Arzneimittel als Verstärker |
13.07.2015 11:38 Uhr |
Von Iris Hinneburg / Verwirrt, inkontinent und wacklig auf den Beinen: Manchmal sind solche Symptome keine zwangsläufige Folge des Alters, sondern Nebenwirkungen von Medikamenten. Daher ist bei älteren Patienten der pharmazeutische Spürsinn des Apothekers besonders gefragt.
»So ist das eben im Alter«: Mit solchen Bemerkungen werden Probleme älterer Menschen wie Inkontinenz oder Verwirrtheit oftmals abgetan. Doch häufig übersehen Arzt und Apotheker, dass manche scheinbar alterstypischen Probleme durch die Medikation ausgelöst oder verstärkt werden. Dann kommt es nicht selten zu einer »Verordnungskaskade« (1): Die Nebenwirkungen einer Pharmakotherapie werden mit einem anderen Arzneimittel bekämpft, das wiederum neue unerwünschte Wirkungen mit sich bringt (Kasten).
Ein kräftiger Händedruck spricht für einen guten Gesundheitszustand der Seniorin.
Foto: Shutterstock/Alexander Raths
Dass bei geriatrischen Patienten Verordnungskaskaden besonders häufig vorkommen, hat mehrere Ursachen. So sind ältere Menschen meist besonders empfänglich für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). An dieser erhöhten Vulnerabilität sind vor allem physiologische Veränderungen beteiligt (Tabelle 1). Aber auch häufige Erkrankungen im Alter leisten ihren Beitrag, und viele Senioren leiden unter mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig. Die Multimorbidität bringt häufig eine Polypharmazie mit sich – die Patienten nehmen dauerhaft eine ganze Reihe von Medikamenten ein. Dadurch steigen die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen und damit das Risiko für Nebenwirkungen. Erschwerend kommt hinzu, dass ältere Menschen mögliche UAW nicht mehr so leicht kompensieren wie Jüngere und daraus teilweise fatale Folgen entstehen (2).
Apotheker sollten bei betagten Kunden besonders auch an mögliche UAW denken. Das betrifft vor allem die typischen geriatrischen Syndrome wie kognitive Defizite, Sturzneigung und Inkontinenz. Daneben können Arzneimittel eine zunehmende Gebrechlichkeit (Frailty) fördern. Besteht der begründete Verdacht, dass ein Arzneimittel für die Beschwerden des Patienten (mit-)verantwortlich ist, sollten Patient und Apotheker das Gespräch mit dem Arzt suchen. Zwar ist in den meisten Fällen ein Arzneimittel nicht die einzige Ursache für die Beschwerden, doch kann eine Anpassung der Medikation das Risiko unter Umständen deutlich reduzieren.
Anfällig für ZNS-Nebenwirkungen
Ältere Patienten haben im Vergleich zu jüngeren Menschen ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen im zentralen Nervensystem. Altersphysiologisch werden dafür Veränderungen im Stoffwechsel von Neurotransmittern verantwortlich gemacht. Auch lässt die Aktivität des Efflux-Transporters P-Glykoprotein im Alter nach, sodass Fremdsubstanzen wie Arzneistoffe leichter die Blut-Hirn-Schranke durchdringen. Zudem können Vorerkrankungen die Anfälligkeit für zentralnervöse Nebenwirkungen erhöhen, etwa nach einem Schlaganfall oder bei Demenz (2, 3).
Deshalb werden Senioren beispielsweise durch sedierende Arzneistoffe häufig mehr beeinträchtigt als jüngere Menschen. Problematisch können auch Wirkstoffe sein, die bei Älteren die kognitiven Fähigkeiten einschränken. Auffällig sind dann Symptome wie gestörte Aufmerksamkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme. Treten zusätzlich Störungen des Bewusstseins und der Wahrnehmung auf, sprechen Ärzte von einem Delir.
