Gefährliche Attacke auf die Haut |
27.07.2012 10:13 Uhr |
Von Hannelore Gießen / Unerwünschte Arzneimittelwirkungen zeigen sich häufig an der Haut. Meist verlaufen sie harmlos und klingen von selbst wieder ab, wenn der Patient das Medikament absetzt. In seltenen Fällen kann es zu schweren Schäden bis hin zu tödlichen Komplikationen kommen.
Wegen einer akuten Bronchitis muss die dreijährige Elsa einen Amoxicillin-Saft einnehmen. Nach zwei Tagen geht es ihr schon deutlich besser, aber nach fünf Tagen zeigen sich auf ihrem Oberkörper einige rote Flecken. Da der Kinderarzt an diesem Tag keine Sprechstunde mehr hat, geht ihre Mutter mit Elsa in die Apotheke, in der sie den Antibiotika-Saft geholt hat. Die Apothekerin wirft einen prüfenden Blick auf das Kind und erklärt: »Vermutlich reagiert Elsa mit einem Ausschlag auf Amoxicillin. Bei fünf bis zehn Prozent aller Kinder oder Erwachsenen, die dieses Antibiotikum einnehmen, tritt eine Hautreaktion auf. Meist ist sie harmlos, in seltenen Fällen können sich jedoch schwere Komplikationen entwickeln. Stellen Sie Elsa deshalb bitte einem Arzt vor.«
Großflächige Urtikaria mit Quaddelbildung
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Unerwünschte Hautreaktionen
Mitunter ist die Apotheke die erste Anlaufstelle, wenn ein Patient auf die Einnahme eines Medikaments mit einem Hautausschlag reagiert. Und das ist keineswegs selten. »Zwischen 3 und 6 Prozent aller Krankenhausaufnahmen sind auf Arzneimittelreaktionen zurückzuführen. Einem Fünftel davon liegen Überempfindlichkeitsreaktionen zugrunde«, berichtet Professor Dr. Knut Brockow vom Klinikum rechts der Isar in München im Gespräch mit der PZ. »Wir sehen in den letzten Jahren eine moderate Zunahme an Reaktionen, wissen aber nicht, ob es tatsächlich mehr Fälle sind oder nur die Aufmerksamkeit dafür gestiegen ist.«
Besonders häufig treten arzneimittelbedingte Hautveränderungen bei älteren Menschen auf, denn Leber und Nieren scheiden die Abbauprodukte von Medikamenten, welche für Hautreaktionen verantwortlich sein können, verzögert aus. Meist nehmen Senioren auch mehrere Arzneimittel ein, die interagieren und ihre Metabolisierung wechselseitig beeinflussen können. Mit der Zahl der Substanzen wächst die Gefahr allergischer Reaktionen.
Wie hoch das Risiko ist, hängt auch von der Darreichungsform des Medikaments ab: Am höchsten ist es bei einer Anwendung auf, in und unter der Haut sowie bei intramuskulärer oder intravenöser Applikation. Das geringste Risiko besteht bei der Einnahme eines Wirkstoffs als Tablette, Saft oder Tropfen.
Von Ausschlag bis Urtikaria
Eine Medikamentenüberempfindlichkeit kann sich prinzipiell an allen Organen abspielen und beispielsweise an der Leber schwere Schäden hervorrufen. Besonders häufig reagiert jedoch die Haut auf ein Arzneimittel – meist mit einem Ausschlag, kleinfleckig wie bei Röteln oder großfleckig wie bei Masern. Mitunter bilden sich auch Quaddeln, und die Hautreaktionen weiten sich von Armen und Beinen auf den Rumpf aus. Das als makulös oder makulopapulös bezeichnete Arzneimittelexanthem ist mit rund 40 Prozent die häufigste Variante allergischer Arzneimittelreaktionen.
Fast ebenso oft tritt eine Urtikaria (Nesselsucht) auf, bei der sich an wechselnden Stellen immer wieder Quaddeln bilden. Dagegen entwickelt sich beim fixen Arzneimittelexanthem ein Ausschlag an derselben Hautstelle wieder, wenn das auslösende Arzneimittel erneut angewandt wird (1).
Allergische Reaktionen können innerhalb von Minuten nach Arzneimitteleinnahme oder -anwendung auftreten und schwere Allgemeinsymptome bis hin zum anaphylaktischen Schock hervorrufen. Die häufigeren Spätreaktionen setzen jedoch erst nach etwa fünf Tagen ein.
