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Neues Duo für Kinder

02.08.2017  09:50 Uhr

Von Kerstin A. Gräfe und Sven Siebenand / Zwei Orphan Drugs gegen seltene genetische Erkrankungen bei Kindern kamen im Juli auf den deutschen Markt. Nusinersen hilft bei spinaler Muskelatrophie und Cerliponase alfa ist eine Enzymersatztherapie bei einer rasch fortschreitenden pädiatrischen Gehirnerkrankung.

Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) bilden eine heterogene Gruppe lyso­somaler Speicherkrankheiten, zu der auch die autosomal rezessive, neuro­degenerative Erkrankung Ceroid-Lipofuszinose Typ 2 (CLN2) gehört. CLN2 wird verursacht durch Mutationen des TPP1-Gens, die eine unzureichende ­Aktivität des Enzyms Tripeptidyl-Peptidase-1 (TPP1) zur Folge haben. Daher wird die seltene Erkrankung auch als TPP1-Mangel bezeichnet. Fehlt TPP1, reichern sich lysosomale Speicherstoffe, die normalerweise durch dieses Enzym abgebaut werden, in vielen Organen an, vor allem im Gehirn und in der Netzhaut. Die Anhäufung dieser Speicherstoffe in Zellen des Nervensystems ist beteiligt an der fortschreitenden und unaufhaltsamen Neurodegeneration.

 

Typischerweise bekommen Kinder mit CLN2 im Alter zwischen zwei und vier Jahren Krampfanfälle, denen in den meisten Fällen eine sprachliche Entwicklungsverzögerung vorausgeht. Die Krankheit schreitet rasch voran und die meisten Kinder verlieren im Alter von etwa sechs Jahren die Fähigkeit zu laufen und zu sprechen. Nach den ­ersten Symptomen kommen Bewegungsstörungen, motorische Ausfälle, Demenz und Erblindung hinzu und der Tod tritt gewöhnlich zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr ein. Bisher gab es keine zugelassene Therapie zur Behandlung dieser Kinder.

 

<typohead type="1">Cerliponase alfa

Cerliponase alfa (Brineura® 150 mg Infusionslösung, Biomarin International) ist eine rekombinante Form der humanen TPP1, die seit Juli 2017 auf dem deutschen Markt ist. Dank der Enzym­ersatztherapie können die CLN2-aus­lösenden Speicherstoffe abgebaut werden.

 

Um die Zellen des Gehirns und des zentralen Nervensystems zu erreichen, wird Brineura direkt in die Zerebro­spinalflüssigkeit appliziert. Die übliche Dosis beträgt 300 mg Cerliponase alfa alle zwei Wochen. Bei Patienten unter zwei Jahren wird eine geringere Dosierung empfohlen. Um das Infektions­risiko zu senken, muss das Präparat ­unter Anwendung einer aseptischen Technik verabreicht werden. Für die Implantation der Zugangsvorrichtung für Brineura ist eine Operation erforderlich. 30 bis 60 Minuten vor dem ­Beginn der Infusion wird zu einer Prämedikation bestehend aus Antihist­aminika mit oder ohne Antipyretika geraten.

 

Bei Patienten, die Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder eine reduzierte geistige Verfassung aufweisen, die nach Ansicht des behandelnden Arztes auf einen möglichen Anstieg des Hirndrucks zurückzuführen sein können, sollte die Infusion unterbrochen und/oder die Infusionsrate verlangsamt werden. Diese Vorsichtsmaßnahmen sind bei Patienten unter drei Jahren besonders wichtig.

 

Wirksamkeit und Sicherheit von Brineura wurden in einer offenen Dosis­eskalationsstudie (190-201) sowie in einer langfristigen Verlängerungsstudie (190-202) an Kindern mit CLN2 ­untersucht und mit unbehandelten Patienten aus einer Datenbank mit ­Informationen zum natürlichem Krankheitsverlauf verglichen. Zur Beurteilung der Krankheitsprogression nutzen diese Studien die Summen der Domänen Motorik und Sprache einer krankheitsspezifischen klinischen Bewertungsskala. Jede Domäne umfasst Werte von 3 (größtenteils normal) bis 0 (hochgradig beeinträchtigt) mit einem möglichen zu erreichenden Gesamtwert von 6.

 

Fortschreiten verlangsamt

In Studie 190-201 wurden 23 Patienten im Alter von drei bis acht Jahren mit 300 mg Brineura alle zwei Wochen über 48 Wochen behandelt. Der durchschnittliche CLN2-Wert bei Baseline lag bei 3,5. Legt man die Werte aus der Daten­bank unbehandelter Kinder zugrunde, wäre mit einer durchschnitt­lichen Abnahme von 2 Punkten in 48 Wochen zu rechnen. In der Studie 190-201 war dies nur bei 3 von 23 behandelten Kindern der Fall. Ein Kind zeigte nach 48 Wochen eine Abnahme von 1 Punkt und die restlichen 15 Kinder verschlechterten sich gar nicht. Zwei Kinder konnten sich auf der Skala sogar um 1 Punkt verbessern.

