Ein neuer Weg aus der Sucht |
26.08.2014 16:36 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Die schrittweise Reduktion des Alkoholkonsums ist das Ziel einer Therapie mit dem Opioid-Rezeptor-Modulator Nalmefen. In der Behandlung von Menschen mit Alkoholkrankheit ist das ein Paradigmenwechsel, denn bislang galt nur die vollständige Abstinenz als anerkanntes Therapieziel.
»Ich habe ein Suchtproblem und brauche Hilfe.« Dieses Eingeständnis fällt Menschen mit Alkoholkrankheit meist viel schwerer als anderen Suchtkranken. Dr. Petra Sandow, niedergelassene Allgemein- und Suchtmedizinerin in Berlin-Charlottenburg, weiß das aus Erfahrung in ihrer Praxis. Die Stigmatisierung der Alkoholerkrankung in der Gesellschaft sei sehr groß. Deshalb wollten Alkoholkranke meist mit allen Mitteln verhindern, dass ihr Suchtproblem bekannt wird.
Nahziel Reduktion, Fernziel Abstinenz
Einen kompletten Verzicht, der bis vor Kurzem noch als einziger Ausweg aus der Sucht galt, können sich viele auch deshalb zunächst nicht vorstellen. »Wer etwa bei einem Geschäftsessen nichts trinkt, gerät in Rechtfertigungsnot. Dieser Peinlichkeit wollen sich die Patienten nicht aussetzen«, so Sandow bei einer Pressekonferenz des Pharmaunternehmens Lundbeck in Berlin. Erst seit einer Änderung der Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses Ende Februar 2014 sind auch Mittel zur Unterstützung einer Reduktion des Alkoholkonsums erstattungsfähig. Lundbeck bringt das Nalmefen-haltige Präparat Selincro® daher erst jetzt in Deutschland auf den Markt, obwohl es bereits seit Mitte 2013 EU-weit zugelassen ist.
Alkoholsucht ist, anders als gemeinhin oft angenommen, keine Charakterschwäche, sondern eine »komplexe biopsychosoziale Erkrankung«, wie Professor Dr. Falk Kiefer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim erläuterte. Physiologisch sind an ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung entscheidend dopaminerge Neuronen im mesolimbischen System beteiligt. »Dieses System dient dazu, dass der Mensch sich Situationen merkt, in denen er eine Belohnung erhalten hat, um diese künftig gezielt aufzusuchen«, erklärte Kiefer.
Versuche an Affen haben gezeigt, dass sich dieses System konditionieren lässt. Immer, wenn im Käfig der Tiere das Licht anging, erhielten sie eine Zuckerlösung. Nachdem sich die Affen an diesen Ablauf gewöhnt hatten, feuerten die dopaminergen Neuronen in ihrem mesolimbischen System bereits, wenn das Licht anging. Die eigentliche Belohnung, also die Zuckerlösung, löste dagegen keine weitere Dopamin-Ausschüttung aus. »Dieses System reguliert sich mit der Zeit, wenn die Menge des ausgeschütteten Dopamins der Belohnungsvorhersage entspricht«, so Kiefer.
Erwartung wird übererfüllt
Was gehört in ein modernes Pharmaziestudium? Die Studierenden selbst haben den Lehrplan gründlich analysiert.
Foto: Fotolia/contrastwerkstatt
Alkohol ist aber keine Zuckerlösung, und das ist in diesem Zusammenhang problematisch. Denn über das Opioid-System löst Alkohol selbst eine Dopamin-Freisetzung aus. Das empfundene Glücksgefühl nach einem Drink übertrifft daher die Erwartung, was in der Folge zu einer noch höheren Dopamin-Ausschüttung beim Anblick eines alkoholischen Getränks führt – ein Teufelskreis entsteht. Hinzu kommen mit der Zeit Entzugserscheinungen beim Verzicht auf die Droge, die als negative Verstärkung der Sucht wirken.
Nalmefen durchbricht diesen Teufelskreis, indem es antagonistisch an μ- und δ-Opioid-Rezeptoren wirkt und partialagonistisch an κ-Rezeptoren. Patienten verlieren dadurch zwar nicht komplett die Lust auf Alkohol, können aber nach wenigen Gläsern aufhören. Das ist vor dem Hintergrund der zahlreichen schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen des exzessiven Alkoholabusus bereits ein Erfolg. Denn das alkoholbedingte Sterblichkeitsrisiko steigt mit der täglichen Trinkmenge. Leberschäden sind dabei der wichtigste, aber nicht der einzige Faktor. Auch beabsichtigte und unbeabsichtigte Verletzungen, mentale und neurologische Erkrankungen, Herz- und Gefäßkrankheiten sowie ein erhöhtes Krebsrisiko spielen eine Rolle.
