsschutz der Bevölkerung, zu dem der Staat nach dem Grundgesetz verpflichtet ist, auch eine sichere Finanzierung der Arzneimittelversorgung gehört und der Staat in diesem Bereich keine Experimente eingehen darf, lässt der EuGH komplett unbeachtet.

 

Offenbar hat sich der EuGH auch davon gelöst, die Auslegung europä­ischen Rechts in Kooperation mit den nationalen Gerichten vorzunehmen. So erwähnt er in keiner Weise die gegenläufige Rechtsprechung insbesondere des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, noch setzt er sich mit ihr auseinander. Oder sollte der Hinweis auf die verschärften Maßstäbe für die Prüfung der europarechtlichen Konformität von Normen durch nationale Gerichte als »Ohrfeige« für die bisherige deutsche Rechtsprechung verstanden werden?

 

Anders als unter der von 2003 bis 2015 andauernden Präsidentschaft von Vasilios Skouris, dem das deutsche Recht durch Studium und Professur an der Universität Bielefeld bestens vertraut war, scheint sich der Gerichtshof von anerkannten sozial- oder ordnungspolitischen Aspekten abzuwenden und Sachverhalte vornehmlich ökonomisch zu bewerten.

 

Jetzt erst recht: Die deutsche Politik muss jetzt klar machen, dass sie ihr anerkannt hochstehendes Gesundheitswesen nicht ungezügelten Kräften des Marktes überlässt, sondern weiterhin zu gestalten beansprucht. Ein Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist wohl die beste Chance, sich der systemzerstörenden Wirkung des Urteils noch einmal zu entziehen. /

Lutz Tisch

Geschäftsführer Recht der ABDA

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