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Anaphylaxie

Potenziell tödlicher Zwischenfall

30.08.2013  21:36 Uhr

Von Thomas Spindler / Anaphylaktische Reaktionen sind schwere allergische Reaktionen, die tödlich verlaufen können. Diese Allergie beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien massiv. Denn die Angst vor den potenziell lebensbedrohlichen, aber nicht vorhersehbaren Reaktionen ist ständiger Begleiter im Alltag.

Aktuelle Daten legen nahe, dass die Häufigkeit der Anaphylaxie in den letzten zehn Jahren zugenommen hat. Im Anaphylaxie-Register wurden seit 2006 mehr als 5000 Fälle in Deutschland, Österreich und der Schweiz registriert, ein Fünftel davon betraf Kinder (www.anaphylaxie.net). Die häufigsten Auslöser bei Kindern und Jugendlichen sind Nahrungsmittel, gefolgt von Insektengiften und Medikamenten, während bei Erwachsenen Insektengifte und Medikamente vor Nahrungsmitteln dominieren. Bei einem Drittel der Betroffenen traten die Reaktionen wiederholt auf, aber nur bei jedem Zehnten wurde das lebensrettende Medikament Adrenalin gespritzt – ein dringender Hinweis darauf, wie wichtig Beratung und Schulung der Patienten und ihrer Angehörigen sind.

Das Verständnis für und die Beratung von Patienten mit Anaphylaxie gehört zu den Aufgaben des pharmazeutischen Fachpersonals. Der Apotheker ist wichtiger Ansprechpartner für alle Fragen zur Therapie – insbesondere zum Gebrauch des Notfallsets einschließlich der Adrenalininjektion mittels Pen.

 

Definitionen der Anaphylaxie

 

Das Wort Anaphylaxie leitet sich ab vom Griechischen »aná« für »auf« und »phylaxìa« für »Schutz«. Die Erstbeschreibung der Anaphylaxie als schwerste Form der allergischen Sofortreaktion erfolgte bereits 1902 durch C. Richet im Artikel »De l’action anaphylactique de certains venins«. 1909 stellten A. Biedl und R. Kraus die Theorie auf, dass körpereigene Substanzen für die Reaktion verantwortlich seien. Ein Jahr später konnten H. Dale und G. Barger Histamin als Mediatorsub­stanz isolieren und identifizieren.

 

Es gibt viele Versuche, die Erkrankung griffig zu definieren. Gemäß der Defini­tion der allergologischen Fachgesellschaften in der AWMF-Leitlinie 2007 versteht man unter Anaphylaxie »eine akute systemische Reaktion mit Symptomen einer allergischen Sofortreaktion, die den ganzen Organismus erfassen kann und je nach Schweregrad mit unterschiedlichen Symptomen einhergeht«.

 

Prägnanter, eindrucksvoller und klarer definiert wurde das Phänomen 2006 von Sampson und Mitarbeitern als »eine ernst zu nehmende allergische Reaktion, die rasch beginnt und zum Tod führen kann«.

 

Alle allergischen Erkrankungen nahmen in den letzten Jahrzehnten zu, wobei die Anaphylaxie die schnellste Zuwachsrate zu verzeichnen hat. Dies zeigen auch die Daten des Anaphylaxienetzes. Derzeit rechnet man mit drei Todesfällen auf 1 Million Bürger pro Jahr. Fatalerweise sind häufig junge Menschen betroffen. Sicher ist, dass mit einer hohen Dunkelziffer an Anaphylaxie-Toten gerechnet werden muss. Doch trotz intensiver Forschung und der relativen Häufigkeit muss man auch heute – mehr als 100 Jahre nach der Erstbeschreibung – feststellen:

 

Die Anaphylaxie ist untererkannt, unterdiagnostiziert, unterbehandelt, unterberichtet und nur wenig ver­standen.

 

Pathophysiologie der allergischen Sofortreaktion

 

Bei der Anaphylaxie handelt es sich in aller Regel um allergische Sofortreak­tionen, also Typ-I-Reaktionen nach der Klassifizierung von Coombs und Gell. Solche Reaktionen werden durch Antikörper der IgE-Klasse vermittelt. Voraussetzung für die Bildung dieser Antikörper ist eine Sensibilisierung durch vorherigen Erstkontakt mit dem Allergen.

