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100 Jahre DNG

Vom Neuron zum Brain-Computer

09.10.2007  10:52 Uhr

100 Jahre DNG

Vom Neuron zum Brain-Computer

Von Gudrun Heyn, Berlin

 

Die Deutsche Neurologische Gesellschaft feiert ihr hundertjähriges Bestehen. Als Mediziner in Deutschland anfingen, Hirn und Nerven zu erforschen, standen sie vielen Krankheiten noch weitgehend ratlos gegenüber. Heute können viele Patienten geheilt werden.

 

Das letzte Jahrhundert war für die Neurologie ein Jahrhundert voller stürmischer Entwicklungen. Bereits im Jahr 1907 hatte das Spezialfach eine solche Ausdehnung angenommen, dass sich die führenden Köpfe zur Gründung einer eigenen Fachgesellschaft entschlossen. Kurz zuvor prägte der Berliner Anatom Wilhelm von Waldeyer-Hartz den Begriff des Neurons für die kleinste Einheit des Nervensystems, 1875 beschrieb Wilhelm Erb, wie Sehnenreflexe mit einem Hammer geprüft werden können, und 1840 veröffentlichte Moritz von Romberg eine systematische Bestandsaufnahme neurologischer Störungen.

 

Auf dieser Basis kam es zu einer regelrechten Blüte der Neurologie in Deutschland. Epileptiker, Demenzkranke und Menschen mit Lähmungserscheinungen wurden nun in Polikliniken für Nervenkranke behandelt und landeten nicht mehr zwangsläufig mit psychisch Kranken in den gefürchteten, gefängnisartigen Aufbewahrungsanstalten der Kliniken.

 

Immer mehr pathophysiologische Zusammenhänge wurden beschrieben und verstanden. Eine große Hilfe waren dabei bahnbrechende technische Erfindungen, wie Ende der 20er-Jahre das Elektroenzephalogramm. Mit ihm konnten erstmals Potenzialschwankungen des Gehirns, die sogenannten Hirnströme, untersucht werden. Ein kaum nachzuvollziehendes Leiden für die Betroffenen, aber ein Segen für die Fortschritte auf dem Gebiet der Neurologie waren die Untersuchungen an unzähligen Soldaten mit Kopfschuss-Verletzungen und Schäden am Nervensystem während des Ersten Weltkriegs. Deutsche Ärzte nahmen bald eine führende Stellung in der weltweiten Forschung ein. Selbst in die Sowjetunion an das Sterbebett Lenins wurden sie 1924 gerufen. Durch die Ereignisse im Dritten Reich ging jedoch viel der internationalen Anerkennung verloren.

 

Wendepunkt für Parkinsonpatienten

 

Mit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beginnt erneut eine Zeit größter Erfolge. Nicht zuletzt mithilfe der Pharmakologie sind neurologische Erkrankungen heute behandelbar. Zu den Meilensteinen gehört beispielsweise die Heilbarkeit der Herpes Enzephalitis. Noch in den 60er-Jahren konzentrierten sich alle Bemühungen, diese schwere virale Gehirnerkrankung zu behandeln, auf die Pflege. Rund 80 Prozent der Betroffenen verstarben. Heute stehen wirksame Virostatika wie Aciclovir bereit, um den Erreger zu bekämpfen. »Mehr als 80 Prozent der Patienten verlassen daher gesund oder mit leichten Reststörungen die Klinik«, sagte Professor Dr. Günther Deuschl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, auf dem Kongress. Auch die erste Autoimmunerkrankung, die von Neurologen entschlüsselt werden konnte, ist gut medikamentös behandelbar. Patienten mit Myasthenia gravis leiden unter einer gestörten Nerv-Muskel-Überleitung durch Autoantikörper, die sich gegen Acetylcholinrezeptoren wenden. Unbehandelt kommt es zu Lähmungen bis hin zum Atemstillstand. 1896 verstarben noch 75 Prozent der Patienten, heute ist das eine Ausnahme.

 

Eine der spannendsten Erfolgsgeschichten der Neurologie beruht auf der Entdeckung, dass Wirkstoffe wie Reserpin parkinsonähnliche Symptome hervorrufen können. Wenn nun ein niedriger Dopaminspiegel zu einer verminderten Reizweiterleitung in den Nervenzellen und damit zu einem Zittern von Armen und Beinen bis hin zur Muskelversteifung führen kann, müsste im Umkehrschluss die Gabe von Dopamin zu einer Verbesserung der Symptome führen. So begannen 1961 die ersten Studien mit L-Dopa. Für viele Parkinsonpatienten war dies ein Wendepunkt. Noch in der Zeit der Jahrhundertwende führte die Erkrankung innerhalb von zehn Jahren in den Rollstuhl oder auf das Sterbebett.

 

Allen Stigmatisierungen zum Trotz kann inzwischen auch Epileptikern wesentlich besser geholfen werden. »Dank der Medikamente und der chirurgischen Behandlung leben diese Patienten heute anfallsfrei unter uns«, sagte Deuschl.

 

Mit Stolz blicken die Neurologen auf deutlich verbesserte Versorgungsstrukturen für Schlaganfallpatienten und auf aufsehenerregende Durchbrüche in der Diagnostik. Mit der Einführung der Computertomografie in den frühen 70er-Jahren und später des Kernspintomografen gelang es, immer kleinere Gehirnstrukturen sichtbar zu machen. »Zuvor wurden noch Tausende von Patienten an einem Hirntumor operiert, der gar nicht da war«, berichtete der Kongresspräsident Professor Dr. Karl Einhäupl. Intensiv geforscht wird zudem auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Für das Krankheitsbild der Migräne konnten inzwischen 12 Gendefekte nachgewiesen werden. Studien mit transgenen Mäusen laufen derzeit auf Hochtouren.

 

Gut für neue Erfolgsgeschichten könnten bald ganz andere Untersuchungen sein, etwa die Therapiestudien zur Tiefenhirnstimulation von Menschen mit Depressionen oder die Impfstudien an Menschen mit Alzheimer-Demenz. Außerdem soll es alltagstaugliche Hilfen für Gelähmte geben. Mithilfe sogenannter Brain-Computer-Interfaces ist es heute bereits möglich, allein mit der Kraft von Vorstellungen und Gedanken beispielsweise Prothesen und Maschinen zu steuern.

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