Rasches Handeln kann Leben retten |
21.06.2010 11:41 Uhr |
Von Margitta Worm, Berlin / Die Anaphylaxie ist die schwerste Manifestation einer mastzellabhängigen Erkrankung. Die Reaktion ist selten, kann aber tödlich verlaufen. Eine Adrenalin-Injektion wirkt im Notfall lebensrettend. Doch das Medikament wird viel zu selten eingesetzt. Aufklärung tut not.
Haben Patienten einmal eine anaphylaktische Reaktion erlitten, ist es unerlässlich, die Diagnose zu sichern. Pathogenetisch können sowohl immunologische Prozesse als auch Intoleranzreaktionen zugrunde liegen. Prinzipiell werden infolge einer Mastzelldegranulation zahlreiche Mediatoren freigesetzt, die dann in verschiedenen Organsystemen unterschiedlich schwere Symptome auslösen.
Anaphylaktische Hautreaktionen können als Urtikaria mit großen, stark juckenden Quaddeln auftreten.
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Gute Beratung und Prävention können das erneute Auftreten einer Anaphylaxie oftmals verhindern. Auf jeden Fall müssen der Patient und seine Angehörigen erlernen, wie sie mit den Notfallmedikamenten umgehen sollen. Eigene Zahlen aus dem deutschen Anaphylaxie-Register zeigen jedoch eindeutig, dass das lebensrettende Medikament Adrenalin entweder gar nicht oder zu selten eingesetzt wird. Nur eine intensive Aufklärungsarbeit, an der auch der Apotheker beteiligt ist, kann die Versorgung der Patienten nachhaltig verbessern.
Definition aus den USA
Obgleich die Anaphylaxie vor mehr als 100 Jahren erstmals von den französischen Ärzten Portier und Richet beschrieben wurde, gibt es bislang im europäischen Raum keine einheitliche Definition. In den USA entwickelten Experten in einer Konsensuskonferenz eine Empfehlung zur Definition der Anaphylaxie (1); bislang wird diese auch in Europa und anderen Ländern weltweit eingesetzt.
Die Definition beinhaltet, dass neben Haut- und Schleimhautsymptomen wie Urtikaria und/oder Angioödem auch respiratorische und/oder kardiovaskuläre Symptome auftreten (sollen). Weiteres wichtiges Kriterium ist das wiederholte und rasche Auftreten der Symptome nach einem definierten Auslöser. Die objektiven Symptome sind bei einer Beteiligung der Haut und Schleimhaut leicht zu diagnostizieren, während respiratorische und kardiovaskuläre Symptome nicht immer objektiv, zum Beispiel mittels Lungenwiderstandsmessung erfasst werden. Daher kann die exakte Zuordnung im Einzelfall schwierig sein.
Differenzialdiagnostisch müssen etliche Erkrankungen abgegrenzt werden. Diese reichen von vasovagalen Synkopen über neurologische Manifestationen, zum Beispiel Epilepsie, bis zu Stoffwechselerkrankungen wie dem diabetischen Schock.
Milde bis bedrohliche Symptome
Symptome einer anaphylaktischen Reaktion können verschiedene Organsysteme betreffen: Haut und Schleimhäute, Gastrointestinaltrakt, Atemwege und Herzkreislaufsystem. Insgesamt zeigen die Daten aus der Literatur (2), dass am häufigsten die Haut beteiligt ist, gefolgt von respiratorischen und/oder kardiovaskulären Beschwerden, während der Gastrointestinaltrakt seltener beteiligt ist.
Hautreaktionen können als Nesselsucht (Urtikaria), auch generalisiert, auftreten. Es handelt es sich um 1 bis 5 cm große Quaddeln, die flüchtig sind und stark jucken. Typische Schleimhautsymptome sind tiefe Schwellungen (Angioödeme), die beispielsweise Augenlider oder Lippen, aber auch andere Körperregionen betreffen können. In der Regel sind die Hautsymptome vorübergehend und bilden sich spätestens nach einem bis zwei Tagen vollständig zurück.