Manchmal geht ein Delir mit psychomotorischer Unruhe einher (hyperaktive Form). Wesentlich häufiger ist bei Älteren jedoch die hypoaktive Form, bei der die charakteristische Unruhe fehlt. Das erschwert die Diagnose oder Zuordnung der Auffälligkeiten für Ärzte und Angehörige. Nicht selten werden allgemeine Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit und verlangsamte Motorik als beginnende Demenz fehlgedeutet. Anhaltspunkte für eine Abgrenzung der beiden Diagnosen zeigt die Tabelle 2. Allerdings kann ein Delir auch zusätzlich zu einer Demenz auftreten (2).
Eine Frau von über 70 Jahren wird mit febriler Neutropenie stationär aufgenommen. Bei der Anamnese kann der Arzt den folgenden Ablauf rekonstruieren:
Die Frau erhielt wegen Vorhofflimmern Amiodaron und entwickelte daraufhin Beschwerden wie Müdigkeit und Gewichtsverlust. Diagnostiziert wurde eine Thyreotoxikose. Der verordnende Arzt erkannte aber nicht, dass es sich um eine Nebenwirkung von Amiodaron handelte – statt das Arzneimittel abzusetzen, verordnete er zusätzlich Thiamazol. Das Thyreostatikum wiederum führte dann zur febrilen Neutropenie.
Hätte die Patientin nach der ersten aufgetretenen Nebenwirkung statt Amiodaron ein anderes Medikament zur Kontrolle des Vorhofflimmerns erhalten, zum Beispiel einen Beta- oder Calciumkanalblocker, wären ihr die nachfolgenden Nebenwirkungen vermutlich erspart geblieben.Nach (23)
Problem: anticholinerge Wirkstoffe
Kognitive Störungen durch Arzneistoffe können durch eine Reihe von Mechanismen entstehen. In zahlreichen Studien haben Forscher einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Medikamenten mit anticholinergen (Neben-)Wirkungen und dem Auftreten kognitiver Defizite festgestellt. Zu den häufig genannten Arzneistoffen gehören Anticholinergika (etwa bei Morbus Parkinson oder Dranginkontinenz eingesetzt), ältere Antihistaminika, trizyklische Antidepressiva, Benzodiazepine, dopaminerge Parkinson-Medikamente, Neuroleptika, Opioide, Digoxin, Glucocorticoide und Gyrasehemmer.
Biologisch ist diese Assoziation plausibel, da cholinerge Neurone im zentralen Nervensystem an der Regulation von Bewusstsein und Kognition beteiligt sind (4). Für einen ursächlichen Zusammenhang sprechen auch Untersuchungen, die ein höheres Delir-Risiko mit steigender anticholinerger Last und eine Senkung des Risikos bei Reduktion der anticholinergen Medikation nachweisen konnten (5).
Allerdings ist die Studienlage im Hinblick auf die riskanten Wirkstoffe nicht völlig konsistent. Solche Diskrepanzen entstehen vermutlich durch mehrere Faktoren. So hängt das Risiko, ein Delir zu entwickeln, zum einen stark von der Disposition des Patienten ab und wird durch weitere Umstände begünstigt, etwa akute Infektionen oder operative Eingriffe (4). Zum anderen lassen die Studiendesigns nicht immer eindeutige Schlussfolgerungen zu Ursache und Wirkung zu: Mitunter kann die Grunderkrankung der eigentliche Risikofaktor sein. Dann hängt die Einnahme eines bestimmten Medikaments mit der Erkrankung zusammen, ist aber nicht selbst für die Entstehung der kognitiven Störung verantwortlich. So klagen viele Patienten, bei denen viel später eine Demenz diagnostiziert wird, in einem sehr frühen Krankheitsstadium über Angst- oder Schlafstörungen, die dann nicht selten mit Benzodiazepinen behandelt werden (6).