Beim Zweitkontakt erfolgt die allergische Reaktion in kurzer Zeit (Sekunden bis Minuten). Dabei binden die von B-Lymphozyten beim Erstkontakt gebildeten IgE-Antikörper an Mastzellen. Dies führt zur Freisetzung (Degranulation) von typischen Mediatoren wie Leukotrienen, Prostaglandinen, vor allem PGE2, Thromboxan und Histamin. Diese wiederum lösen die typischen Symptome der allergischen Sofortre­aktion an den Erfolgsorganen aus: Schleimhautschwellung, Sekretproduktion, Bronchialverengung und Kreislaufreaktionen. Alle Reaktionen können leicht bis sehr schwer oder gar lebensbedrohlich sein. Nach vier bis zwölf Stunden treten manchmal ähnliche Symptome als sogenannte Spätreaktionen auf.

 

Substanzen, die eine überschießende Abwehrreaktion des Körpers aus­lösen können, nennt man Allergene. Prinzipiell können alle Allergene anaphylaktische Reaktionen auslösen. Jedoch gibt es klare Risikoallergene. Hier spielen Nahrungsbestandteile eine entscheidende Rolle. Nach Daten einer Erhebung 2005 gingen rund 57 Prozent der Anaphylaxiefälle auf Nahrungsmittel zurück, gefolgt von Insektenstichen (12,6 Prozent). Auch Medikamente, insbesondere Antibiotika und Lokalanästhetika, sowie Maßnahmen wie die Hypo­sen­si­bi­li­sie­rung und die Gabe von Kontrastmitteln sind maßgebliche Ursachen.

 

Bei den Nahrungsmitteln ist vor allem die Kuhmilcheiweißallergie im frühen Kindesalter der häufigste Auslöser, während im Jugend- und Erwachsenen­alter Erd- und Baumnüsse, gefolgt von Kuhmilch, Fisch und Hühnerei die größte Rolle spielen (Grafik 1). Das Projekt »Anaphylaxienetz« (www.anaphylaxie.net) bestätigt mit bisher mehr als 5000 Patienten (Erwachsene und Kinder) diese Daten.

Bei allergischen Menschen genügen häufig geringste Spuren des Allergens, um die Reaktion in Gang zu setzen. Etwa 12 Prozent aller Nahrungsmittel­allergiker gaben in einer Studie an, bereits einmal eine allergische Reak­tion nach einem Kuss erlebt zu haben.

 

Bleibt die Nahrungsmittelallergie?

 

Nach Diagnose einer Nahrungsmittelallergie kommt in der Regel die Frage auf, ob die Allergie lebenslang bestehen bleibt oder ob der Mensch die betreffenden Nahrungsmittel irgendwann wieder vertragen wird. Die Prognose unterscheidet sich von Nahrungsmittel zu Nahrungsmittel erheblich. Nach den vorliegenden Daten kann man von folgenden Remissionsquoten ausgehen:

  • Kuhmilchallergie: 90 Prozent der Patienten verlieren diese bis zum 4. Lebensjahr.
  • Allergie auf Hühnerei: Etwa 50 Prozent verlieren diese bis zum 4. Lebensjahr.
  • Erdnussallergie: 20 bis 25 Prozent aller Kinder verlieren diese im Lauf der Jahre.
  • Baumnussallergie: Weniger als 4 Prozent der Patienten verlieren diese.

Dies bedeutet, dass man insbesondere bei Allergien auf Kuhmilch und Hühnerei, aber auch auf Erdnuss nach ein- bis zweijähriger Karenz eine Reprovokation empfehlen sollte. Diese muss grundsätzlich unter kontrollierten Bedingungen in einer spezialisierten Klinik erfolgen.