Nicht für alle Kinder gesund: Hühner- und Milcheiweiß stehen bei ihnen an erster Stelle als Auslöser schwerer Allergien.
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Wenn der Magen-Darm-Trakt involviert ist, treten typischerweise Durchfall und/oder Erbrechen auf. Die Beschwerden werden bei nahrungsmittelinduzierten Anaphylaxien durch eine Degranulation der Mastzellen im Magen-Darm-Trakt ausgelöst und gelten als physiologisch sinnvoll, um das auslösende Allergen rasch aus dem Körper auszuscheiden.
Bei einer klinischen Beteiligung der Atemwege und des Kreislaufsystems spricht man von schweren anaphylaktischen Reaktionen, die potenziell lebensbedrohlich sein können. In den Atemwegen treten in der Regel asthmatische Beschwerden mit Hustenreiz, Luftnot und zähem Auswurf auf. Die Kreislaufsymptome reichen von mildem Schwindel und leichtem Blutdruckabfall bis hin zum Herz-Kreislauf-Stillstand.
Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere Patienten mit wiederholten anaphylaktischen Reaktionen häufig ein »Crescendo« erleiden: Ausprägung und Intensität der Symptome nehmen zu. Dies muss bei der Betreuung der Patienten unbedingt berücksichtigt werden und verdeutlicht, wie wichtig die Verordnung von Notfallmedikamenten ist.
Wichtige Auslöser
Nahrungsmittel, Insektengifte und Medikamente: Dies sind generell die häufigsten Auslöser schwerer allergischer Reaktionen (3, 4). Im Kindesalter sind Nahrungsmittel als Auslöser besonders häufig, dagegen stehen Insektengifte und Medikamente bei Erwachsenen im Vordergrund (Grafik 1). Bei den Nahrungsmitteln im Einzelnen stehen bei Kindern an erster Stelle Hühner- und Milcheiweiß, gefolgt von Hülsenfrüchten und Baumnüssen, während bei Erwachsenen die sogenannten pollenassoziierten Nahrungsmittel, zum Beispiel Haselnuss und Sellerie, aber auch Meeresfrüchte besonders häufig Reaktionen auslösen.
Grafik 1: Auslöser schwerer allergischer Reaktionen bei Kindern (rote Säulen) und Erwachsenen (Daten aus dem Anaphylaxie-Register) (3)
Interessanterweise zeigen aktuelle eigene Daten aus dem im deutschsprachigen Raum etablierten Anaphylaxie-Register, dass Kofaktoren häufig während der Auslösung schwerer allergischer Reaktionen vorkommen (3). Hierzu gehören beispielsweise körperliche Anstrengung, Infektionen und alkoholische Getränke. Wie diese Ko- oder Augmentationsfaktoren die Auslösung und/ oder Ausprägung dieser Reaktionen beeinflussen, ist nicht bekannt.
Bei Arzneimitteln als Auslöser einer Anaphylaxie stehen an erster Stelle die Substanzgruppen der Antibiotika und Analgetika. Während es sich bei den durch Antibiotika ausgelösten Anaphylaxien meist um IgE-vermittelte Reaktionen handelt, beruhen die Reaktionen auf Analgetika in der Regel auf einer Intoleranz. Dies ist insbesondere bei der Diagnostik zu berücksichtigen. Ob diese Medikamentengruppen tatsächlich ein spezielles Risiko für die Auslösung schwerer mastzellabhängiger Reaktionen bergen oder ob die Häufung eher durch die häufige Anwendung der Medikamente bedingt ist, ist noch nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich spielen beide Faktoren eine Rolle.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Patienten diese Arzneimittel häufig bei gleichzeitig bestehenden Infektionen einnehmen, die ihrerseits als Kofaktor für das Entstehen einer schweren allergischen Reaktion wirken können. Die Daten des Anaphylaxie-Registers zeigen, dass unter den Antibiotika vor allem Beta-Laktam-Antibiotika und hier interessanterweise die Cephalosporine am häufigsten als Auslöser genannt werden. Bei den Analgetika sind die am häufigsten eingesetzten Substanzgruppen, die COX1- und COX2-Inhibitoren, auch am häufigsten als Auslöser vertreten, seltener die Opiate und Opioide.
