Neue Ansätze, mehr Lebensqualität |
28.09.2010 14:04 Uhr |
Von Elke Wolf, Mannheim / Peroral einzunehmende Arzneistoffe, individuelle Behandlungsstrategien mithilfe von Biomarkern und stärkere Berücksichtigung nachlassender kognitiver Eigenschaften: In der Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose gibt es einige neue Ansätze. Ein Bericht von der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Erwartet werden sie schon lange, verschiedene peroral einzunehmende Medikamente gegen Multiple Sklerose (MS). Letzte Woche gab es dann zwei Neuigkeiten: Daumen hoch für Fingolimod, Daumen runter für Cladribin (siehe Kasten).
PZ / Rückschlag für das Pharmaunternehmen Merck: Wie das Unternehmen mitteilte, hat das zuständige Expertengremium CHMP der europäischen Arzneimittelbehörde EMA eine negative Stellungnahme zum Antrag auf Marktzulassung für Cladribin-Tabletten als Therapie der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) abgegeben. Das Gremium kam zu der Einschätzung, dass auf Grundlage der momentan existierenden Daten die Vorteile von Cladribin die Risiken nicht aufwiegen. Die EMA muss sich nicht an die Empfehlungen des Gremiums halten, tut es aber in den meisten Fällen. In Russland und Australien wurde das oral einzunehmende MS-Präparat zugelassen, in den USA wird eine Entscheidung der Zulassungsbehörde FDA für oder gegen die Marktzulassung noch in diesem Jahr erwartet.
Unterdessen hat die Firma Novartis kurz zuvor in den USA die Zulassung für das ebenfalls oral einnehmbare, Fingolimod-haltige Präparat Gilenya® erhalten. Auch dieses wird zur Behandlung der schubförmigen MS eingesetzt. In Russland ist das Mittel bereits zugelassen, in Europa steht die Entscheidung der EMA noch aus.
Die Standardtherapeutika für die Basismedikation, Beta-Interferone oder Glatiramer, reduzieren die Schubrate um durchschnittlich 30 Prozent. Fingolimod punktet nun mit einer signifikant überlegenen Wirksamkeit gegenüber Interferon beta-1a. So senkte es in Zulassungsstudien im Vergleich zu Placebo die jährliche Schubrate um 54 bis 60 Prozent, im Vergleich zu Interferon beta-1a intramuskulär um 38 bis 52 Prozent. Als sogenannter Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator ist Fingolimod ein Vertreter einer neuen Klasse von MS-Therapeutika. Es reduziert signifikant die Anzahl der T-Lymphozyten im peripheren Blut, sodass weniger Entzündungszellen das Gehirn erreichen und die neuronale Zerstörung verringert wird (siehe Abbildung).
Fingolimod (FTY720) hält die Lymphozyten im Lymphknoten zurück und reduziert so die Anzahl der für die Multiple Sklerose verantwortlichen autoaggressiven Lymphozyten im peripheren Blut. So erreichen weniger Entzündungszellen das Gehirn und die neuronale Zerstörung wird verringert.
Abbildung: Novartis Pharma
Auch die Darreichungsform spricht für Fingolimod. Zeigen doch Studien, dass die dauernden Injektionen von Interferon oder Glatiramer einen großen Hemmschuh darstellen. »Bis zu 20 Prozent der MS-Patienten brechen die Therapie innerhalb der ersten drei Monate deshalb ab. Innerhalb von ein bis fünf Jahren haben bereits rund die Hälfte der MS-Patienten die Therapie beendet«, berichtete Professor Dr. Ralf Gold von der Universität Bochum auf einer Pressekonferenz von Novartis. Fingolimod ist dagegen nur einmal täglich peroral einzunehmen.
Erfahrungen über 16 Jahre
Sind die peroral einzunehmenden MS-Therapeutika erst mal auf dem Markt, werden die Therapieoptionen neu gemischt. Darin waren sich die Experten in Mannheim einig. Die »Orals« schicken sich an, den etablierten Basismedikamenten Konkurrenz zu machen. Kein Wunder, dass die Herstellerunternehmen der immunmodulierenden Standardarzneien derzeit kräftig mit den Füßen scharren. So wurden auf einer Bayer Health Care-Pressekonferenz Daten zu Interferon beta-1b (Betaferon®) präsentiert, die neben der klinischen Wirksamkeit vor allem das gute Sicherheitsprofil unterstreichen. Die Ergebnisse beziehen sich auf einen Behandlungszeitraum von mehr als 16 Jahren bei Patienten mit schubförmig remittierender MS.
