Wenn Eltern Kinder krank machen |
07.09.2010 16:52 Uhr |
Von Christine Pauli / Arzneimittelmissbrauch an Kindern ist ein bislang wenig beachtetes Phänomen. Eine in der Juli-Ausgabe des »Journal of Pediatrics« veröffentlichte Studie legt nun konkrete Zahlen auf den Tisch.
Wissenschaftler der Universität von Colorado und des Rocky Mountain Poison and Drug Center in Denver überprüften insgesamt 1224 Medikamenten-Missbrauchsfälle an Kindern unter sieben Jahren, die dem amerikanischen National Poison Data System zwischen 2000 und 2008 gemeldet worden waren. Erschreckend: Innerhalb dieser Zeit stieg die Zahl der beobachteten Fälle von 124 auf 189 pro Jahr.
Meistens, doch nicht immer können Kinder darauf vertrauen, dass ihre Eltern ihnen eine Medizin geben, um sie wieder gesund zu machen.
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Vorrangig Analgetika, Sedativa, Antipsychotika oder Hypnotika wurden zu nicht therapeutischen Zwecken von Eltern oder auch Betreuern verabreicht. Motive seien zum Beispiel eine Bestrafung der Kinder oder auch der Wunsch, sich zeitweise von der Last der Kindererziehung zu »befreien«, berichten die Autoren der Studie. Insgesamt 18 Todesfälle waren die Folge.
Situation in Deutschland
Alarmierende Zahlen, die Fragen nach der Situation in Deutschland aufwerfen: »Zusammenfassende Beobachtungen oder gar Studien zum Missbrauch von Arzneimitteln an Kindern gibt es hierzulande nicht«, erklärt Professor Dr. Wolfgang Rascher, Direktor der Kinder- und Jugendklinik der Universität Erlangen und Vorsitzender der Kommission Arzneimittel für Kinder und Jugendliche am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Dennoch, vereinzelt beobachte auch er solche Missbrauchsfälle im Klinikalltag: »Zum Beispiel hatten wir die Situation, dass eine Mutter ihrem Kind immer wieder Diuretika verabreichte.« Eine stationäre Aufnahme wegen Flüssigkeitsmangel und Elektrolytstörung war die Folge. »Die Blutsalze des Kindes waren vollkommen durcheinandergeraten«. Eine andere Mutter gab ihrem Kind völlig grundlos wiederholt Antibiotika. »Die betroffenen Kinder zeigen Symptome, die nicht richtig einzuordnen sind.« Bei diffuser Symptomatik rät Rascher jungen Ärzten deshalb immer, anhand von Blut- und Urinuntersuchungen zu überprüfen, ob Medikamente im Spiel sind, die den kleinen Patienten nicht ärztlich verordnet wurden.
»Haben wir medizinisch nachgewiesen, dass Arzneistoffe zu nicht therapeutischen Zwecken verabreicht wurden, so suchen wir zunächst, auch im Beisein eines Psychologen, das Gespräch mit den Eltern.« Beratschlagt wird, wie man der Familie helfen könnte. »Bei einer akuten Gefährdung für das Kind kommt es zu einem Sorgerechtsentzug oder gar zu einer Anzeige.« Das Verhalten der Eltern führt Rascher hauptsächlich auf das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zurück: Mittels Medikament würden sie bei ihren Kindern Krankheitssymptome verursachen, um so eine medizinische Behandlung und damit Aufmerksamkeit zu erzielen. Ein seltenes, psychisches Leiden, das vorrangig Mütter betrifft.
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
»Für einen Apotheker ist es schwierig, einen solchen Missbrauch zu erkennen.« Zum einen sei nicht immer klar, dass ein Arzneimittel für ein Kind bestimmt ist. »Und man kann Eltern ja auch nicht unter Generalverdacht stellen«, sagt Rascher. Vermutet ein Apotheker dennoch, dass etwas nicht stimmt, hat eine Mutter zm Beispiel zum wiederholten Male ein Beruhigungsmittel gekauft, so könne er vorsichtig nachfragen, was sie denn damit vorhabe. Reagiere sie daraufhin verstört oder abweisend, so sei dies möglicherweise ein Hinweis, »beweisen lässt sich das natürlich nicht.« In einem Gespräch könne der Apotheker dann lediglich auf die Gefahren hinweisen.
Arzneimittel im Gemischtwarenhandel
Die meisten in der US-Studie aufgeführten Arzneistoffe seien hierzulande aber ohnehin nicht rezeptfrei zu erhalten. Die Studie aus Denver spiegelt vielmehr ein amerikanisches Phänomen wieder, vermutet der Mediziner: »In den USA gibt es zahlreiche Medikamente, die man ohne Weiteres im Gemischtwarenhandel kaufen kann. Bei uns wird der Verkauf von Arzneimitteln glücklicherweise wesentlich restriktiver gehandhabt.« Wenn überhaupt, ergänzt er, sei ein solches Missbrauchsverhalten vorrangig Eltern möglich, die leichten Zugriff zu Medikamenten haben, zum Beispiel weil sie in einer Klinik beschäftigt sind. »Zusammenfassend kann man aber sicherlich sagen, dass der Arzneimittelmissbrauch an Kindern hierzulande kein dramatisches Problem darstellt. Mir ist auch nicht bekannt, dass dies in irgendeiner Weise zunimmt. Auch wenn jeder Einzelfall sehr tragisch ist.« /