Weitere Gruppen, die häufig als Auslöser vorkommen, sind Röntgenkontrastmittel sowie zahlreiche Arzneimittel, die in der Behandlung onkologischer Patienten eingesetzt werden. Zu nennen sind die Platin-Derivate sowie Taxole. Für beide Medikamentengruppen gilt, dass die Art der Applikation (in der Regel die intravenöse Gabe) ein besonderes Risiko darstellt, da die Substanz in allen Organsystemen rasch anflutet. Somit treten bei schweren Reaktionen auf Medikamente sehr häufig kardiovaskuläre Symptome auf.
Anaphylaktische Reaktionen verlaufen auch letal. Eine Studie aus den USA, in der Todesfälle infolge schwerer allergischer Reaktionen untersucht wurden, zeigte, dass insbesondere in China Medikamente häufig nicht sachgemäß angewendet werden und alle beobachteten Todesfälle bei älteren Menschen infolge einer Medikamentenapplikation auftraten (5). Ein Vergleichskollektiv aus den USA zeigt ähnliche Daten, wobei hier der Anteil der durch Medikamente ausgelösten Todesfälle geringer war. Dies unterstreicht, wie wichtig die allergologische Anamnese vor der Gabe von Medikamenten ist.
Häufigkeit nimmt zu
Nach den bisherigen Daten ist es nicht möglich, die Inzidenz der Anaphylaxie in Deutschland genau zu berechnen. Generell kann man aber von einer Inzidenz von circa 1 bis 2 Prozent in der Allgemeinbevölkerung ausgehen. Kürzlich publizierte Daten weisen eindeutig darauf hin, dass die Anaphylaxierate in den letzten Jahren gestiegen ist (6, 7). Dies hängt möglicherweise mit der Zunahme allergischer Erkrankungen insgesamt zusammen.
So zeigen beispielsweise Daten aus Australien, dass die Zahl der Hospitalisierungen infolge einer Anaphylaxie, beispielsweise durch Nahrungsmittel, jährlich um 13,2 Prozent angestiegen ist, wenn der Zeitraum 1994 und 1995 mit 2004 und 2005 verglichen wird. Insbesondere in der Altersgruppe der 0- bis 4-jährigen Kinder verfünffachte sich die Rate der Krankenhausaufnahmen infolge einer durch Nahrungsmittel ausgelösten schweren allergischen Reaktion. Die gleiche Studie zeigt, dass Krankenhauseinweisungen aufgrund einer Nahrungsmittel-unabhängigen Anaphylaxie am häufigsten in der Altersgruppe ab 35 Jahren auftraten. Hier zeigte sich insgesamt ein jährlicher Anstieg von 8,5 Prozent zwischen 1994 bis 1995 und 2004 bis 2005. Diese Entwicklung scheint sich fortzusetzen; vergleichbare Zahlen wurden auch für England beobachtet (8).
Bislang liegen zur Epidemiologie der Anaphylaxie in Deutschland keine Daten vor. Seit 2006 geben die allergologischen Zentren schwere allergische Reaktionen in das deutschsprachige Anaphylaxie-Register ein. Bis Mai 2010 konnten 2366 Reaktionen erfasst werden (www.anaphylaxie.net). Da es sich hier nicht um populationsbasierte Daten handelt, ist die Bestimmung der Inzidenz aus dem Anaphylaxie-Register nicht möglich. Hierzu wären beispielsweise Erhebungen von Notfallambulanzen erforderlich.
Die Arbeitsgruppe um die Autorin registrierte in einem »Notarzt-Projekt« für den Berliner Raum zwischen 2007 und 2009 mehr als 200 schwere allergische Reaktionen, die notärztlich versorgt wurden. Bei etwa 4 Millionen Einwohnern in Berlin ergibt sich hieraus eine Häufigkeit für diesen Zeitraum von ungefähr 0,01 bis 0,001 Prozent. Auch in dieser Erhebung sind Medikamente häufige Auslöser, wobei die Schmerzmittel vor den Antibiotika rangieren. Weitere prospektive Daten sind dringend erforderlich, um zu klären, ob schwere allergische Reaktionen tatsächlich zunehmen und insbesondere, welche Patienten ein erhöhtes Risiko haben.
