Pharmazeutische Zeitung online
Illegalität

Patienten ohne Papiere

31.08.2010  17:27 Uhr

Von Bettina Sauer, Berlin / In Deutschland lebt etwa eine Million Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Aus Angst vor der Abschiebung trauen sich viele auch bei ernsten Erkrankungen nicht zum Arzt. Während Politiker über Lösungen diskutieren, kümmern sich Einrichtungen wie die Malteser Migranten Medizin in Berlin um Patienten ohne Papiere.

Auch nach neun Monaten in Deutschland hat die junge Frau ihre afrikanische Heimat nicht ganz abgelegt. Sie trägt ein weites, knöchellanges Gewand und ein Kopftuch, beides dunkelrot mit feinen gelben Mustern. Gelassen, würdevoll und ein wenig entrückt sitzt sie im Wartezimmer, kerzengerade der Rücken, die Knöchel gekreuzt, der Blick ins Ungefähre schweifend.

Unbestimmt bleiben auch die Auskünfte, die sie der Pharmazeutischen Zeitung (PZ) gibt. Ihren Namen möchte sie nicht verraten. Aber sie erzählt in fließendem Englisch, dass sie 26 Jahre als ist, aus einem kleinen Ort in Nigeria stammt und im September 2009 nach Berlin kam, und zwar »nach einer langen Reise«, »zusammen mit einem Freund« und »zum Bleiben«. »Wir leben gern hier, haben viele Bekannte gefunden und arbeiten in der Gas­tronomie«, sagt sie. Auch wenn sich das unter ihrer weiten Kleidung noch nicht erkennen lässt, wächst nun in ihrem Bauch ein Baby heran. Um es untersuchen zu lassen, sitzt die werdende Mutter an einem Mittwochmorgen bei der »Malteser Migranten Medizin« in Berlin. Wo sollte sie sonst auch hin, so ohne Aufenthaltsgenehmigung?

 

Ihr Beispiel veranschaulicht die heikle Situation von einer Million Menschen, die sich schätzungsweise illegal in Deutschland aufhält. Die Betroffenen führen ein Schattendasein außerhalb des sozialen Netzes, leben in ständiger Angst vor Entdeckung, Abschiebehaft und Ausweisung. Auch zur medizinischen Versorgung gebe es für sie faktisch keinen Zugang, heißt es in einem Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, den das Deutsche Institut für Menschenrechte 2007 herausgegeben hat (abrufbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/[...].html).

 

Angst vor der Arztpraxis

 

Demnach unterliegen niedergelassene Ärzte, Zahnärzte und andere Heilberufler zwar der gesetzlichen Schweigepflicht, dürfen also keine Daten an die Ausländerbehörden oder die Polizei weitergeben. Doch schrecken viele Patienten ohne Aufenthaltsgenehmigung und Krankenversicherung vor dem Arztbesuch und den damit verbundenen Ausgaben zurück. Und sie wagen es auch nicht, beim Sozialamt einen Antrag auf Kostenübernahme zu stellen, obwohl sie ihnen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz eigentlich zusteht. Denn die Sozialämter unterliegen keiner Schweigepflicht, sondern im Gegenteil einer Übermittlungspflicht. Sie müssen die Ausländerbehörden unverzüglich informieren, wenn sie von einem illegalen Aufenthalt erfahren. Um solche Schwierigkeiten zu umgehen, suchen viele Patienten ohne Papiere erst so spät wie irgend möglich medizinische Hilfe, heißt es im Bericht der Bundesarbeitsgruppe. Dann drohten schwere und lange Krankheitsverläufe bis hin zur Klinikeinweisung, entsprechend hohe Behandlungskosten und die Ansteckung weiterer Menschen – alles durch frühzeitige Arztbesuche vermeidbar.

 

Verschiedene kirchliche und andere nicht-staatliche Einrichtungen springen in die Lücke und versuchen, Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung eine sichere und finanzierbare ambulante Behandlung zu ermöglichen. Dazu zählen sogenannte Medibüros in etwa 20 deutschen Städten, die Patienten ohne Papiere anonym an Ärzte vermitteln (http://medibueros.m-bient.com), und die Malteser Migranten Medizin. »Wir tun das nicht aus politischen Motiven, sondern augrund der christlichen Nächstenliebe«, sagt Kristin Erven-Hoppe, Pressesprecherin der Diözesangeschäftsstelle der Malteser in Berlin. »Wir finanzieren unsere Arbeit ausschließlich durch Spenden, und die Ärzte und Sprechstundenhilfen engagieren sich ehrenamtlich.« Inzwischen gibt es die Malteser Migranten Medizin in elf deutschen Städten, nämlich in Augsburg, Darmstadt, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, München, Münster, Osnabrück, Stuttgart und Berlin. Dort befindet sich seit 2001 die erste der Einrichtungen in einem Seitentrakt eines kirchlich getragenen Krankenhauses.