 

Es ist unbedingt notwendig, die Allergieursache abzuklären, da die Lebensqualität von Lebensmittelallergikern dramatisch beeinträchtigt ist. In einer Studie 2003 war die Lebensqualität einer Familie, in der ein Mitglied an einer Nahrungsmittelallergie litt, schlechter als bei Diabetes. Nur die eindeutige Abklärung hilft, unnötige Ängste zu vermeiden. Bei gesicherter Allergie können Klarheit, Krankheits­akzeptanz und Handlungsfähigkeit die quälende Unsicherheit und Angst ersetzen.

 

Symptome frühzeitig erkennen

 

Eine Anaphylaxie trifft den Patienten in der Regel unvorbereitet – was sowohl den Zeitpunkt als auch den Ort anbelangt. Die Reaktionen treten meist zu Hause, aber auch in Kindergarten, Schule, auf der Straße oder in der Freizeit auf. Nur wenige Reaktionen passieren in Arztpraxen oder Kliniken, dann meist in Zusammenhang mit einer Hyposensibilisierung. Das bedeutet: Mehr als 86 Prozent der Patienten erleiden die allergische Reaktion an Orten ohne direkten Zugriff auf ärztliche Hilfe. Steht professionelle Hilfe nicht zur Verfügung, bietet nur ein mitgeführtes Notfallset die Möglichkeit zur aktiven Intervention – wenn der Patient oder seine Umgebung damit umgehen können. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für den beratenden Apotheker.

 

Die Anaphylaxie ist definiert als systemische allergische Reaktion vom Soforttyp. Dies bedeutet, dass alle Organe und Organsysteme des Körpers betroffen sein können. Man unterscheidet verschiedene Schweregrade von leicht bis schwer, jeweils bezogen auf die einzelnen Organsysteme (Tabelle 1).

Tabelle 1: Schwergradeinteilung anaphylaktischer Reaktionen

Schwere-
grad
Haut Magen-Darm Atemwege Herz-Kreislauf Nervensystem
leicht plötzliches Augen- und Nasenjucken, generalisierter Juckreiz, Flush, Angioödeme, Urtikaria Gaumenjucken, Kribbeln der Mundschleimhaut, leichte Lippenschwellung, Übelkeit, Erbrechen, leichte Bauchschmerzen verstopfte Nase, Niesen, Fließschnupfen, leichtes Giemen, Schluckbe-
schwerden
Tachykardie (Herzfrequenz­anstieg über 15 Prozent) Wechsel des Aktivitätsniveaus, Unruhe, Angst
mittel jedes der oben genannten Symptome jedes der oben genannten Symptome, Bauchkrämpfe, Diarrhö, rezidivierendes Erbrechen jedes der oben genannten Symptome, Heiserkeit, bellender Husten, Dysphagie, ziehende Atmung Atemnot, mittelschweres Giemen wie oben Benommenheit, Gefühl »nahenden Unheils«
schwer jedes der oben genannten Symptome, aber stark ausgeprägt jedes der oben genannten Symptome, aber stark ausgeprägt; Stuhlinkontinenz jedes der oben genannten Symptome, stark ausgeprägt; Zyanose, Sauerstoffsättigung unter 92 Prozent, Atemstillstand jedes der oben genannten Symptome, stark ausgeprägt; arterielle Hypotonie, Bewusstlosigkeit, schwere Bradykardie, Arrhythmien, Herz-Kreislauf-Stillstand Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit

Jede systemische Reaktion, die rasch nach Allergenaufnahme auftritt und nicht direkt am Ort des Allergenkontakts zu beobachten ist, ist primär verdächtig auf ein anaphylaktisches Geschehen. Verstärkte Lokalreaktionen dürfen nicht als systemisch eingestuft werden. Selbst massive lokale Schwellungen, Schmerzen und Rötungen nach Insektenstich sind nicht als systemische Reaktion zu betrachten, wenn sie sich um den Einstich herum lokalisieren. An einer systemischen Reaktion können insbesondere die Organe Haut, Atemwege, Magen-Darm-Trakt, Herz-Kreislauf-System und das Nervensystem beteiligt sein.