Molekulare Mechanismen
Wenn die Anaphylaxie infolge einer immunologischen Reaktion entsteht, dann ist der Auslöser ein Allergen, das heißt ein Protein, das in den Körper aufgenommen und verarbeitet wird. Anschließend werden über eine immunologische Reaktion Antikörper der Immunglobulin-Klasse E gebildet (Grafik 2). Dieses IgE bindet über Membranrezeptoren an Effektorzellen (Mastzellen und basophile Leukozyten). Bei einem erneuten Allergenkontakt wird das membranständig gebundene IgE kreuzvernetzt, wodurch es zur Aktivierung der Zelle kommt. Sowohl Mastzellen als auch basophile Leukozyten setzen dann ihre präformierten Mediatoren, zum Beispiel Histamin, frei. Im Verlauf der Reaktion werden zahlreiche Mediatoren, zum Beispiel Leukotriene, zusätzlich gebildet.
Grafik 2: Mechanismus der IgE-vermittelten Allergie
Während die Bedeutung von Histamin als wesentlicher Mediator bei der Auslösung der klinischen Reaktionen unbestritten ist, ist die Funktion der weiteren Mediatoren nicht hinreichend geklärt. Wahrscheinlich spielen sie ebenfalls eine wichtige Rolle.
Bei den nicht-IgE-abhängigen Intoleranzreaktionen sind die Mechanismen, die zur Freisetzung der Mediatoren aus den prinzipiell gleichen Effektorzellen führen, bislang nicht bekannt. Möglicherweise spielt eine genetische Disposition eine Rolle.
Ein weiterer wichtiger Mediator einer mastzellabhängigen Reaktion ist die Tryptase. Diese Protease wird von Mastzellen permanent und verstärkt in der Aktivierungssituation freigesetzt. Während die pathophysiologische Bedeutung von Tryptase bislang nicht hinreichend geklärt ist, ist die Tryptase-Bestimmung im Serum eine wichtige diagnostische Methode. Daten aus der Literatur weisen darauf hin, dass die Enzymspiegel im Serum der Patienten innerhalb von etwa drei Stunden ansteigen (9).
Zudem ist die Tryptase-Messung eine wichtige diagnostische Methode, um eine Mastozytose auszuschließen. Diese Patienten haben aufgrund eines genetischen Defekts vermehrt Mastzellen in Haut und Schleimhäuten und somit erhöhte Tryptase-Werte. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Patienten mit Mastozytose auch häufiger schwere anaphylaktische Reaktionen erleiden. Dies ist gut nachvollziehbar, da bei diesen Patienten die Effektorzellen einer Anaphylaxie vermehrt vorliegen (10).
Medikamente für den Notfall
Die wichtigste therapeutische Maßnahme bei einer Anaphylaxie ist die sofortige Applikation von Adrenalin. Der Patient selbst oder Angehörige können das Medikament mithilfe eines Autoinjektors injizieren; wenn der Notfall direkt ärztlich versorgt wird, kann der Arzt Adrenalin intramuskulär oder intravenös spritzen (11). Adrenalin aktiviert die Alpha- und Betarezeptoren und wirkt kreislaufstabilisierend und bronchodilatierend. Der Autoinjektor ist für Kinder ab 30 kg in einer Dosierung von 150 µg und für Erwachsene in einer Dosierung von 300 µg verfügbar. Es gibt genau definierte Kriterien, wann ein Autoinjektor verordnet werden kann (Kasten).
