Krankheit der tausend Namen |
02.02.2016 16:27 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek / Die Epilepsie ist mindestens so alt wie die Menschheitsgeschichte. Bereits in frühen Texten der Antike wird sie erwähnt. Anlässlich des Internationalen Epilepsietags am 8. Februar sprach die PZ mit dem Epilepsie-Experten Dr. Hansjörg Schneble über eine Krankheit, deren Ursachen jahrhundertelang im Verborgenen lagen.
PZ: Sie sind ehemaliger ärztlicher Direktor des Epilepsiezentrums im baden-württembergischen Kehl-Kork und leiten seit 1998 auch das Deutsche Epilepsie-Museum. Eine ungewöhnliche Kombination.
Schneble: Die Epilepsie hat mich immer schon fasziniert – medizinisch, aber auch medizin- und kulturhistorisch. Kaum eine andere Krankheit hat beispielsweise im Verlauf ihrer Geschichte so viele Namen bekommen wie sie. Die Namensgebung macht deutlich, welche Anschauungen über die Ursachen und den Stellenwert der Krankheit in den jeweiligen Epochen herrschten. Krankheitsbezeichnungen wie »hiera nosos« (Heilige Krankheit) bei den Griechen, »Morbus lunaticus« (Mondsucht) bei den Römern oder »dämonische Krankheit« im europäischen Mittelalter sind Ausdruck damaligen Aberglaubens. Mit dem Studium der verschiedenen Namen kann man sich sehr gut den medizinischen, kulturhistorischen und sozialen Hintergründen dieser Krankheit annähern. Also habe ich angefangen, alte Bücher, Schriften und medizinische Abhandlungen, aber auch Bilder und andere Kunstgegenstände zur Epilepsie zu sammeln. Schließlich hatte ich so viele Exponate zusammen, dass ich das Museum gegründet und seitdem immer weiter ausgebaut habe.
PZ: Wann wird die Epilepsie das erste Mal erwähnt?
Schneble: In der Gesetzessammlung des babylonischen Königs Hammurabi. Der lebte etwa 1700 vor Christus. Der in Stein gehauene Kodex wurde erst 1902 entdeckt und befindet sich heute im Louvre. Im Grunde ist die Epilepsie aber sogar älter als der Mensch, da auch Tiere an ihr erkranken können, also Lebensformen, die viel früher als der Mensch auf der Erde waren.
PZ: Warum wird diese Krankheit in der Kulturgeschichte so früh und so oft erwähnt?
Schneble: Hauptsächlich aus zwei Gründen: Erstens war die Epilepsie zu allen Zeiten eine häufig vorkommende Erkrankung. 0,5 bis 1 Prozent aller Menschen weltweit haben epileptische Anfälle. Bis vor etwa einem Jahrhundert gehörte sie auch noch häufig zum Straßenbild. Dank des Fortschritts bei der Behandlung sieht man einen Anfall außerhalb eines Krankenhauses heute aber nur noch in Ausnahmefällen.
Der zweite Grund für die häufigen bildlichen und schriftlichen Überlieferungen ist die dramatische Erscheinungsform der Epilepsie, die in den unterschiedlichsten kultur-historischen Epochen mit übernatürlichen Kräften in Verbindung gebracht wurde. Sie rief bei den Menschen Angst, Entsetzen und Abscheu hervor, speziell der sogenannte große Anfall oder Grand mal. Dieses unheimliche Krankheitsgeschehen hat die Menschen beschäftigt, und diese Beschäftigung fand auch Eingang in die Kunst – in die bildende Kunst ebenso wie in die Literatur.
Heute kennen wir die medizinischen Ursachen. Wir wissen, dass es eine neurologische Erkrankung ist und dass es zum Beispiel generalisierte und fokale, das heißt örtlich begrenzte Epilepsien gibt. Die einen beeinflussen mehr die Motorik, andere mehr die Sprache oder die Gefühle. Es gibt etwa 30 verschiedene Anfallsformen, und viele können dank medizinischen Fortschritts heute gut behandelt werden.
PZ: Seit wann gilt die Epilepsie als organisch bedingte Krankheit?
Schneble: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es dem englischen Neurologen John Hughlings Jackson darzulegen, dass Epilepsie einen physiologischen Ursprung hat. Andere Forscher des 19. Jahrhunderts konnten dies dann beweisen. Bis dahin hatte sich die Wissenschaft über die Krankheit aber keineswegs kontinuierlich entwickelt. Die Kenntnisse über die Epilepsie waren in der Epoche von Hippokrates beispielsweise deutlich größer als 1500 Jahre später im christlichen Mittelalter. Hippokrates hatte bereits erkannt, dass es sich bei Epilepsie um eine natürliche Krankheit handelte, die im Gehirn lokalisiert war, während nach christlich-mittelalterlicher Auffassung eine göttliche Macht die epileptischen Anfälle als Strafe oder Prüfung schickte.
PZ: Wie wurde die Krankheit in den unterschiedlichen Epochen therapiert?
Schneble: Die Therapieversuche reichten von Opfergaben und religiösen Übungen unter Anleitung von Priester-Ärzten in vor-hippokratischer Zeit über Ernährungsvorschriften und Heilgymnastik in der hippokratischen Medizin bis zur Anwendung sogenannter Fallsuchtmittel wie beispielsweise Kupfer, Quecksilber, Wismut oder Zinn in der Renaissance – ohne Wirkung auf die Epilepsie, wie man heute weiß. Heilpflanzen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Ich habe zum Beispiel im Museum ein altes Pflanzenbuch aus dem 13. Jahrhundert. Hier ist ein Epilepsiekranker dargestellt, der im Anfall auf dem Boden liegt. Um seinen Hals schlingt sich eine Paeonia, eine Pfingstrose, die als Heilmittel gegen die Epilepsie galt. Zwei Museumsräume widmen sich nur der Behandlung – von der Antike bis heute.