 

Insgesamt führten die Ergebnisse bei den 23 Kindern zu einer durchschnittlichen Verschlechterungsrate von 0,4 Punkten nach 48 Wochen. Wenn man dies mit der erwarteten Verschlechterungsrate auf Basis des natürlichen Krankheitsverlaufs vergleicht (-2 Punkte), haben die Studienergebnisse statistische Signifikanz. Alle 23 Kinder setzten die Brineura-Behandlung mit 300 mg in jeder zweiten ­Woche im Rahmen der Verlängerungsstudie 190-202 fort. Die bis zum Zeitpunkt der Erstellung der Fachinforma­tion gewonnenen Daten zeigen, dass der Behandlungseffekt zumindest bis zur 113. Therapiewoche weiter auf diesem Niveau anhielt und das Fortschreiten der Krankheit somit bei den meisten Kindern verlangsamt werden konnte.

 

Zu den am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen zählen Fieber, ­Erbrechen, EKG-Abweichungen, Infektionen der oberen Atemwege und Überempfindlichkeitsreaktionen.

 

--> vorläufige Bewertung: Sprunginnovation

 

<typohead type="1">Nusinersen

Mit Nusinersen (Spinraza® 12 mg Injek­tionslösung, Biogen) ist seit Juli erstmals eine medikamentöse Option zur ­Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA) verfügbar. Die 5q-SMA ist die häufigste Form der SMA, die etwa 95 Prozent aller Fälle ausmacht. Nusinersen ist ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid. Dabei handelt es sich um modifizierte komplementäre RNA-Moleküle, die selektiv an eine Ziel-RNA binden und dadurch ­modulierend in die Genexpression eingreifen. Die SMA ist eine seltene, genetische Erkrankung, die durch einen Defekt oder einen Funktionsverlust des SMN1-Gens gekennzeichnet ist.

 

Das von diesem Gen kodierte SMN-Protein ist essenziell für das Überleben von Motoneuronen, also den Nervenzellen, die die Muskeln steuern. Ihr Rückgang führt zu einer schweren fortschreitenden Schwäche und Atrophie der abhängigen Muskulatur. Bei der schwersten Form kommt es zu Lähmungen und Ausfällen lebenswichtiger Muskelgruppen, etwa der Atem- oder der Schluckmuskulatur. So erlangen ­Patienten mit frühzeitigem Krankheitsbeginn, der infantilen SMA, nie die ­Fähigkeit, ohne Hilfe zu sitzen, und erreichen nur mit maschineller Beatmung ein Alter von mehr als zwei Jahren. Bei Patienten mit späterem Krankheits­beginn ist die Erkrankung weniger stark ausgeprägt. Sie verlieren die im Laufe des Lebens erworbenen motorischen ­Fähigkeiten, was tiefgreifende Einschnitte in die Lebensqualität bedeutet.

 

Fehler beim Spleißen

Eine Schlüsselrolle im Wirkmechanismus von Nusinersen hat das Gen SMN2. Das zum SMN1 fast baugleiche Gen ­kodiert ebenfalls für das SMN-Protein, hat allerdings eine Art Webfehler. Der geringfügige Unterschied zum SMN1-Gen hat zur Folge, dass beim Ablesen von SMN2 zu etwa 90 Prozent ein ­unvollständiges, verkürztes Protein entsteht: SMNΔ7. Es ist funktions­untüchtig und wird rasch abgebaut.

 

Wie kommt diese Abweichung zustande? Der Fehler passiert beim sogenannten Spleißen, dem Vorgang, der aus prä-mRNA reife mRNA macht. Dabei werden sogenannte Introns herausgeschnitten, während die Exons erhalten bleiben. Wird das Exon 7 fälschlicherweise auch herausgeschnitten, entsteht in der Folge das verkürzte SMNΔ7-Protein. Einen Anteil am Ausschluss von Exon 7 hat der sogenannte Intronic Splicing Silcencer (ISS)-N1. Hier bindet das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen und verdrängt dadurch die ebenfalls am Spleißvorgang beteiligten hnRNP-Proteine von ihrer Bindungsstelle an ISS-N1. In der Folge wird das Exon 7 beim Spleißen nicht mehr heraus­geschnitten und es entsteht ein funk­tionelles SMN-Protein in voller Länge.