Häufige Veränderungen im Alter | Erhöhtes Risiko für |
---|---|
Verschlechterung der Nierenfunktion, verringerte glomeruläre Filtrationsrate | Gefahr der Kumulation von vorwiegend renal eliminierten Arzneistoffen |
verringerte renale Rückresorption von Natriumionen | Hyponatriämie |
verringertes Durstempfinden, verringerte Fähigkeit zur Harnkonzentrierung | Exsikkose, dadurch eventuell Begünstigung eines Delirs |
schlechter Ernährungszustand, niedriges Körpergewicht | Überdosierung und dadurch möglicherweise toxische Arzneimittelkonzentrationen |
verringerte Schleimbildung im Magen-Darm-Trakt | gastrointestinale Blutungen |
erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke | Delir, Sedierung, Schwindel |
Abnahme der Muskelmasse | Stürze |
Zunahme des Fettanteils | Kumulation von lipidlöslichen Arzneistoffen |
Multimorbidität, Multimedikation | Interaktionen |
funktionelle Beeinträchtigungen (Sehen, Hören, manuelle Geschicklichkeit, Gedächtnis) | Medikationsfehler |
Weitere Neurotransmitter beteiligt
Daneben spielen möglicherweise auch medikamentöse Eingriffe in andere Neurotransmittersysteme, etwa Dopamin und GABA, eventuell auch Serotonin, Noradrenalin, Glutamat und Histamin, bei der Entstehung eines Delirs eine Rolle. So führen beispielsweise Benzodiazepine bei älteren Patienten häufiger zum Delir, als es dem anticholinergen Potenzial entsprechen würde (4).
Außerdem können Arzneimittel über andere Mechanismen Aufmerksamkeit und Gedächtnisfunktion stören, zum Beispiel wenn als Nebenwirkung eine Hyponatriämie auftritt (häufig etwa bei Carbamazepin oder Amitriptylin). Begünstigt wird diese UAW bei geriatrischen Patienten dadurch, dass im Alter die Fähigkeit der Niere zur Rückresorption von Natrium häufig abnimmt.
Verwirrtheit kann auch infolge eines Serotonin-Syndroms entstehen. Dann kommen aber meist Symptome wie Fieber, starkes Schwitzen, Herzrasen oder Zittern hinzu (7).
Um kognitive Nebenwirkungen zu vermeiden, wird in Empfehlungen zum Arzneimitteleinsatz bei älteren Patienten geraten, auf Arzneistoffe mit anticholinergem Potenzial wie ältere H1-Antihistaminika (etwa Diphenhydramin), trizyklische Antidepressiva und Benzodiazepine weitestgehend zu verzichten. Dies gilt besonders, wenn weitere Risikofaktoren für ein Delir oder bereits kognitive Einschränkungen vorliegen (8, 9). Allerdings gleicht dies in der Praxis häufig einem Spagat. Was tun, wenn sich neuropathische Schmerzen nur durch Amitriptylin ausreichend behandeln lassen? Eine unzureichende Schmerzbehandlung würde das Risiko für ein Delir ebenfalls erhöhen (5).
Zunehmend instabil
Ein weiteres geriatrisches Syndrom mit erheblichen Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität ist die erhöhte Sturzneigung. Experten gehen davon aus, dass jeder dritte Mensch über 65 Jahre, der zu Hause lebt, einmal im Jahr stürzt. Bei den über 80-Jährigen ist es bereits jeder Zweite. Nicht selten führt ein Sturz zu einem Knochenbruch, häufig im Bereich des Oberschenkelhalses oder des Unterarms. Danach ist die Fähigkeit zur selbstständigen Alltagsbewältigung häufig stark eingeschränkt, gelegentlich werden die Senioren dauerhaft pflegebedürftig.
Mehrere Faktoren erhöhen das Risiko für Stürze im Alter. Nachlassende Sehkraft trägt dazu bei, dass der Senior mögliche Stolperfallen nicht mehr gut erkennt. Die Muskelmasse schwindet (Sarkopenie). Auch die kompensatorischen Fähigkeiten, etwa zu schnellen Bewegungen, um sich bei Schwindel zu stabilisieren, nehmen in der Regel ab. Geriatrische Patienten mit Frailty-Syndrom (Gebrechlichkeit) gelten als besondere Risikogruppe. Definitionsgemäß liegt dieses Syndrom vor, wenn mindestens drei der folgenden fünf Kriterien erfüllt sind (24):
Ebenso erhöhen alterstypische Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Herzrhythmusstörungen (Synkopen) das Sturzrisiko.