 

Jedes der in Tabelle 1 aufgeführten Symptome kann einzeln oder in Kombination auftreten. Auch die Reihenfolge der Reaktion schwankt individuell. Wichtig: Es gibt keine Möglichkeit, den Verlauf einer anaphylaktischen Reaktion vorherzusagen. So kann ein Patient beim Kontakt mit dem Allergen einmal lediglich mit der Haut reagieren, während beim nächsten Kontakt das Vollbild des anaphylaktischen Schocks auftritt. Dies macht die Prognose so schwer und erfordert bei jeder Form der Anaphylaxie ein rasches und konsequentes Handeln.

 

Dies bedeutet auch, dass der Patient jegliche Selbstversuche zu Hause unbedingt unterlassen muss. Provokationen oder Versuche, Nahrungsmittel wieder einzuführen, sollten nur im klinischen Setting unter strikter Überwachung erfolgen.

 

Diagnose

 

Wie in der gesamten Allergologie steht auch hier die Anamnese, also die ausführliche Befragung des Patienten oder seiner Angehörigen an erster Stelle (Tabelle 2). Danach sollte ein Allergietest erfolgen.

Tabelle 2: Inhalte einer allergiespezifischen Anamnese

Frage nach Details
Art der Beschwerden Symptome passend zur Allergie
zeitliche Zusammenhänge des Auftretens der Symptome saisonal, tags oder nachts, im Zusammenhang mit bestimmten Tätigkeiten oder Besonderheiten, zum Beispiel Ernährung
örtliche Zusammenhänge Symptome draußen oder drinnen, am Arbeitsplatz, im Wald oder auf Wiesen, in der Stadt
Belastungssituation körperlich, psychisch

Dabei muss betont werden, dass der Begriff »Allergietest« per se nicht richtig ist. Denn der Test stellt keine Allergie fest, sondern lediglich eine Sensibilisierung. Diese setzt einen vorherigen Allergenkontakt voraus. Dabei werden spezifische IgE-Antikörper gegen das betreffende Allergen gebildet, die im Blut oder in der Haut nachweisbar sind. Der Antikörpernachweis bedeutet aber nicht, dass der Betroffene bei Kontakt mit der Substanz auch reagiert. Ein positiver Allergietest alleine rechtfertigt daher weder eine Karenzmaßnahme noch eine therapeutische Intervention.

 

Bei Verdacht auf eine systemische Reaktion sollte der Arzt keinen Hauttest (Prick-Test), sondern grundsätzlich einen Antikörpernachweis im Serum (RAST) ausführen, um einen direkten Kontakt des Patienten mit dem Allergen zu vermeiden. Der RAST-Test ist die häufigste In-vitro-Untersuchung in der Allergologie. Hier werden allergenspezifische Antikörper der IgE-Gruppe im Serum ­bestimmt. Je nach Höhe der IgE-Antikörper-Titer werden die Patienten in sogenannte RAST-Klassen eingeteilt. Eine eindeutige Korrelation zwischen diesen RAST-Klassen und einer zu erwartenden Reaktion gibt es allerdings nicht.

 

Wird hier ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Allergen und Sensibilisierung deutlich, ist keine weitere Di­agnostik erforderlich. Der Betroffene muss das Allergen soweit möglich meiden und ein adäquates Notfallset mit sich führen. Wenn möglich, muss eine spezifische Immuntherapie erfolgen, zum Beispiel bei einer Allergie auf ­Bienen- und Wespengift.

 

Bei Unklarheit erfolgt – grundsätzlich stationär unter Überwachung – eine Provokation des Patienten mit dem verdächtigten Allergen. Diese gilt als »Goldstandard« der Allergiediagnostik. Dabei wird der Patient mit dem vermuteten Auslöser einer allergischen Reaktion unter möglichst realitätsnahen Bedingungen, zum Beispiel oral oder intrakutan, in Kontakt gebracht, um unter kontrollierten Bedingungen klinische Symptome zu erzeugen, die eindeutig sind, aber den Patienten nicht gefährden. Da Prick- und RAST-Test sowohl falsch positiv als auch falsch negativ ausfallen können, bringt bei unklaren Befunden oft erst die Provokation endgültige Klarheit (Kasten).