Selten, aber lebensbedrohlich
Durch Medikamente induzierte Hautreaktionen klingen in der Regel schnell wieder ab, doch in seltenen Fällen kann sich die Situation verschärfen. Die Symptome nehmen zu, greifen auf die Schleimhäute über und erfassen weitere Organe. So kann sich ein Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) oder eine toxische epidermale Nekrolyse (TEN) entwickeln. Diese dramatischste aller Arzneimittelreaktionen verläuft in etwa 30 Prozent der Fälle tödlich.
Ist die verhängnisvolle Kaskade erst in Gang, können sich innerhalb kurzer Zeit Hautschichten von der gesamten Körperoberfläche ablösen. Mit ein bis zwei Fällen jährlich je 1 Million Einwohner – das sind 80 bis 160 Patienten in ganz Deutschland – sind diese Komplikationen glücklicherweise extrem selten (2, 3, 4). Wegen des möglicherweise dramatischen Verlaufs sollten Patienten mit einem Verdacht auf eine Arzneimittelallergie jedoch immer einem Arzt vorgestellt werden, mahnt der Münchner Dermatologe Brockow.
Das Spektrum der Arzneistoffe, die unerwünschte Effekte an der Haut auslösen, unterscheidet sich für die verschiedenen Reaktionsformen erheblich. Während Antibiotika bei Weitem die häufigsten Auslöser von milderen Hautreaktionen sind, haben sie ein deutlich niedrigeres Risiko, schwere Erkrankungen wie SJS oder TEN hervorzurufen. »Hier sind Antiepileptika häufige Auslöser, wobei auch Fälle nach Allopurinol, Nevirapin, antiinfektiven Sulfonamiden wie Sulfamethoxazol sowie nicht-steroidalen Antiphlogistika vom Oxicamtyp beschrieben wurden«, berichtet Professor Dr. Maja Mockenhaupt vom Dokumentationszentrum schwerer Hautreaktionen, Universitäts-Hautklinik Freiburg, im Gespräch mit der PZ.
Intoleranz oder Allergie
Nicht immer ist es tatsächlich eine Allergie, die Rötung und Juckreiz, Papeln und Pusteln auf der Haut hervorruft. Auch eine Unverträglichkeit oder Intoleranz kann hinter den Symptomen stecken.
Allergie und Intoleranz sind zwei Antworten des Körpers auf ein Arzneimittel, denen unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen. Eine Allergie ist eine erworbene Überempfindlichkeitsreaktion des Immunsystems, wobei man vier Varianten unterscheidet. Während Typ 2 und 3 vor allem bei Autoimmunerkrankungen eine Rolle spielen, reagiert der Körper auf exogene Substanzen meist mit einer als Typ 1 bezeichneten, B-Zell-vermittelten Sofortreaktion oder mit einer T-Zell-vermittelten, verzögerten Reaktion vom Typ 4. Bei der Typ-1-Reaktion bilden B-Zellen Immunglobuline der Klasse E (IgE), die eine Entzündungskaskade in Gang setzen, in deren Verlauf Mastzellen Botenstoffe wie Histamin freisetzen.
Topische Arzneimittel lösen häufiger unerwünschte Hautreaktionen aus als Peroralia.
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»Eine allergische Reaktionsbereitschaft des Körpers, eine Atopie, ist keine Voraussetzung für eine Hypersensitivitätsreaktion auf Arzneimittel«, betont Brockow. Im Gegensatz zu Nahrungsmittelallergien existiere allenfalls eine geringfügige Korrelation zwischen einer atopischen Veranlagung und einer allergischen Reaktion auf ein Arzneimittel.
Unter dem Begriff »Intoleranzen« werden pseudoallergische Reaktionen zusammengefasst, denen noch nicht vollständig geklärte Mechanismen zugrunde liegen. So ist eine direkte IgE-unabhängige Freisetzung von Histamin aus den Mastzellen bei Antibiotika, Muskelrelaxanzien und Opioiden beschrieben. Nicht-steroidale Antiphlogistika (NSAIDs) beeinflussen den Arachidonsäure-Metabolismus, indem sie das Enzym Cyclooxigenase hemmen. Dadurch wird die Synthese von Prostaglandinen und Leukotrienen in Richtung der Leukotriene verschoben, die eine Degeneration der Mastzellen stimulieren, sodass Histamin freigesetzt wird.