Das erste antiepileptisch wirksame Medikament wurde 1857 entdeckt – Brom, das in seltenen Fällen auch heute noch eingesetzt wird. 1912 folgte dann Phenobarbital, das auch noch auf dem Markt ist. Seit einigen Jahren ist zudem die Epilepsie-Chirurgie im Aufwind. Sie kommt für etwa 5 bis 10 Prozent der Epilepsiepatienten infrage.
PZ: Stimmt es, dass der Arbeitslosenanteil bei Menschen mit Epilepsie überproportional hoch ist? Haftet der Epilepsie immer noch ein Stigma an?
Schneble: Die Römer fürchteten noch, sich an einem Epilepsiekranken anzustecken, im Mittelalter galt der Rat, vor Menschen mit der sogenannten schlagenden Krankheit möglichst schnell zu fliehen. Da sind wir heute deutlich weiter. Es gibt noch einige Vorurteile, aber sie nehmen ab.
Nachvollziehbar ist, dass Arbeitgeber Angst davor haben, dass jemand während der Arbeit einen epileptischen Anfall erleidet. Speziell, wenn er an einer Maschine arbeitet, ist die Unfallgefahr groß. In meiner aktiven Zeit als Arzt bin ich selber in Betriebe gegangen, um zu besprechen, wie man bestimmte Maschinen absichern kann. Das hat in vielen Fällen funktioniert. Von unschätzbarem Wert sind auch Selbsthilfegruppen, wenn es darum geht mitzuhelfen, dass sich Vorurteile gegenüber der Epilepsie weiter reduzieren. Die gibt es heute in jeder größeren Stadt.
Ein gravierendes Vorurteil ist die Annahme, Epilepsie sei erblich. Es gibt zum Beispiel Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind eine Partnerschaft mit jemandem eingeht, der diese Erkrankung hat. Epilepsie ist natürlich keine Erbkrankheit. Aber wie bei Diabetes, Allergien oder Rheuma gibt es in bestimmten Familien eine genetische Bereitschaft, häufiger zu erkranken. Hier bedarf es noch weiterer Aufklärungsarbeit.
Das Hamburger Pharmaunternehmen Desitin hat auf seiner Firmenseite ein Kunstforum ins Leben gerufen. In der Rubrik »Epilepsie und Kunst« sind verschiedene Beispiele für das Epilepsiemotiv in der Kunst dargestellt. Sie geben nicht nur Einblicke in das komplexe Krankheitsbild, sondern verweisen auch auf positive Momente im Leben mit der Krankheit und sollen helfen, Vorurteile auszuräumen. Der Epilepsie- und Kunstexperte Dr. Hansjörg Schneble kommentiert die abgebildeten Werke. www.desitin.de/kunstforum-neu
PZ: Viele Prominente hatten und haben Epilepsie und gehen heute damit auch an die Öffentlichkeit.
Schneble: Prominente Anfallkranke sind ein gutes Beispiel dafür, zu zeigen, dass epileptische Anfälle durchaus vereinbar sind mit hoher Intelligenz und Leistung. Dass Epilepsie, speziell die Grand-mal-Anfälle, zu intellektuellen Einbußen führen, ist auch so ein Vorurteil. Sie tun es nicht, sofern sie nicht statusartig sind oder serienhaft auftreten.
Im Deutschen Epilepsiemuseum hängen zurzeit etwa 50 Bilder und Fotos prominenter Persönlichkeiten, die Epilepsie hatten oder haben. Jugendliche sind bei Führungen immer wieder beeindruckt davon, dass DJ Özi ebenso betroffen ist wie der Sänger Prince oder der Fußballspieler Ronaldo.
Caesar, Napoleon, van Gogh, Dostojewski sind nur einige berühmte Namen von geschichtlichen Persönlichkeiten mit Epilepsie. Die zweite Frau Dostojewskis hat seine Anfälle akribisch beschrieben. Medizinisch wissen wir deshalb heute, dass er eine Schläfenlappenepilepsie hatte, die mit einer sogenannten Aura einhergeht. Der russische Dichter wusste also im Voraus, wann ein Anfall kommen würde. In seinem Fall war es eine sogenannte Glücksaura mit unbeschreiblich schönen Gefühlen, auf die er eigenen Aussagen zufolge nicht verzichten wollte. Das war vielleicht der Grund, warum er sich nie hat richtig behandeln lassen – obwohl es zu seiner Zeit schon das Brom gab.
Von Napoleon wissen wir, dass er ausschließlich nächtliche Anfälle hatte, die ihn nicht sonderlich gestört haben. Sein militärischer Gegenspieler Erzherzog Carl hingegen, auch Epileptiker, war durch seine Anfälle so beeinträchtigt, dass er deswegen seinen Dienst als Oberbefehlshaber beim habsburgischen Heer quittieren musste. In dem einen Leben war die Epilepsie also eine Begleiterscheinung, in dem anderen lebensbestimmend. Und so ist das auch heute. Epilepsie kann mit einem ganz normalen Leben in Einklang gebracht werden, sie kann aber das Leben eines Betroffen auch spürbar beeinflussen. /
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