Der Arzt kann einen Adrenalin-Autoinjektor bei bestimmten Indikationen verordnen, hier am Beispiel der Nahrungsmittelallergie gezeigt (15).
frühere schwere Reaktionen
progrediente Schwere der allergischen Symptome
Patienten mit systemischer Reaktion auf Nahrungsmittel und persistierendem Asthma bronchiale
systemische Allergie auf Erdnüsse, Baumnüsse und Sesam
Patienten, die auf geringste Mengen des Allergens reagieren
Patienten mit Mastozytose
Auch Antihistaminika und Steroide werden bei einer anaphylaktischen Reaktion gegeben. Obgleich es zur Wirksamkeit dieser Substanzen keine kontrollierten Studien gibt, sind Antihistaminika sicher wirksam bei Hautreaktionen. Die Wirksamkeit der Corticosteroide beruht auf ihrer membranstabilisierenden Wirkung in hoher Dosierung. Ferner wirken sie antiinflammatorisch und beeinflussen somit die Spätreaktion. Allerdings gibt es hierzu keine klinisch kontrollierten Studien.
Weitere Notfallmaßnahmen umfassen die Gabe von Sauerstoff (2 l/min), die Inhalation von Beta-2-Mimetika (2 bis 4 Hübe), insbesondere bei Asthmatikern und/oder asthmatischen Beschwerden, sowie weitere kreislaufstabilisierende Maßnahmen wie die Gabe von osmotisch wirksamen Volumina (zum Beispiel 10-prozentige HAES-Lösung) und gegebenenfalls Dopamin. Das ausführliche Vorgehen wurde kürzlich in einer Leitlinie in Zusammenarbeit mit den Notfallmedizinern zusammengefasst (11); es ist in verkürzter Form in der Tabelle dargestellt.
Arzneimittel (Beispiele) | Dosierung und Applikation | Menge des Fertigarzneimittels |
---|---|---|
Adrenalin: Suprarenin Amp. Fastject/Anapen 300 mg Kinder 15 bis 30 kg oder Anapen Junior 150 mg | 0,5 mg i.m. 0,3 mg i.m. 0,25 mg i.m. 0,15 mg i.m. | ½ Amp. (0,5 ml) Oberschenkel 1 Pen ¼ Amp. (0,25 ml) 1 Pen |
intravenöser Zugang und Volumensubstitution Kinder | 1000 ml i.v. nach Gewicht | ggf. weitere Volumengabe 10 bis 20 ml/kg/KG |
Sauerstoff | Sonde | 2 bis 5 l/min |
Antihistaminikum: Fenistil Injektionslösung | 4 mg i.v. | 1 Amp. (4 ml) |
Glucocorticoid: Solu-Decortin H 250/500 mg Kinder | 250 bis 500 mg i.v. nach Gewicht i.v. | nach Schweregrad 3 mg/kg/KG |
bei Bronchospasmus Beta-2-Mimetikum: Salbutamol Dosieraerosol | 0,2 bis 0,4 mg inhalativ | 2 bis 4 Hübe |
Immer dabei: das Notfallset
Anaphylaktische Reaktionen treten häufig an öffentlichen Orten, zum Beispiel in der Schule oder im Kindergarten, bei Restaurantbesuchen oder auf Reisen auf. Daher ist es besonders wichtig, dass alle Patienten, die jemals eine solche Reaktion erlitten haben, ein Notfallset erhalten.
Wichtigste Notfallmaßnahme bei einer anaphylaktischen Reaktion ist die Adrenalin-Injektion, die der Patient auch selbst ausführen kann.
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Das Set enthält einen Adrenalin-Autoinjektor, ein Antihistaminikum und ein Corticosteroid, und sollte von einem allergologisch versierten Facharzt verordnet werden. Die Patienten müssen über die Anwendung der Notfallmedikamente intensiv aufgeklärt werden (2). Die praktische Erfahrung zeigt, wie wichtig der Hinweis ist, dass der Patient die Medikamente auch regelmäßig mit sich führt. Wenn der Patient die Notfallmedikamente gemäß der ärztlichen Vorgaben einsetzt, bestehen keine besonderen Risiken.