Danach ist die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der 16 Jahre einen hohen Behinderungsgrad zu erreichen, bei den Patienten besonders hoch, die nur kurz (unter 1,6 Jahren) mit Interferon beta-1b behandelt wurden. Umso geringer war dieses Risiko, wenn die Studienteilnehmer Beta-Interferon über 1,6 bis 12,8 Jahre eingenommen hatten. Patienten mit nur kurzer Behandlungsdauer konvertierten zudem früher zu einer sekundär chronischen progredienten Verlaufsform, informierte Privatdozent Dr. Andrew Chan, ebenfalls von der Universität Bochum.
Welche Arznei für welchen Patient
Längst nicht alle Patienten mit schubförmiger MS sprechen auf die Basistherapie mit Interferon beta-1b an, was zum Teil daran liegt, dass sie neutralisierende Antikörper entwickeln. Und so hat ein beträchtlicher Anteil der Patienten trotz der Immunmodulatoren Schübe oder es kommt zur Progression der Erkrankung. »Es gibt jedoch Hinweise, dass möglicherweise pharmakogenomische Paramenter und/oder genetische Prädispositionen ausschlaggebend für das Therapieergebnis sind«, erklärte Professor Dr. Heinz Wiendl von der Universitätsklinik Münster.
Viele MS-Patienten warten auf oral einnehmbare Therapeutika.
Foto: PZ/Müller
Wiendl stellte Befunde der vergangenen Jahre vor, die es irgendwann vielleicht möglich machen, vor Therapiebeginn feststellen zu können, ob der Patient biologisch überhaupt auf Interferon ansprechen kann oder nicht. Eine Arbeitsgruppe ermittelte zum Beispiel eine Typ I Interferon Genexpression in Monozyten als möglichen Biomarker für nicht reagierende Patienten. Eine andere Forschergruppe zeigte eine Verbindung von Il-17-Serumspiegeln und dem Ansprechen auf Interferone auf.
»Von einer individualisierten Therapie mithilfe von Biomarkern sind wir bislang zwar noch weit entfernt. Doch gibt es erste Ansätze«, sagte Wiendl. Von einer derzeit laufenden 10-Jahres-Studie mit rund 1000 Patienten erhofft sich der Experte konkretere Daten zum Leistungsvermögen von Biomarkern.
Fokus Kognition
Multiple Sklerose ist keine Erkrankung, die sich ausschlielich durch eingeschränkte Beweglichkeit oder Sensibilitätsstörungen bemerkbar macht. Viele Patienten erleiden zudem deutliche Einbußen bei der Kognition. »Da die Beschwerden jedoch nicht so auffällig zutage treten wie etwa bei einer Demenz, hat man sie bislang wenig beachtet«, informierte Privatdozent Dr. Michael Haupts, Klinik für Neurologie in Isselburg. So seien bei mehr als 20 Prozent der MS-Patienten bereits im Frühstadium diskrete Störungen nachzuweisen, was die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis oder die planende Handlungskontrolle betrifft. Die Leistungsfähigkeit wird beeinträchtigt, die Auffassungsgabe langsamer, besonders dann, wenn die Belastung zunimmt, der Stress höher wird und wenn ein rascher Informationsfluss gefordert ist. Sprachstörungen sind dagegen kaum bekannt. Schreitet die Krankheit voran, sind diese subtilen Defizite bei rund der Hälfte der Patienten nachzuweisen.
Bei der Bewertung von Studienergebnissen richtet man nun deshalb immer mehr den Fokus auch auf den Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit. So zeigt etwa eine Studie mit Interferon beta-1b, dass die geistigen Fähigkeiten unter Verum über einen Studienzeitraum von fünf Jahren besser erhalten bleiben als in der Kontrollgruppe, die in den ersten zwei Studienjahren statt des Immunmodulators Placebo erhalten hatten.
Fokus Neuroprotektion
Weiterer Forschungsschwerpunkt dürfte sein, wie sich eine gewisse Neuroprotektion bei MS-Patienten realisieren lässt. Derzeit verfügbare immunmodulatorische Basistherapeutika richten sich primär gegen die entzündliche Komponente der MS, eine direkte neuroprotektive Wirkung haben sie jedoch nicht. Zwar besteht eine klare Korrelation zwischen dem Ausmaß der Entzündung und dem axonalen Schaden. Und das Ausmaß des axonalen Verlustes korreliert wiederum mit der Progression der Behinderung und ist mit einer progredienten Hirnatrophie assoziiert. Doch bislang vermag es kein Arzneistoff zu leisten, Markscheiden und damit Nervenfasern aktiv zu erhalten oder eine gewisse Remyelinisierung zu fördern.