Während bereits winzige Substanzmengen eine allergische Reaktion auslösen können, sind für eine Intoleranz größere Mengen nötig. Die Symptome sind jedoch oftmals gleich, und eine diagnostische Unterscheidung kann äußerst schwierig sein. Allerdings verläuft eine Intoleranzreaktion meist nicht so schwer wie eine allergische.
Im »European Network of Drug Allergy (ENDA)« werden nicht-allergische und allergische Reaktionen auf Arzneimittel unter dem Begriff »Arzneimittel-Hypersensitivität« zusammengefasst (5).
Vom Arzneistoff zum Antigen
Birkenpollen, Erdnusspartikel, Milcheiweiß: Meist sind es Proteine, die eine allergische Reaktion hervorrufen. So überrascht es zunächst, dass auch kleine anorganische Moleküle, wie viele Arzneistoffe, eine Allergie auslösen können.
Einen Erklärungsansatz bietet das in den 1990er-Jahren entwickelte »Hapten-Konzept«: Hapten leitet sich von haptein (griechisch) für »greifen, fassen« ab. Arzneistoffe binden dabei kovalent an körpereigene Proteine. Die Konjugate aus Arzneistoff und Trägerprotein werden von einer Subgruppe der T-Zellen, den Th2-Zellen, als »fremd« erkannt. Dies setzt eine immunologische Reaktion in Gang, an der das angeborene und das erworbene Immunsystem beteiligt sind.
Dieses Konzept beschreibt sehr gut allergische Reaktionen auf Penicilline, erklärt den Mechanismus anderer Arzneimittelallergien jedoch nur unbefriedigend. Deshalb wurde neben dem »Hapten-Konzept« das »p-i-concept« entwickelt, das von einer pharmakologischen Interaktion (»p-i«) des Wirkstoffs mit bestimmten immunologischen Merkmalen, den HLA-Allelen (siehe Kasten), ausgeht. Der Arzneistoff bindet direkt, nicht-kovalent an HLA-Allele und an den T-Zellrezeptor und setzt so eine Immunreaktion in Gang, vergleichbar mit einer pharmakologischen Rezeptoraktivierung (6, 7).
Die Major Histocompatibility Complex (MHC)-Antigene waren zunächst bei Organtransplantationen bei Tieren entdeckt worden. Ähnliche Strukturen wurden kurz darauf auch auf menschlichen Leukozyten gefunden und daher als »humane Leukozyten-Antigene (HLA)« bezeichnet. Sie charakterisieren immunologische Individualität und spielen nicht nur bei Transplantationen eine entscheidende Rolle. Vielmehr modulieren sie auch das Risiko für bestimmte Erkrankungen, beispielsweise allergische Reaktionen auf Arzneimittel.
Ein solcher Mechanismus wird vor allem für Carbamazepin diskutiert, während andere Arzneistoffe sowohl durch p-i-Interaktionen als auch durch Haptenisierung von Proteinen T-Zellen aktivieren. Bei beiden Konzepten spielt der Rezeptor der T-Zellen eine entscheidende Rolle. Pharmakogenetische Untersuchungen haben kürzlich gezeigt, dass bei manchen Varianten des T-Zellrezeptors eine Arzneimittel-Hypersensitivitätsreaktion deutlich häufiger auftritt.
Genetische Merkmale als Risikomarker
In den 1990er-Jahren wurde zudem entdeckt, dass Patienten mit bestimmten HLA-Allelen wesentlich häufiger allergische Reaktionen auf Arzneimittel entwickeln als andere. So kann bei Menschen, die eine bestimmte Variante des HLA-Allels, das HLA-B*5701, tragen und mit dem HIV-Therapeutikum Abacavir behandelt werden, eine schwere Hypersensitivität auftreten, die im schlimmsten Fall zm Multi-Organ-Versagen führt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat deshalb die Therapie mit Abacavir mit der Auflage verknüpft, dieses HLA-B-Merkmal des Patienten zu bestimmen, um Träger des Risikoallels von der Behandlung auszuschließen.