Schrittweise vorgehen

  • Anamnese
  • Allergietest, bei Anaphylaxie RAS-Test
  • gegebenenfalls rekombinante Allergene, zum Beispiel bei Erdnuss­allergie, testen
  • bei Klarheit: Karenz und Notfallset verordnen
  • wenn möglich spezifische Immuntherapie (SIT), zum Beispiel bei Insektengiftallergie
  • bei Unklarheit: titrierte Provoka­tion im stationären Rahmen

Therapie der Anaphylaxie

 

Die Anaphylaxie ist eine Notfallsitua­tion! Das erfordert rasches und kon­sequentes Handeln. Je früher eine adäquate Behandlung erfolgt, desto besser die Prognose für den Patienten. Ein Adrenalinpräparat zur Selbstinjektion ist oft die einzige Möglichkeit, das allergische Geschehen rasch und wirkungsvoll zu unterbrechen. Dazu muss der Patient den Gebrauch des Pens unbedingt beherrschen. Im Schockgeschehen hat er weder Zeit noch Muße, den Beipackzettel zu lesen.

 

Tritt ein Notfall an öffentlichen Orten oder in der Apotheke auf, ist es sinnvoll, in folgender Reihenfolge vorzugehen:

 

  • Zufuhr des Auslösers sofort beenden,
  • Lagerung des Patienten (Schocklage, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage),
  • Adrenalin mit dem Pen intramuskulär spritzen (Patient, Ersthelfer),
  • Notarzt rufen,
  • Notarzt kann intravenösen Zugang legen, Atemwege sichern,
  • Adrenalin/Noradrenalin 1:10 intravenöse Gabe (Arzt),
  • eventuell Salbutamol inhalieren (Patient, Ersthelfer),
  • Volumengabe (Arzt),
  • Antihistaminika einnehmen (Patient, Ersthelfer),
  • Corticosteroide peroral oder rektal geben (Patient, Ersthelfer),
  • gegebenenfalls weitere intensivmedizinische Schockbehandlung.

Nur bei leichten Symptomen und fraglicher Aufnahme des Allergens kann man primär auf Adrenalin verzichten. In allen anderen Situationen steht nach dem Stopp der Allergenzufuhr die Adrenalin­applikation an erster Stelle (Grafik 2). Selbst bei anfangs nur leichten Symptomen, aber gesicherter Allergenaufnahme ist die Selbstinjektion von Adrenalin oft lebensrettend. Keine Angst: Liegt keine anaphylaktische Reaktion vor, schadet eine korrekte, aber »versehentliche« Adrenalingabe dem Patienten nicht! Grundsätzlich sollte bei jedem Verdacht auf eine systemische allergische Reaktion ein Arzt gerufen werden.

Nach einer anaphylaktischen Reaktion, gleich welchen Schweregrades, muss der Patient mindestens 24 Stunden in einer Klinik überwacht werden. Denn es kann noch nach mehreren Stunden zu einer Spätreaktion kommen, die durchaus den Schweregrad der Erstreaktion aufweisen kann.

 

Notfallset als ständiger Begleiter

 

Jeder Patient, der einmal eine systemische Reaktion erlitten hat, braucht ein Notfallset, das er ständig (!) mit sich führt. Dieses enthält folgende Medikamente:

 

  • Adrenalin zur intramuskulären Applikation,
  • systemisches Corticosteroid (Tabletten, Saft, Zäpfchen),
  • eventuell ein Betamimetikum zur Inhalation (wenn die Atemwege betroffen waren),
  • Antihistaminikum, am besten als Tropfen.

In der Praxis bestehen diese Sets häufig – trotz systemischer Reaktion – nur aus einem oral applizierbaren Corticoid und einem Antihistaminikum. Zentrales Medikament bei Anaphylaxie ist aber Adrenalin zur Selbstinjektion. Nur dieses wirkt schnell genug, um die Kaskade der allergischen Schockreaktion rechtzeitig zu unterbrechen. Während Corticoide und Antihistaminika 30 bis 40 Minuten bis zum Wirkeintritt brauchen, wirkt Adrenalin in weniger als fünf Minuten. Ein inhalatives Betamimetikum wirkt ebenfalls innerhalb ­weniger Minuten gegen Atemnotbeschwerden.