Adrenalin ist das am schnellsten wirksame Medikament und sollte bei schweren Reaktionen immer als Erstes appliziert werden. Hierbei ist es wichtig, dass die Injektion in den seitlichen Oberschenkelmuskel erfolgt. Insbesondere bei Patienten mit höherem subkutanen Fettanteil muss man auf einen ausreichend hohen Druck während der Applikation achten. Ein möglicher Fehler ist es, den Autoinjektor von der falschen Seite auszulösen. Dann kann es zu einer ungewollten Injektion in den Daumen kommen. Diese Komplikation ist insgesamt sehr selten. Doch wenn sie passiert, sollte der Patient unverzüglich ein Krankenhaus aufsuchen.
Die Antihistaminika und Corticosteroide als weitere Medikamente im Notfallset können als Tropfen und Lösung gegeben werden. Für Kinder gibt es auch Corticosteroide als Zäpfchen. Tabletten haben den Vorteil, dass sie praktischer transportiert werden können, zum Beispiel im Portemonnaie. Allerdings kann die Gabe von Tabletten anstelle von Tropfen beispielsweise bei Kindern oder Patienten mit Schwellungen im Gesicht erschwert sein. Neuentwicklungen wie Tabletten, die sich im Mund schnell auflösen, sind hier sehr hilfreich.
Das Allergen meiden
Sind Nahrungsmittel und Medikamente die Auslöser, ist die wichtigste präventive Maßnahme deren konsequente Meidung. Bei Medikamenten ist daher wichtig, dass der Patient den Allergiepass immer mit sich führt. Der Allergologe kann Alternativmedikamente empfehlen, um den Patienten vor dem Wiederauftreten einer schweren Reaktion zu schützen.
Bei den Nahrungsmitteln ist zu beachten, dass es im Alltag nicht immer einfach ist, den auslösenden Bestandteil zu meiden. Dies gilt vor allem bei unverpackten, zusammengesetzten Nahrungsmitteln. Bei verpackten Produkten ist es einfacher, da Nahrungsmittelallergene aufgrund der Deklarationspflicht auf der Verpackung genannt sind. Bislang gibt es jedoch keine Schwellenwerte, das heißt bestimmte Allergenmengen, unterhalb derer auch bei Allergikern höchstwahrscheinlich keine Reaktionen auftreten. Daher ist die Industrie dazu übergangen, auch Label wie »kann Spuren von Erdnuss enthalten« zu verwenden. Dies bedeutet für die Betroffenen eine unerwünschte Einschränkung.
Neue Ansätze einer Lösung, die auch Allergikern gerecht wird, kommen aus Australien. Hier informiert ein Ampelsystem über das Vorkommen von Nahrungsmittelallergenen. Es handelt sich um eine Grün-Gelb-Rot-Markierung an den Lebensmitteln, die das Risiko für Nahrungsmittelallergiker über die Farbgebung darstellt.
Sämtliche präventiven Aspekte können die Patienten, insbesondere Nahrungsmittelallergiker, idealerweise in einer strukturierten ambulanten Schulung erlernen. Neben den medizinischen Grundlagen und dem Wissen über den Einsatz von Notfallmedikamenten geht es hier vor allem um konkrete Möglichkeiten, wie man Nahrungsmittel wie Erdnüsse oder Haselnüsse effektiv im Alltag meiden und ersetzen kann. Aktuell wird ein solches Schulungsprogramm, das an drei Abenden mit je zwei Stunden abläuft, wissenschaftlich auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit geprüft. Bei Erfolg könnte eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen künftig möglich sein
Orale Toleranzinduktion
Ein neuer Ansatz zur Behandlung von Nahrungsmittelallergien ist die orale Toleranzinduktion. Diese folgt dem Prinzip einer Hyposensibilisierung. Zu Beginn werden kleinste Mengen von Nahrungsmittelallergenen oral gegeben (zum Beispiel 0,1 ml Milch bei einem Milcheiweißallergiker), die dann unter ärztlicher Kontrolle bis auf tägliche Verzehrsmengen (zum Beispiel 150 ml Milch) gesteigert werden.