Vorsicht: Eine Hypoglykämie kann gefährlich werden. Unter anderem steigt die Sturzgefahr.
Foto: Fotolia/Miriam Dörr
Nicht zu unterschätzen sind die psychischen Auswirkungen von Stürzen. Entwickeln Patienten eine Sturzangst, schränken sie häufig ihre körperliche Aktivität stark ein. Dadurch nimmt die Muskelkraft weiter ab, was wiederum Stürze begünstigt (2).
Als wichtige Risikofaktoren für Stürze gelten einige Medikamente, die im englischen Sprachraum als FRID (fall risk increasing drugs) bezeichnet werden. In mehreren Studien wurde für Sedativa/Hypnotika, Antipsychotika und Benzodiazepine eine eindeutige Assoziation mit dem Sturzrisiko gefunden. Dafür werden vor allem die sedierenden und andere zentralnervöse Nebenwirkungen der Arzneistoffe verantwortlich gemacht (2, 10).
Widersprüchliche Befunde gibt es dagegen für Wirkstoffe wie Antihypertonika oder Antidiabetika. Biologisch könnte ein Zusammenhang plausibel sein, da eine zu starke Blutdrucksenkung oder Hypoglykämien zu Schwindel führen können. Experten weisen darauf hin, dass vermutlich vor allem zu ambitionierte Therapieziele im Hinblick auf Blutdruck oder Blutzucker Stürze begünstigen. Deshalb sind bei der Behandlung von Hypertonie und Diabetes Augenmaß, eine niedrige Startdosis und langsame Dosissteigerung wichtig (2).
Die US-amerikanische Beers-Liste rät, zur Vermeidung von Stürzen möglichst auf Antikonvulsiva, trizyklische Antidepressiva und Z-Substanzen zu verzichten (9). In der deutschen Priscus-Liste werden zusätzlich weitere möglicherweise problematische Substanzen genannt. Dazu gehören Arzneistoffe, die zu Schwindel oder Hypotonie führen können (wie Clonidin oder α1-Blocker), sowie Muskelrelaxanzien (8).
Symptom | Delir | Demenz |
---|---|---|
Symptombeginn | akut | schleichend |
Symptomverlauf (tagsüber) | fluktuierend | beständig |
Bewusstsein | oft getrübt und plötzlich verworren | klar |
Orientiertheit | vorübergehend schwerste Störungen | kontinuierlich zunehmend gestört |
Sprache | unzusammenhängend, denkzerfahren | Wortfindungsstörungen |
Sinnestäuschungen | häufig, meist optische Halluzinationen | selten |
Wahn | häufig, meist einfacher Wahn wie Verfolgungswahn | eher seltener, komplexer Wahn wie Verarmungsideen |
Psychomotorik | Hypo- oder Hyperaktivität | häufig unauffällig |
vegetative körperliche Symptome | meist vorhanden | meist fehlend |
Mangelernährung fördert Frailty-Syndrom
Begünstigt wird Frailty durch eine unzureichende Versorgung mit Nährstoffen. Eine Reihe von Gründen kann dazu führen, dass ältere Menschen nicht ausreichend Nahrung zu sich nehmen und eine Mangelernährung entsteht. Dazu gehören nachlassendes Geruchs- und Geschmacksempfinden, Kauprobleme durch schlecht sitzende Zahnprothesen oder Schluckstörungen infolge neurologischer Erkrankungen. Auch psychosoziale Konstellationen wie das Alleinleben oder Trauer verderben den Appetit.
Als Indikator für eine Mangelernährung gilt vor allem der unfreiwillige Verlust von Körpergewicht (11).