Manche Menschen vertragen auch ohne häufigen Konsum viel Alkohol, andere sind schon nach einem halben Glas Bier betrunken. Trotz dieser individuellen Unterschiede gibt es eine Faustregel der Weltgesundheitsorganisation zum Gesundheitsrisiko verschiedener Trinkmengen. Demnach haben Männer, die bis 40 g reinen Alkohol täglich konsumieren, ein niedriges Risiko, bei 40 bis 60 g ein mittleres, bei 60 bis 100 g ein hohes und ab 100 g ein sehr hohes. Frauen vertragen weniger: Hier liegen die Grenzen bei bis zu 20 g (niedriges Risiko), 20 bis 40 g (mittel), 40 bis 60 g (hoch) und über 60 g (sehr hoch).
Ein Glas Wein à 0,2 l beziehungsweise ein Bier à 500 ml enthalten demnach je 20 g reinen Alkohol. Außer der regelmäßig getrunkenen Menge Alkohols spielt auch die Häufigkeit sogenannter schwerer Trinktage eine Rolle, an denen der Betroffene deutlich mehr konsumiert als sonst.
Nicht für alle Patienten
Nalmefen ist zugelassen zur Behandlung erwachsener Patienten mit Alkoholabhängigkeit, deren Konsum sich auf einem hohen Risikoniveau befindet. Betroffene nehmen an Tagen, an denen sie das Risiko verspüren, Alkohol zu trinken, eine Tablette möglichst eine bis zwei Stunden vor dem voraussichtlichen Konsum ein. Eine begleitende psychosoziale Unterstützung ist Pflicht. Patienten mit körperlichen Entzugserscheinungen dürfen eine Therapie mit Nalmefen nicht beginnen. Da bei ihnen die Gefahr besteht, dass sie bei Alkoholentzug Krampfanfälle oder andere schwerwiegende körperliche Symptome entwickeln, müssen sie stationär entgiftet werden.
Abstinenz bleibt auch bei Nalmefen-unterstützter Reduktion des Alkoholkonsums das Fernziel, weshalb die Therapiedauer auf maximal drei Monate beschränkt ist. In begründeten Ausnahmefällen kann sie um weitere drei Monate verlängert werden. Kiefer riet dazu, bei Patienten, die erfolgreich mit Nalmefen therapiert wurden, nach drei Monaten einen Absetzversuch zu machen, das Präparat aber weiter zu verordnen, wenn dieser erfolglos verläuft.
In Studien sank die Trinkmenge unter Nalmefen rasch und anhaltend auf weniger als ein Drittel der ursprünglich konsumierten Menge (-67 Prozent). Allerdings schafften es auch die Studienteilnehmer, die Placebo erhielten, ihre Trinkmenge auf die Hälfte zu reduzieren. Kiefer führte das auf die Motivation zurück, die allein die Teilnahme an einer klinischen Studie bei den Betroffenen auslöste. Trotz des beachtlichen Placeboeffekts hätten die Teilnehmer in der Nalmefen-Gruppe eine höhere Trinkmengenreduktion erreicht.
Motivation ist das A und O
Welch große Rolle die Motivation für den Therapieerfolg spielt, zeigt auch ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Zulassungsstudien. Etwa die Hälfte der Patienten profitierte von der Nalmefen-Einnahme überhaupt nicht, weil sie bereits unmittelbar nach der Randomisierung, aber noch vor dem Start der Behandlung, ihren Alkoholkonsum stark reduziert hatte. Diese sogenannten frühen Reduzierer brauchen laut Kiefer keine Pharmakotherapie. Deshalb werden sie auch in der Fachinformation von der Behandlung ausgeschlossen: Die Behandlung mit Nalmefen sollte »nur bei Patienten eingeleitet werden, deren Alkoholkonsum sich zwei Wochen nach einer initialen Untersuchung weiterhin auf einem hohen Risikoniveau befindet«, heißt es dort. /
Für die Diagnose Alkoholkrankheit müssen drei dieser sechs Kriterien erfüllt sein. Viele Menschen halten Toleranzentwicklung und Entzugssymptome für die wichtigsten Zeichen; die meisten Alkoholkranken werden aber anhand der anderen Kriterien diagnostiziert.