 

Die derzeit gängigsten Adrenalinpens zur Autoinjektion sind Fastjekt® und Jext® (Abbildung). Doch die Verordnung des Pens reicht alleine nicht aus. Der Patient und seine Angehörigen brauchen eine Instruktion und müssen ausführlich üben, wie sie den Pen im Ernstfall korrekt einsetzen (Tabelle 3). Hierzu stellen die Firmen Übungspens zur Verfügung. Außerdem gibt es Informations-DVDs für die Patienten. Wichtig zu wissen: Die Injektion in den Oberschenkelmuskel klappt auch durch die Kleidung hindurch.

Tabelle 3: Hinweise zur Anwendung von Adrenalin-Autoinjektoren; Injektion in den Oberschenkelmuskel auch durch Kleidung hindurch möglich

FastJekt Jext
Schaft der Injektors mit der Faust umfassen, auch den Daumen um den Injektor legen
blaue Sicherheitskappe gerade abziehen gelbe Sicherheitskappe abziehen
orangefarbene Plastikspitze mit einer schnellen Bewegung auf die Außenseite des Oberschenkels kräftig aufsetzen schwarzen Nadelschutz auf die Außenseite des Oberschenkels aufsetzen und kräftig aufdrücken (rechtwinklig)
Injektionsnadel löst deutlich hörbar aus automatische Auslösung (Klack-Geräusch)
Pen 10 Sekunden aufgedrückt halten, dabei nicht bewegen
Pen gerade herausziehen
Einstichstelle 10 Sekunden massieren

Neben den Medikamenten braucht der Allergiepatient einen Notfallplan und einen Notfallpass. Hier werden neben dem Allergen und der Medikation auch die persönlichen Daten und Ansprechpartner im Notfall vermerkt. Ein Lichtbild erleichtert es dem Notarzt, eventuelle Veränderungen im Gesicht (Schwellungen, Ödeme, Urtikaria) rasch zu erkennen.

Jeder Patient mit Anaphylaxie muss sowohl den Gebrauch seines Notfallsets als auch die Vermeidung seiner Allergene beherrschen. Dies erfordert eine multidisziplinäre Schulung, für die multizentrisch gerade ein entsprechendes Programm (Agate-Schulung) evaluiert wird. Es bleibt zu hoffen, dass diese Schulungen nach erfolgtem Wirksamkeitsnachweis auch von den Kostenträgern übernommen werden.

 

Abschließend noch einige Hinweise für die Beratung in der Apotheke: Will ein Kunde ein Antiallergikum ohne ärztliche Verordnung kaufen, sollte das Apothekenteam nachfragen, warum er dieses Medikament möchte. Bei jeglichem Hinweis auf eine systemische Reaktion in der Vorgeschichte verbietet sich eine Selbstmedikation ohne vor­herige Abklärung beim Allergologen. Patienten mit gesicherter Anaphylaxie sollte der Apotheker nach dem Notfallset und dem Notfallpass fragen. Ebenso wichtig ist es nachzufragen, ob die Anwendung des Notfallsets, insbesondere des Adrenalinpens, mit dem Patienten eingeübt wurde. Verneint der Patient oder ist er unsicher, sollte die Apotheke Übungspens vorrätig halten und deren Anwendung mit dem Patienten üben. /

Der Autor

Thomas Spindler studierte Medizin an der Ruhr-Universität Bochum, erhielt 1986 die Approbation und wurde 1997 promoviert. Im Jahr 1995 erhielt er die Anerkennung als Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Zudem ist Dr. Spindler Sportmediziner, Allergologe und Kinder-Pneumologe und befasst sich intensiv mit Erkrankungen wie Asthma, Neurodermitis und Allergien. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Oberarzt für Atemwegserkrankungen/Allergien an den Fachkliniken Wangen ist er seit 2007 Chefarzt der dortigen Kinder­kliniken.

 

Dr. Thomas Spindler, Fachkliniken Wangen, Am Vogelherd 14,88239 Wangen im Allgäu
E-Mail: thomas.spindler(at)wz-kliniken.de

 

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