»Der Nutzen ist gewaltig« |
13.09.2010 21:37 Uhr |
Von Daniela Biermann / Von den Möglichkeiten, die durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms entstanden sind, ist Professor Dr. Theo Dingermann, Pharmazeutischer Biologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, begeistert. Er kennt sogar bereits einen Teil seines eigenen Erbguts.
PZ: Am 26. Juni 2000 wurde die Entschlüsselung des menschlichen Genoms bekannt gegeben. Was hatten Sie damals für Erwartungen?
Dingermann: Meine Erwartung war zunächst, dass diese Arbeiten den Lebenswissenschaften noch einmal einen deutlichen Beschleunigungsschub verpassen würden. Und das ist auch eingetreten. Natürlich habe ich auch erwartet, dass sich dies direkt auf die Themen Gesundheit und Krankheiten auswirken wird.
PZ: Inwieweit sind diese Erwartungen eingetroffen?
Prof. Dr. Theo Dingermann
Dingermann: Wir sehen heute nicht nur, wie unterschiedlich die Menschen in ihrer genetischen Ausstattung sind. Wir sehen auch, wie unterschiedlich Krankheiten in ihrem genetischen »Make-up« sind. Das wird sich dramatisch auswirken, und einiges ist bereits in der Praxis angekommen. Ich erinnere hier an den Antikörper gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor bei Colon-Karzinomen, Cetuximab (Erbitux®). Zunächst war dieser »nur« zugelassen für die Tumoren, die diesen Rezeptor auch exprimieren. Das war bereits eine Einschränkung, nachdem man sonst ganz allgemein von Dickdarmkrebs spricht. Heute ist der Einsatz noch weiter eingeschränkt, denn es muss zusätzlich nachgewiesen werden, dass das bekannte Proto-Onkogen ras nicht mutiert ist. Das wäre ohne die Kenntnisse aus der Genomentschlüsselung undenkbar gewesen.
PZ: Also hat sich der Aufwand gelohnt? Oder wurden Millionen Euro Forschungsgelder verpulvert?
Dingermann: Der Nutzen ist gewaltig! Vielleicht sieht das noch nicht jeder. Aber dieses Projekt hat die Basis geschaffen für viele, viele weitere Erfolge. Das ist vergleichbar mit dem Bau einer Autobahn von Kiel nach Rom. Die Fertigstellung bedeutet noch nicht, dass man schon in Rom ist, um sich dort umzusehen. Aber es ist die Voraussetzung, um vernünftig dorthin zu kommen.
PZ: Ist die damals angekündigte Revolution ausgeblieben, wie heute viele unken?
Dingermann: Ich meine nicht. Man kann sich alles Mögliche vorstellen, wenn einem die Gelegenheit gegeben wird, die Fantasie schweifen zu lassen. Das passiert aber immer unter Weglassen einer Zeitskala. Wir werden noch vieles erleben, was wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Aber alles braucht Zeit, denn man hat es schließlich mit Patienten zu tun, die nicht nur eine effiziente, sondern auch eine sichere therapeutische Intervention verlangen.
PZ: Was für Fortschritte in der medizinischen Therapie haben wir dem Projekt denn bereits jetzt zu verdanken?
Dingermann: Praktisch alles, wo genomische Kenntnisse involviert sind. Man darf nicht vergessen, dass die Umsetzung der Genomforschung in die Medizin nicht erst begonnen hat, als der letzte Buchstabe des humanen Genoms entschlüsselt war. Fortschritt vollzieht sich immer inkrementell. Und hier wurde Gewaltiges erreicht. Beispielsweise können wir jetzt viele Krankheiten behandeln, die auf einem Defekt in einem einzelnen Gen beruhen. Wir alle kennen die Bluter, die von den sicheren rekombinanten Gerinnungsfaktoren profitieren. Es gibt aber schwere Krankheiten, die nicht so bekannt sind, darunter beispielsweise die lysosomalen Speicherkrankheiten Morbus Gaucher oder Morbus Fabry, um nur zwei zu nennen. Diesen Patienten kann heute eine lebensrettende Substitutionstherapie angeboten werden.
PZ: Was davon ist im Apothekenalltag angekommen?
Dingermann: Es sind ganz konkret die gentechnischen Medikamente. Die Zahl ist auf deutlich mehr als 100 angestiegen, und weitere werden in schneller Folge kommen. Aber auch über diagnostische Verfahren sollte der Apotheker Bescheid wissen, um Patienten zu beraten. Ich denke, dass die Apotheke eine neue Rolle bekommen wird, gewissermaßen »als Mittler zwischen Fortschritt und Angst«. Wer sich hier fortbildet, dem steht ein riesiges Potenzial offen, um Kunden zu binden.
PZ: Das klingt noch nach Zukunftsmusik. Welche Möglichkeiten liegen Ihrer Meinung nach bereits in greifbarer Nähe?
Dingermann: Die Individualisierung – oder besser die Stratifizierung – der Arzneimitteltherapie wird kommen. Ich bin davon überzeugt, dass wir hier einen Quantensprung in der Arzneimitteltherapie erleben werden: Der Wandel von der Behandlung von Krankheiten hin zur Behandlung von kranken Patienten. Klingt komisch, oder? Tatsächlich ist es aber so, dass der Patient bei der Behandlung von Krankheiten bisher kaum eine Rolle spielt. Das sieht man schon daran, wie Arzneimittel zugelassen werden: Auf der Basis einer statistischen Überlegenheit in einem Patientenkollektiv. Von Individualität fehlt da jede Spur.
PZ: Individuelle Medikamente fußen ja darauf, dass man seine eigenen Risikofaktoren kennt. Doch nicht jeder will wissen, ob er zum Beispiel die Alzheimer-Genvariante trägt. Würden Sie Ihr eigenes Genom sequenzieren lassen?
Dingermann: Das habe ich längst gemacht, zumindest in den Teilen, die variabel sind. Ich kenne in meinem Genom mehr als 700 000 Stellen, an denen bekanntermaßen Mutationen auftreten. Für mich hat dieses einen gewaltigen Wert. Sobald man ein komplettes Genom für weniger als 1000 Euro sequenziert bekommt, werde ich einen Auftrag schreiben. Das ist gigantisch, allerdings nur, wenn man weiß, wie man mit dieser Information umzugehen hat. Patienten dürfen damit nicht allein gelassen werden. /