Im Wartezimmer sitzen heute neben der Afrikanerin drei weitere, schon sichtbar Schwangere sowie zwei Kleinkinder und elf andere Patienten. Sie belegen alle Holzstühle, erfüllen die Luft mit einem vielsprachigen Gemurmel. Einen solchen Andrang beobachte sie oft, sagt Erven-Hoppe. »Vermutlich spricht sich unser Angebot vor allem durch Mundpropaganda herum.« An drei Tagen in der Woche böten die Ärzte hier Sprechstunden an. Und zur Wahrung der Anonymität könnten sich die Leute auch mit einem erfundenen Namen anmelden, unter dem dann die Krankenakten geführt würden.

 

2009 nutzten dem Jahresbericht der Malteser zufolge 5600 Menschen die Einrichtung, knapp 70 Prozent von ihnen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Die übrigen kamen mehrheitlich, weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht krankenversichert sind. Der größte Teil der Hilfesuchenden stammte aus Ländern der Europäischen Union (26 Prozent), gefolgt von Afrika (23 Prozent), Asien (18 Prozent) und Lateinamerika (12 Prozent). Die meisten kamen aufgrund einer Schwangerschaft (18 Prozent) zu den Maltesern. Das Spektrum der anderen Behandlungsursachen reiche weit, sagte Erven-Hoppe. »Auffällig viele unserer Patienten leiden an schweren oder fortgeschrittenen Krankheiten.« Offenbar herrsche selbst an diesem geschützten Ort Furcht vor der Entdeckung durch die Behörden.

 

»Wegen eines Schnupfens kommt hier so gut wie niemand«, bestätigt Dr. Adelheid Franz, die die Einrichtung leitet und dort die allgemeinmedizinischen Behandlungen durchführt. Ihr Sprechzimmer misst 16 m2, und der Platz wird gut genutzt. An fast allen Wänden finden sich einheitliche, selbstgeschreinerte Holzregale, die bis unter die Decke reichen und in denen sich Verbandsmaterial, Medikamente, Fachbücher und Krankenakten drängen. Die Ärztin selbst sitzt im weißen Arztkittel hinter ihrem großen, massiven Schreibtisch, während sie mit der PZ spricht.

 

Vor knapp zehn Jahren fragte sie der damalige Diözesanleiter der Berliner Malteser, ob sie eine Versorgungseinheit für Illegale aufbauen und leiten wolle. »Das kann ich mir vorstellen«, antwortete sie und machte sich 2001 an die Arbeit. Sie richtete den Raum ein, der ihr bis heute als Sprechzimmer und Schaltzentrale dient, und behandelte dort die ersten Patienten. Sie und die Malteser trafen Verabredungen mit den Berliner Behörden, rekrutierten Spenden und ehrenamtliche Mitstreiter und bauten im Laufe der Jahre eine Art kleines medizinisches Versorgungszentrum auf.

 

Derzeit umfasst es fünf Behandlungsräume. Computerausdrucke an den Türen verraten die dahinter befindliche Fachrichtung: Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Pä­diatrie, Zahnmedizin, Orthopädie, Krankengymnastik, Neurologie, Psychologie, Psychiatrie. Innen findet sich eine typische, wenn auch schlichte und sparsame medizinische Einrichtung, etwa ein Zahnarzt- und ein gynäkologischer Stuhl und drei Ultraschallgeräte. Teils ist die Ausstattung mit Spendengeldern erworben, teils direkt von niedergelassenen Ärzten und Firmen gespendet.

 

»Wir bieten hier Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen an, überwachen und betreuen chronisch Kranke und können auch viele akute Probleme an Ort und Stelle diagnostizieren und behandeln«, sagt Franz. Wenn das nicht möglich sei, würden die Betroffenen zu kooperierenden Fachärzten, Labors oder Kliniken geschickt. »Die Malteser Migranten Medizin verfügt inzwischen über ein Netzwerk von etwa 200 Partnern in Berlin«, berichtet Erven-Hoppe. Diese behandelten Patienten ebenfalls umsonst und stellten die dabei verwendeten Hilfsmittel, wie etwa Röntgenfilme oder Verbandsmaterial, so günstig wie möglich zur Verfügung. Sogar ein Dolmetscherdienst engagiere sich und schicke bei unlösbaren Kommunikationsproblemen umsonst einen Mitarbeiter vorbei. »Oft gelingt die Verständigung aber schon durch die Sprachkenntnisse unserer Ehrenamtler, von Angehörigen oder anderen Patienten.«