Auch das Antiepileptikum Carbamazepin ruft häufig allergische Reaktionen an der Haut hervor: Ausschlag mit Pickeln und Pusteln bis hin zu schweren Hautreaktionen wie SJS oder TEN. Bei Han-Chinesen konnte eine sehr starke Assoziation von HLA-B*1502 und Carbamazepin-induzierten SJS- und TEN-Fällen festgestellt werden, die sich so in Europa nicht fand. »Ärzte in Taiwan testen daher vor Beginn einer Carbamazepin-Therapie, ob die Patienten für HLA-B*1502 positiv sind«, erläutert die Freiburger Dermatologin Mockenhaupt.
Ende Mai 2012 wies ein Rote-Hand-Brief auf das Risiko schwerer Hypersensitivitätsreaktionen, einschließlich SJS, bei dem neuen Xanthinoxidase-Hemmer Febuxostat hin (8, 9). Solche Fälle wurden laut Mockenhaupt im Dokumentationszentrum schwerer Hautreaktionen (dZh) bislang jedoch nicht beobachtet.
Derzeit prüfen Wissenschaftler der University of Liverpool, Institute for Translational Medicine and Drug Safety, den Zusammenhang von bestimmten HLA-Allelen und verschiedenen Arzneistoffen an gesunden Probanden. Ziel ist es, eine Datenbank aufzubauen, die einen Überblick über die Assoziationen von genetischen Merkmalen und Arzneimittel-Hypersensitivität gibt (10).
Großflächige Allergie auf Penicilline
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Häufigste Auslöser: Betalactam-Antibiotika
Nahezu die Hälfte aller Arzneimittel-Unverträglichkeiten geht auf Betalactam-Antibiotika zurück. Bei etwa 5 bis 10 Prozent der Patienten, die mit einer Substanz aus dieser Gruppe behandelt werden, bildet sich ein Hautausschlag. Auslöser ist meist Amoxicillin. Während der Therapie oder noch bis zu sechs Wochen nach Behandlungsbeginn treten rote Flecken und kleine Knötchen auf, die sich mitunter auf den gesamten Körper ausdehnen.
Patienten, die an Pfeiffer’schem Drüsenfieber, einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, erkrankt sind und Amoxicillin erhalten, sind sehr häufig betroffen. Fast 90 Prozent entwickeln einen Ausschlag, hervorgerufen durch die Interaktion von Arzneistoff und Viren mit speziellen immunologischen Hautzellen, den dendritischen Zellen.
Eine Hypersensitivität gegen Betalactam-Antibiotika kann sowohl über spezifische immunologische Mechanismen als auch über pseudoallergische Reaktionen vermittelt werden. Eine aktuelle Untersuchung unter Leitung von Professor Jean-François Nicolas am Centre Hospitalier Lyon Sud der Université de Lyon zeigte, dass nur etwa ein Drittel der Hautreaktionen auf eine allergische Reaktion zurückging, zwei Drittel dagegen auf eine nicht-allergische (11).
Viele Patienten geben eine Betalactam-Allergie in der Vorgeschichte an. Da es genügend andere Antibiotikagruppen gibt, müsse nicht unbedingt geklärt werden, ob tatsächlich eine Hypersensitivität vorliegt, erläutert Mockenhaupt. »Mit einer Ausnahme: Bei jungen Frauen im reproduktionsfähigen Alter halte ich eine Klärung für sinnvoll, um bei einer Infektion während der Schwangerschaft zu wissen, ob und welche Betalactam-Antibiotika eingesetzt werden können.«
Auch unter anderen Antibiotika treten Hautausschläge auf, wobei in der Praxis oft unklar ist, ob eine echte Allergie, eine gleichzeitig bestehende Virusinfektion oder das Zusammenwirken von Virusinfektion und Antibiotikum die Ursache ist. 2 bis 10 Prozent aller Patienten, die mit Chinolonen behandelt werden, entwickeln Hypersensitivitätsreaktionen. Mit 54 Prozent ist Moxifloxacin der häufigste Auslöser, gefolgt von Ciprofloxacin. Patienten mit einer Hypersensitivität gegen Betalactam-Antibiotika tragen ein 17-fach erhöhtes Risiko, auch gegen Chinolone allergisch zu reagieren (12, 13).
Risiko bei NSAID
Den zweiten Platz unter den Auslösern hypersensitiver Arzneimittelreaktionen nehmen nicht-steroidale Antiphlogistika (NSAID) wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Diclofenac ein. Meist rufen sie eine Sofortreaktion hervor. Etwa 1 Prozent der Patienten entwickelt eine Urtikaria oder eine Schwellung von Gesicht, Mund und Rachen, oft schon innerhalb einer Stunde nach Anwendung des Arzneimittels. Bei manchen Patienten kann es zu bedrohlichen Asthmaanfällen kommen, die auch nach Absetzen des Medikaments noch längere Zeit bestehen können.