Der Apotheker sollte unbedingt daran denken, dass Medikamente eine Mangelernährung begünstigen können. Dazu zählen Wirkstoffe, die den Geschmack verändern (etwa Thiamazol, Amlodipin oder Metronidazol), zu Mundtrockenheit führen (viele anticholinerg wirksame Arzneistoffe) oder Übelkeit und Erbrechen auslösen (viele Arzneistoffe besonders zu Beginn der Therapie, etwa Opioide oder Antidiabetika). Problematisch sind auch Arzneimittel, bei denen Schluckstörungen auftreten können (auf neurologischem Weg wie bei Neuroleptika oder über eine Schädigung der Ösophagusschleimhaut, etwa Bisphosphonate) oder die im zentralen Nervensystem in die Steuerung des Appetits eingreifen, beispielsweise einige Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (12).
Blasenkontrolle lässt nach
Nicht-medikamentöse Hilfen für den Toilettengang: erhöhter Toilettensitz, Haltegriffe und gute Beleuchtung
Foto: Fotolia/Stocksolutions
Eine Harninkontinenz kann die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Viele Betroffene schränken ihre Alltagsaktivitäten ein und meiden zunehmend soziale Kontakte. Inkontinenz ist ein wesentlicher Risikofaktor für Pflegebedürftigkeit und kann das Sturzrisiko erhöhen, wenn die Patienten versuchen, schnell zur Toilette zu kommen (2).
Inkontinenz wird durch einige altersphysiologische Vorgänge begünstigt. So nimmt die Blasenkapazität im Alter ab, bei eingeschränkter Mobilität wird der Weg zur Toilette oft zu lang. Hinzu kommen geschlechtsspezifische Charakteristika: Viele ältere Männer entwickeln eine Prostatahyperplasie, bei der es zur Restharnbildung und im Extremfall zur Überlaufinkontinenz kommen kann. Bei Frauen nimmt mit den Wechseljahren die Estrogen-Produktion ab. Dadurch kann die Vaginalschleimhaut atrophieren und das Risiko für eine Dranginkontinenz steigt. Zudem leiden viele Frauen nach einer Schwangerschaft und Geburten an einer Beckenbodenschwäche.
Ebenso beeinträchtigen viele Erkrankungen, die typischerweise im höheren Alter auftreten, die Harnblasenfunktion. Dazu zählen etwa Morbus Parkinson oder ein Schlaganfall (13).
Arzneistoffgruppe | Mechanismus |
---|---|
Agonisten an α-Rezeptoren (Beispiele: Phenylpropanolamin, Pseudoephedrin) | erhöhter Muskeltonus in Harnröhre und Prostatakapsel, möglicherweise Harnretention |
Antagonisten an α-Rezeptoren (Beispiel: Doxazosin) | verringerter Muskeltonus in der Harnröhre, kann evtl. Stressinkontinenz bei Frauen auslösen |
ACE-Hemmer | Verstärkung einer Belastungsinkontinenz durch die Nebenwirkung Reizhusten |
Anticholinergika | verursachen Entleerungsstörungen, Harnretention und Obstipation. Durch eventuell verschlechterte kognitive Fähigkeiten Probleme beim rechtzeitigen Erreichen der Toilette |
Calciumkanalblocker | Flüssigkeitsretention, Ödembildung und nächtlicher Harnfluss bei Ausschwemmung der Ödeme |
Cholinesterase-Inhibitoren | erhöhte Kontraktilität der Blasenmuskulatur, kann eine Dranginkontinenz fördern |
Diuretika | erhöhte Harnmenge |
Arzneistoffe mit sedierender Wirkung | können Verwirrtheitszustände auslösen und die Mobilität verschlechtern, dadurch Toilette schlechter erreichbar |
selektive Serotonin- Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) | verstärkte cholinerge Übertragung |
Opioide | möglicherweise Harnretention, Obstipation, Sedierung |
Blasenprobleme durch Medikamente
Eine Reihe von Arzneimitteln kann dazu beitragen, dass sich Symptome einer Harninkontinenz verstärken oder erst bemerkbar machen (Beispiele in Tabelle 3). Daran sind sehr verschiedene Mechanismen beteiligt.