 

»In der Regel klären wir bei unseren Gesprächen auch die Bedürftigkeit«, sagt Franz. Danach richte sich, ob die Malteser Migranten Medizin die Kosten für verwendete medizinische Materialien vollständig übernehme, oder ob ein Patient einen Teil beisteuern könne. Als Beispiel erzählte Franz von einer Patientin aus Südamerika, die seit etwa fünf Jahren in monatlichen Raten von 20 Euro eine Chemotherapie abbezahlt, die sie in einer Berliner Klinik erhielt und die ihren damaligen Brustkrebs besiegt zu haben scheint.

Bei sehr schweren und kostenintensiven Krankheiten, die eine Abschiebung unmöglich machten oder sich im Herkunftsland nachweislich nicht angemessen behandeln ließen, bestehe auch die Möglichkeit, eine Duldung zu beantragen. Dann übernehme das Sozialamt die Kosten für die Therapie, allerdings riskieren die Patienten nach der Genesung die Abschiebung. Von derartigen Fällen hat Franz schon mehrfach erfahren, aber auch von den umgekehrten, dass nämlich Patienten nach Anrufung einer Härtefallkommission dauerhaft in Deutschland bleiben durften.

 

Staatliches Handeln gefordert

 

Der Stellenwert von Einrichtungen wie der Malteser Migranten Medizin sei nicht hoch genug einzuschätzen, heißt es im Gutachten der Arbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität. Allerdings befänden sich die Hilfsangebote nur in manchen Gemeinden, erreichten also wohl nur einen Bruchteil der Zielgruppe. Zudem könnten sie längst nicht alle erforderlichen Behandlungen finanzieren. Deshalb fordern die Autoren ein Handeln des Staates. Tatsächlich beschäftigen sich Politiker in jüngster Zeit häufiger mit dem Thema. So beschloss der Bundesrat 2009, Menschen ohne Papiere die Notfallbehandlung im Krankenhaus, die ihnen rechtlich zusteht, besser zugänglich zu machen. Fortan gilt dort die Schweigepflicht nicht länger nur für Ärzte, sondern auch für das Verwaltungspersonal und selbst für die Sozialämter, falls Kliniken ihnen Daten von Patienten ohne legalen Aufenthaltsstatus zur Leistungsabrechnung übermitteln. Allerdings bleibt die ambulante Versorgung von der Neuerung unberührt. Als mögliche Lösung eignet sich möglicherweise die Einführung eines anonymen Krankenscheins, mit dem sich bei den Sozialämtern ohne Risiko die Erstattung von Behandlungskosten beantragen lässt. Diese Idee befindet sich schon länger in der politischen Diskussion, und auch der diesjährige Deutsche Ärztetag sprach sich dafür aus. In dem entsprechenden Beschluss heißt es: »Ein kranker Mensch ist in erster Linie jemand, der ärztlicher Hilfe bedarf, und zwar unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder seinem Aufenthaltsstatus.«

 

Wie sich die Frage weiterentwickelt, bleibt abzuwarten. Die Malteser Migranten Medizin jedenfalls wird sich weiter für die Patienten in der rechtlichen Grauzone engagieren und dafür die Hilfe von Spendern benötigen. »Auch die Apotheker könnten sich einbringen, zum Beispiel durch die kostenlose Einlösung von Rezepten«, sagt Franz (Informationen und Kontakte finden sich unter www.malteser-migranten-medizin.de).

 

Franz hat bei ihrer Arbeit durchaus Trauer und Tod miterlebt, aber auch viel Schönes. »Über 900 Babys haben wir mithilfe der kooperierenden Berliner Geburtskliniken schon zur Welt gebracht«, sagt sie als Beispiel. »Und viele Mütter gewinnen während der Schwangerschaft so viel Vertrauen zu uns, dass sie ihre Kinder zu allen Impf- und Vorsorgeterminen vorbeibringen.« »Ein guter Segen« liege über der Einrichtung, zumindest lösten sich die meisten Probleme wie von selbst. »Neulich zum Beispiel machte ich mir Sorgen, wie wir die ständig steigende Zahl der Schwangeren betreuen sollen, und prompt bot mir eine neue Frauenärztin ihre Dienste an.« Auch viele zunächst aussichtslos erscheinende Patientengeschichten seien schon zu einem guten Ende gekommen. An sich nehme sie den Namen Gottes nicht leichtfertig in den Mund, sagt Franz. »Aber manchmal denke ich, er will, was wir hier machen.« /

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