Befreite Farben |
11.09.2012 13:44 Uhr |
Von Ulrike Viegener, Köln / Da ist man heute in der Kunst ganz andere Sachen gewohnt, und keiner regt sich auf. Damals aber, vor 100 Jahren, war alles, was sich vom Naturalistischen entfernte, gleich ein Skandal. Solche Aufreger aus ganz Europa wurden 1912 in einer visionären Ausstellung gezeigt, an die das Kölner Wallraf-Richartz-Museum jetzt mit vielen Originalexponaten erinnert.
»Mit einem Apfel werde ich Paris in Erstaunen versetzen«, hat Cézanne gesagt. Und sie sind wirklich erstaunlich, die Cézanneschen Äpfel – davon kann man sich in der Ausstellung »1912 – Mission Moderne« persönlich überzeugen. An den Früchten in ihrer Schlichtheit lässt sich gut erkennen, was so revolutionär an Cézannes Art zu malen war. Das sind keine Äpfel eins zu eins so, wie wir sie sehen. Und doch: Ohne Zweifel liegen Äpfel dort auf dem Tableau. Dicke Pinselstriche unterschiedlicher Farbigkeit setzt Cézanne nebeneinander und modelliert die Früchte so heraus. Cézannes Äpfel sind erlebte Äpfe l– und genau das sollen sie sein.
Reif für die Revolution
In vielen Ländern Europas verließen Künstler im ausgehenden 19. Jahrhundert die vorherrschende – sehr konservative – Kunstauffassung und brachten zum Ausdruck, wie sie die Welt empfinden. Die Zeit war reif für eine neue Art der Malerei. Nicht die objektive Realität, sondern die subjektiv erlebte Wirklichkeit sollte fortan auf Leinwand und Papier gebannt werden. Paul Cézanne in Frankreich, Vincent van Gogh in Holland, Edvard Munch in Norwegen – so unterschiedlich diese Maler sind, sie alle entwerfen ihre ureigene Realität.
Paul Gauguin, Linvocation, 1903
Foto: National Gallery of Art, Washington
Die drei Künstler sind jeweils mit mehreren Bildern in der Kölner Ausstellung präsent, und man kann gut verfolgen, wie sich ihre Malerei im Laufe der Zeit mehr und mehr von traditionellen Zwängen befreit. Die Farben – losgelöst von der Form – werden zum dominierenden Ausdrucksmittel für das künstlerische Erleben.
Manche Künstler setzen Farbflächen virtuos aus verschiedenfarbigen Tupfen oder Strichen zusammen, was die Darstellung extrem lebendig macht. Sowohl Cézanne als auch van Gogh haben diese Technik auf unterschiedliche Weise perfektioniert. Und auch bei Munch findet man ein solches Farbensplitting: In der Kölner Ausstellung ist der Akt eines Paares zu sehen, das mit langgezogenen groben Pinselstrichen von eigenwilliger Farbigkeit herausgearbeitet wird – ein auch heute noch sehr modernes Bild.
»Koloritexzesse und Linientobsuchtsanfälle«
Munch und van Gogh gelten als Wegbereiter des Expressionismus. Die »schreienden Farben« in ungewöhnlichen, fast befremdlichen Kompositionen, die für viele Bilder deutscher Expressionisten typisch sind, entwickeln eine große emotionale Kraft. Die Gefühlsintensität – heiter oder auch bedrückend – drängt sich dem Betrachter unmittelbar auf. Das Plakative der expressionistischen Darstellung wird noch dadurch verstärkt, dass Regeln der Perspektive bewusst gebrochen werden und die Sujets ohne Tiefenwirkung zum Hintergrund stehen. Als »Koloritexzesse und Linientobsuchtsanfälle« beschimpfte man die Werke der jungen Maler, als sie in der historischen Ausstellung von 1912 einer größeren Öffentlichkeit präsentiert wurden. Ausgerichtet hatte die historische Ausstellung der Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler mit dem ehrgeizigen Ziel, der künstlerischen Moderne zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Mission ist aus heutiger Sicht erfüllt, bewiesen doch die Initiatoren – unter ihnen der damalige Direktor des Wallraf-Richartz-Museums – einen geradezu visionären Weitblick in der Auswahl der gezeigten Künstler.
Ein Meisterwerk
Die Retrospektive, die noch bis Ende des Jahres zu sehen sein wird, ist ein Meisterwerk. Der Kuratorin Barbara Schaefer ist es in jahrelanger Arbeit gelungen, fast alle 650 Originalexponate aufzuspüren, die in der ganzen Welt verstreut und zum Teil verschollen waren. Rund 120 Kunstwerke – neben den im Vordergrund stehenden Gemälden auch einige Skulpturen – wurden für die Jubiläumsausstellung ausgewählt. Manches ist eher kunsthistorisch inte-ressant, aber viele Stücke sind hochkarätig und ein echter Kunstgenuss. Die im doppelten Wortsinn bunte Schau mit Werken auch von Gauguin, Picasso, Kokoschka, Nolde und Macke wurde durch Leihgaben namhafter Museum ebenso wie privater Sammler ermöglicht. /
1912 – Mission Moderne, 31. August bis 30. Dezember 2012
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Obenmarspforten (am Kölner Rathaus), 50667 Köln, Telefon: 0221 221-21119, info(at)wallraf.museum, www.wallraf.museum.
Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr. Jeden Donnerstag Abendöffnung bis 21 Uhr (außer an Feiertagen), jeden ersten Donnerstag im Monat bis 22 Uhr.
Der Katalog zur Ausstellung ist im Govi-Onlineshop – www.govi.de – für EUR 49,90 erhältlich: ISBN 978-3-86832-111-1.