Führen Arzneimittel zu einer Sedierung, nehmen die Patienten den Harndrang schlechter wahr und erreichen unter Umständen nicht schnell genug die Toilette. Arzneimittel, die zu einer Harnretention führen, erhöhen das Risiko für eine Überlaufinkontinenz. Umgekehrt kann eine Verringerung des Sphinkter-Tonus eine Belastungsinkontinenz verstärken. Medikamente können auch die Acetylcholin-vermittelte Signalübertragung an Blasenmuskulatur und Schließmuskeln stören. Steigt das auszuscheidende Flüssigkeitsvolumen, zum Beispiel durch Diuretika oder wenn nachts im Liegen Ödeme ausgeschwemmt werden, kann es für ältere Patienten schwierig sein, die Kontrolle über die Blasenfunktion zu behalten (Tabelle 3) (14).
Eine wichtige präventive Maßnahme ist die Beratung zum richtigen Einnahmezeitpunkt der Diuretika: Die Patienten sollten wissen, dass sie diese in der Regel morgens oder mittags, aber keinesfalls am Abend einnehmen sollten. Das senkt die Häufigkeit nächtlicher Toilettengänge (13).
Begünstigt wird eine Harninkontinenz durch chronische Obstipation (13), die ebenfalls medikamentös bedingt sein kann (lesen Sie dazu auch den Titelbeitrag in PZ 20/2015). So verringern Opioide die Darmperistaltik durch die Bindung an Opioid-Rezeptoren. Anticholinergika verringern die cholinerge Stimulation der glatten Muskelzellen im Darm. Calciumantagonisten, vor allem Verapamil und Diltiazem, sorgen für eine Relaxation der Darmmuskulatur und verlangsamen so den Stuhltransport (15).
Medikamente können auch eine Stuhlinkontinenz begünstigen oder verstärken. Dazu gehören vor allem Arzneistoffe, die zur Diarrhö führen, etwa Antibiotika oder Cholinesterase-Hemmer (2). Das ist besonders fatal für Demenz-Patienten.
Weniger ist häufig mehr
Zwischen Nutzen und potenzieller Gefahr: Eine Dauermedikation abzusetzen, kann zum Balanceakt werden.
Foto: Shutterstock/Andrey Popov
Um Verschreibungskaskaden zu vermeiden, gibt es eine Reihe von Strategien in der Geriatrie. Dazu gehört etwa, bei Beschwerden zuerst einmal nicht-medikamentöse Maßnahmen einzusetzen und den Lebensstil zu modifizieren, bevor Medikamente verordnet werden. Dieses Prinzip lässt sich in der Apotheke auch in der Selbstmedikation umsetzen.
Sind doch Medikamente nötig, sollte der Arzt den Wirkstoff mit Bedacht auswählen. Hilfsmittel wie die FORTA-Kriterien (2) oder die PRISCUS-Liste (8) geben Anhaltspunkte, welche Arzneistoffe älteren Menschen häufig mehr schaden als nutzen. In der Selbstmedikation sind vor allem die älteren Antihistaminika wegen möglicher anticholinerger Nebenwirkungen kritisch zu betrachten; diese sind zum Beispiel in rezeptfreien Schlafmitteln oder Kombinations-Grippemitteln enthalten.
Im Hinblick auf die Dosisfindung gilt »start low, go slow«. Bei den meisten Indikationen ist es möglich, die Therapie mit einer niedrigen Dosis zu beginnen und dann nach Bedarf zu steigern. So lässt sich eine Dosis finden, die so niedrig wie möglich, aber so hoch wie nötig ist. Bei der Startdosis sollte vor allem die Nierenfunktion des Patienten bedacht werden (1, 2). Allerdings wird häufig vergessen, die Medikation bis zu einer wirksamen Dosis zu steigern, die dem Senior wirklich nützt.
Die Kunst des »Deprescribing«
Bei älteren Menschen sollte eine regelmäßige Durchsicht der Medikation zur pharmazeutischen Betreuung gehören. Die hausärztliche Leitlinie Multimedikation empfiehlt den Ärzten eine Bestandsaufnahme aller eingenommenen Arzneimittel, auch der Mittel aus der Selbstmedikation und von Nahrungsergänzungsmitteln (16).