Mastzellen setzen jedoch auch Botenstoffe wie Histamin frei, ohne dass Immunglobuline dazu den Anstoß geben. Dann sind beispielsweise Leukotriene im Spiel. Dabei können klinisch völlig gleichartige Symptome vorliegen wie bei einem Immunglobulin-vermittelten Prozess. »Sowohl bei ASS als auch bei anderen NSAID entspricht die Reaktion häufig einer Intoleranz. Wir testen in der Klinik unterschiedliche Schmerzmittel beim Patienten, damit dieser weiß, welche Analgetika er in Zukunft einnehmen kann«, berichtet Mockenhaupt.
An den Haarfollikeln kann Erlotinib entzündliche Reaktionen auslösen.
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Alte und neue Tumortherapeutika
Bei einer Chemotherapie sind es Carboplatin, Paclitaxel sowie die Alkylanzien Doxorubicin und Adriamycin, die häufig eine hypersensitive Reaktion hervorrufen. Auch die monoklonalen Antikörper Rituximab, Infliximab und Trastuzumab sowie die Kinaseinhibitoren Nilotinib und Lapatinib lösen oft Hautreaktionen aus. Dies kann sehr problematisch werden, da eine Tumortherapie meist unverzichtbar ist und in der Regel kaum eine medikamentöse Alternative besteht. Wenn möglich, versuchen die Ärzte, die Patienten in einer mehrstufigen Desensibilisierung an die Substanz zu gewöhnen, um die Behandlung fortsetzen zu können (14).
»Diese Therapieoption ist jedoch spezialisierten Zentren vorbehalten. Sie ist extrem erfolgreich, birgt jedoch erhebliche Risiken«, erläutert Brockow. Im Unterschied zu einer Hyposensibilisierung beispielsweise gegen Pollen schütze die Desensibilisierung gegen einen Arzneistoff nur temporär. Bei einer Chemotherapie, die alle vier Wochen eingesetzt wird, müsse der Patient jedes Mal von Neuem desensibilisiert werden.
Unter einer onkologischen Therapie treten auch nicht-allergische Hautreaktionen auf. Erlotinib hemmt den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR) und wird beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom angewendet, dessen Zellen wesentlich mehr Rezeptoren für EGF aufweisen als gesunde. Jedoch reguliert der Wachstumsfaktor auch die Entwicklung der Haarfollikel, sodass es bei 80 Prozent der mit Erlotinib behandelten Patienten zu entzündlichen Reaktionen an den Haarfollikeln kommt.
Bei dem monoklonalen Antikörper Cetuximab, der ebenfalls am EGFR ansetzt und zur Therapie kolorektaler Karzinome angewandt wird, entwickeln die meisten Patienten nach zehntägiger Gabe eine Akne. Diese korreliert mit einem Ansprechen auf die Therapie.
Arzneimittelallergien erkennen
Die Suche nach dem Verursacher einer Hypersensitivitätsreaktion kann der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichen. Schon kleinste Mengen können eine Reaktion auslösen; ein Hautausschlag bricht jedoch oft erst später aus und bleibt manchmal Wochen und Monate nach dem Absetzen des Medikaments bestehen. Mitunter kann das Arzneimittel nur identifiziert werden, indem alle Substanzen – bis auf unverzichtbare wie Insulin – abgesetzt werden.
Fahndung nach dem auslösenden Allergen im Pricktest
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Neben einer gründlichen Anamnese kann der Arzt Hauttests vornehmen. Beim Pricktest gibt er die Allergenlösung entweder auf den Unterarm oder den Rücken und sticht durch den Tropfen hindurch mit einer Spezialnadel etwa einen Millimeter in die Haut. Auch ein Epikutantest mit dem vermuteten allergieauslösenden Arzneistoff kann Klarheit schaffen. Dabei werden standardisierte Allergenzubereitungen auf die Haut unter Testkammern aufgeklebt und die Reaktion beobachtet und ausgewertet.