 

Die empfohlene Dosis von Nusinersen beträgt 12 mg pro Anwendung. Die Behandlung sollte so früh wie möglich nach der Diagnose mit vier Aufsättigungsdosen an den Tagen 0, 14, 28 und 63 begonnen werden. Anschließend sollte alle vier Monate eine Erhaltungsdosis verabreicht werden. Die Applikation erfolgt per Lumbalpunktion direkt in den Liquorraum des Wirbelkanals der Wirbelsäule.

 

Applikation ins Rückenmark

 

In Zusammenhang mit der Lumbalpunktion können Nebenwirkungen wie Kopf- und Rückenschmerzen sowie ­Erbrechen auftreten. Nach der Gabe von anderen subkutan oder intravenös ­angewendeten Antisense-Oligonukleotiden wurden Blutgerinnungsstörungen und Thrombozytopenie sowie Nieren­toxizität beobachtet. Wenn es klinisch angezeigt ist, wird daher vor der Anwendung des neuen Präparats empfohlen, die Thrombozytenzahl und Blutgerinnungsparameter anhand von Labortests zu bestimmen und eine Urinuntersuchung auf Protein durchzuführen.

 

Die Zulassung basiert auf den beiden randomisierten Doppelblindstu­dien ENDEAR, an der Patienten mit ­infantiler SMA teilnahmen, sowie CHERISH mit Patienten mit späterem SMA-Krankheitsbeginn. In ENDEAR erhielten randomisiert 121 Säuglinge im Verhältnis 2:1 entweder Spinraza oder Placebo. Als primärer Endpunkt der 13-monatigen Studie wurde unter anderem die Differenz im HINE-Score (Hammer­smith Infant Neurological Examination) definiert, der verschiedene Meilensteine der motorischen Entwicklung beurteilt, etwa die Fähigkeit zu greifen, zu treten, zu stehen oder zu sitzen. Im Vergleich zu Placebo war der Anteil der ­Patienten, die sich – je nach Item – um 2 oder mehr Punkte beziehungsweise um 1 oder mehr Punkte verbesserten, unter Nusinersen mit 51 Prozent signifikant höher als unter Placebo ( 0 Prozent). Zudem senkte Nusinersen das Sterberisiko um 47 Prozent.

 

An der CHERISH-Studie nahmen 126 SMA-Patienten im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren teil, deren Symptomatik frühestens mit sechs Monaten eingesetzt hatte. Sie erhielten 15 Monate lang randomisiert im Verhältnis 2:1 entweder Nusinersen oder Placebo. Die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten wurde anhand des HFMSE-Score (Hammersmith Functional Motor Scale Expanded) erfasst. Dabei handelt es sich um ein valides Messinstrument zur Bestimmung der Muskelfunktion. Als klinisch bedeutsam galt ein Unterschied von 3,0 Punkten. Während Patienten mit Nusinersen eine Verbesserung um 3,9 Punkte erreichten, verschlechterte sich der Score bei Patienten unter Placebo um 1,0 Punkte.

 

Nusinersen hat ein günstiges Sicherheitsprofil. Die meisten Nebenwirkungen wie Infektionen der oberen und unteren Atemwege sowie Obstipation standen entweder im Zusammenhang mit der Grunderkrankung oder waren der Lumbalpunktion geschuldet. /

 

--> vorläufige Bewertung: Sprunginnovation

Kommentar

Erstklassig

Beide neuen Arzneistoffe aus dem Juli 2017 sind als Sprunginnovationen einzustufen. Bislang gab es keine kausale Behandlungsoption für Kinder mit der schweren lysosomalen Speicherkrankheit Ceroid-Lipofuszinose (CLN2). Das hat sich dank der Enzymersatztherapie mit Cerliponase alfa nun geändert. Die Studienergebnisse sind vielversprechend: Die Behandlung mit der rekombinanten Form der humanen Tripeptidyl-Peptidase-1 konnte bei ­vielen Kindern das Fortschreiten dieser degenerativen Erkrankung des ­Gehirns verlangsamen oder die Krankheit stabilisieren.

 

Ähnlich verhält es sich bei der zweiten Neueinführung im Juli. Dank Nusinersen ist die spinale Muskelatrophie (SMA) bei den meisten Betroffenen erstmals medikamentös behandelbar. Nusinersen greift als Antisense-Oligo­nukleotid in zelluläre Prozesse am SMN2-Gen ein und hilft so, das bei den Patienten fehlende SMN-Protein wieder verfügbar zu machen und das Überleben der Motoneuronen im Rücken­mark und im unteren Hirnstamm sicherzustellen. Die Studien zeigen, dass sich sowohl bei Patienten mit infantiler SMA als auch bei Betroffenen mit späterem Krankheitsbeginn eine Verbesserung der Muskelfunktion erreichen lässt.

 

Sven Siebenand, 

stellvertretender Chefredakteur

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