Wichtig ist, für jedes Arzneimittel zu hinterfragen, ob es tatsächlich weiter nötig ist, besser durch ein anderes ersetzt oder die Einnahme sogar beendet werden sollte. Die Leitlinie empfiehlt dafür eine Reihe von Fragen, die sich am Medication Appropriateness Index (MAI) orientiert (Kasten). Mit zunehmender Verbreitung von Dienstleistungen wie Medikationsanalyse und Medikationsmanagement wird hier auch die Apotheke zukünftig an Bedeutung gewinnen.
Das »Deprescribing«, also das Absetzen von Medikamenten, ist nicht trivial. Das beginnt bei der Entscheidung, welches Arzneimittel der Patient nicht mehr benötigt. Ein Aspekt kann sein, ob ein Patient mit eingeschränkter Lebenserwartung von präventiv wirkenden Arzneistoffen wie Statinen oder Bisphosphonaten tatsächlich noch profitiert. In solchen Situationen fällt die Gewichtung eher zugunsten von symptomkontrollierenden Medikamenten, zum Beispiel Analgetika oder Antiemetika, aus. Dabei ist es wichtig, immer die Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen (16).
Außerdem können – je nach Arzneistoff und Erkrankung – Entzugssymptome, Rebound oder die ursprünglich kontrollierten Beschwerden (wieder) auftreten. Zu bedenken sind auch pharmakodynamische oder pharmakokinetische Auswirkungen. So kann das Absetzen eines Enzyminduktors dazu führen, dass die Wirkspiegel anderer verordneter Arzneistoffe steigen, wenn diese über das gleiche Enzym abgebaut werden. Auch können sich beispielsweise Elektrolytstörungen entwickeln, wenn kaliumsenkende und -erhöhende Arzneistoffe gleichzeitig verordnet waren und einer der Wirkstoffe plötzlich abgesetzt wird (17).
Daher ist beim Absetzen von Medikamenten immer die gleiche Aufmerksamkeit geboten wie beim Beginn einer Pharmakotherapie. Schrittweise Reduktion der Dosis und sorgfältige Überwachung des Patienten sind meist sinnvoll (18). Konkrete Hinweise zum Absetzen einiger Wirkstoffgruppen finden sich in der hausärztlichen Leitlinie Multimedikation (16).
Zunehmend wird in der Fachwelt diskutiert, dass Nebenwirkungen einer Pharmakotherapie bei älteren Menschen auch aus der unreflektierten Übernahme von Leitlinien-Empfehlungen resultieren, die die Situation multimorbider Patienten bisher nicht oder nur unzureichend abbilden. Daher werden derzeit weltweit Leitlinien zur Berücksichtigung von Multimorbidität entwickelt, etwa in Deutschland durch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (19) und in Großbritannien durch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) (20). Neben der Heterogenität der Patienten besteht eine große Herausforderung für die Entwicklung solcher Leitlinien darin, dass multimorbide Patienten in klinischen Studien bisher häufig nicht berücksichtigt werden.
Fazit
Treten »Altersbeschwerden« bei älteren multimorbiden Patienten neu auf oder verstärken sich, sollten Arzt und Apotheker daran denken, dass UAW einen Anteil daran haben könnten. Statt unreflektiert zusätzliche Arzneistoffe einzusetzen, dient es dem Patienten mehr, die Medikation sorgfältig zu analysieren. Oft kann eine Dosisanpassung, ein Wechsel oder sogar das Absetzen von Medikamenten die Situation des Patienten spürbar verbessern. /
Literatur
Iris Hinneburgstudierte Pharmazie an der Philipps-Universität Marburg und wurde an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promoviert. Nach Tätigkeiten in Forschung und Lehre in Halle und Helsinki (Finnland) arbeitet sie heute freiberuflich als Medizinjournalistin. Ihr Schwerpunkt ist die pharmazeutische Fortbildung. Sie ist Fachbuchautorin und produziert einen Podcast mit Themen aus Medizin und Pharmazie für die Fortbildung in der Apotheke.
Dr. Iris Hinneburg
Wegscheiderstraße 12
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