Im nächsten Diagnoseschritt wird im Blut nach Antikörpern der IgE-Klasse gefahndet. Der Nachweis von spezifischem IgE (sIgE) weist auf eine spezifische Sensibilisierung gegen das entsprechende Allergen hin und kann zur Unterscheidung von allergischen und pseudo-allergischen Reaktionen beitragen. Allerdings sind validierte Tests zum Nachweis spezifischer IgE-Antikörper im Serum erst für wenige Arzneistoffe wie Betalactam-Antibiotika verfügbar.
Auch die Bestimmung des Tryptasespiegels kann nach einer anaphylaktischen oder anaphylaktoiden Reaktion sinnvoll sein. Tryptasen gehören zu den Mediatoren, die vor allem für Mastzellen weitgehend spezifisch sind. Wie die Bestimmung von Histamin kann auch der Nachweis eines erhöhten Tryptasegehalts auf eine aktuelle oder kurz zuvor abgelaufene Aktivierung der Mastzellen hinweisen. Im Gegensatz zu Histamin wird Tryptase aber langsamer abgebaut und ist deshalb aussagekräftiger.
Bei unklaren oder nicht-schlüssigen Ergebnissen blieb bisher nur der Arzneimittelprovokationstest, eine zeitaufwendige, teure und riskante Methode. Seit einiger Zeit steht neben verschiedenen immunologischen Tests mit der Durchflusszytometrie ein weiteres gutes Messverfahren zur Verfügung. Dabei werden Zellen anhand von Form, Struktur und/oder Färbung voneinander unterschieden (15, 16, 17).
Bei neuen Arzneistoffen ist oft kaum bekannt, wie groß das Risiko für Überempfindlichkeitreaktionen ist.
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Auslöser vermeiden, Symptome behandeln
Der wichtigste Schritt in der Behandlung von Arzneimittelreaktionen besteht darin, das auslösende Arzneimittel so rasch wie möglich abzusetzen. In Zukunft muss der Patient dieses ebenso wie chemisch verwandte Substanzen meiden.
Bei leichten Reaktionen erhalten die Patienten ein Antihistaminikum; in schwereren Fällen ist zusätzlich ein Corticosteroid peroral notwendig. Bei bedrohlichen Allgemeinreaktionen wie einem Asthmaanfall oder Kreislaufschock leitet der Arzt eine Notfalltherapie mit bronchialerweiternden und den Kreislauf stabilisierenden Medikamenten ein.
Patienten mit einer Arzneimittel-Hypersensitivität sollten ihren Allergiepass sowohl beim Arzt als auch in der Apotheke vorlegen. Das Apothekenteam kann wesentlich dazu beitragen, dass der Patient keine ihn potenziell gefährdende Substanz erhält.
Gezielte Arzneistoffentwicklung
Bei neuen Arzneistoffen ist das allergene Risiko meist kaum bekannt: So wurden in den letzten Jahrzehnten 3 Prozent aller neu eingeführten Medikamente wegen schwerer Nebenwirkungen, darunter oft allergische Reaktionen, wieder vom Markt genommen. Allergische oder toxische Komplikationen sind auch der häufigste Grund für einen Abbruch der Wirkstoffentwicklung in einem späten Stadium.
Das könnte verhindert werden, wenn beim Design eines neuen Wirkstoffs die Minimierung des allergenen Potenzials gleich mitgeplant wird. Wenn bekannt ist, welche chemischen Strukturen potenziell allergen sind, kann das Molekül gezielt optimiert werden.
Arzneimittel-Hypersensitivität ist noch nicht bis in alle Einzelheiten verstanden und unterliegt vielen Unwägbarkeiten. Patienten können auf ein Arzneimittel oft völlig unvorhersehbar allergisch oder pseudoallergisch reagieren. Auch wenn die kleine Elsa künftig kein Amoxicillin mehr erhält, kann sie auf einen anderen Arzneistoff wieder eine Hautreaktion entwickeln – vor allem, wenn dieser neu ist und wenig klinische Erfahrungen vorliegen. /
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Hannelore Gießenstudierte Pharmazie an der Universität Karlsruhe. Nach mehrjähriger Tätigkeit in öffentlichen Apotheken und einer journalistischen Ausbildung ist sie seit 1990 freiberuflich als Fachjournalistin tätig und bearbeitet medizinische, pharmazeutische und biotechnologische Themen für verschiedene Fachzeitschriften. Gießen hat sich zur Apothekerin für Allgemeinpharmazie weitergebildet und ist Mitarbeiterin in einer öffentlichen Apotheke.
Hannelore Gießen
Gotenstraße 9
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