Bislang wird diese Behandlung nur für schwer nahrungsmittelallergische Patienten in Betracht gezogen, bei denen durch unabsichtliche Aufnahme des Nahrungsmittels wiederholt schwere Reaktionen aufgetreten sind. Diese Behandlung muss immer durch allergologisches Fachpersonal eingeleitet und kontrolliert werden. Erste Studienergebnisse sind interessant (12). Jedoch kann die Behandlung derzeit noch nicht breit empfohlen werden, da weitere Studiendaten ausstehen.
Achtung, Wespen: Mehr als die Hälfte der schweren allergischen Reaktionen bei Erwachsenen geht auf das Konto von Insektenstichen.
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Die Prävention einer Insektengiftallergie ist bislang am besten etabliert, da hier die spezifische Immuntherapie zur Verfügung steht. Zu Beginn erfolgt eine Einleitungstherapie (meist stationär über drei bis fünf Tage); die Behandlung wird ambulant in vier- bis achtwöchigen Abständen fortgesetzt (Erhaltungstherapie). Nach Erreichen der Erhaltungstherapie beträgt die Wahrscheinlichkeit eines sicheren Schutzes über 90 Prozent. Die spezifische Immuntherapie muss drei bis fünf Jahre fortgesetzt werden, um diesen Schutz zu erhalten (13).
Ein weiterer neuer Ansatz zur Prävention schwerer allergischer Reaktionen ist der Einsatz von Anti-IgE. In einer ersten Studie bei erdnussallergischen Patienten konnte die allergieauslösende Erdnussmenge unter einer Anti-IgE-Behandlung zumindest gesteigert werden (14). Allerdings wurde die Folgestudie aufgrund einzelner schwerer Reaktionen nicht weitergeführt. Somit ist diese Therapie derzeit nicht verfügbar.
Auch bei Insektengiftallergikern wurde die spezifische Immuntherapie in Einzelfällen mit einer Anti-IgE-Behandlung kombiniert. Ziel war es, Unverträglichkeitsreaktionen, die bei der spezifischen Immuntherapie aufgetreten sind, durch die gleichzeitige Gabe von Anti-IgE abzuschwächen (14).
Praktische Tipps
Prinzipiell ist es denkbar, dass ein Patient mit einer akuten anaphylaktischen Reaktion in seiner Not eine Apotheke aufsucht. Was ist dann zu tun?
Als Erstes gilt es, den Schweregrad der Reaktion abzuschätzen. Bei Atemwegs- und/oder Kreislaufsymptomen wie Luftnot oder Kreislaufdysregulation sollte man sofort den Notarzt (Telefonnummer 112) mit dem Stichwort »Allergieschock« verständigen. Genaue Ortsangaben sind wichtig, damit es keine Verzögerungen bei der Anfahrt des Notfallteams gibt. Gleichzeitig sollte eine Schocklagerung eingeleitet werden. Vorsicht ist bei Patienten mit asthmatischen Symptomen geboten; hier ist eine aufrechte Körperposition zu bevorzugen. Man sollte rasch klären, ob ein Allergieauslöser bei dem Patienten bekannt ist und ob Notfallmedikamente vorhanden sind. Wenn ja, ist zu prüfen, ob der Patient bei deren Applikation unterstützt werden kann.
Patienten, die ausschließlich Hautsymptome wie eine Urtikaria haben, sollten sofort ein Antihistaminikum und ein Corticosteroid einnehmen und sich anschließend in ärztliche Behandlung begeben. Besondere Risikogruppen sind erdnussallergische Patienten; hier sollte man immer an eine frühzeitige Adrenalingabe denken, sofern diese ärztlich verordnet wurde. Eine weitere Risikogruppe sind Insektengiftallergiker. Dies sind meist ältere Menschen, die unter Umständen gleichzeitig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden; bei ihnen muss der Einsatz von Adrenalin mit größerer Vorsicht erfolgen.
Generell ist es optimal, eine schwere allergische Reaktion rasch zu erkennen, den Notarzt unverzüglich zu verständigen und den Patienten bei der Gabe von verordneten Notfallmedikamenten zu unterstützen. /
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Margitta Worm studierte Humanmedizin an der FU Berlin, wurde 1991 promoviert und ist seit 1998 Fachärztin für Dermatologie und Venerologie. 2000 folgten die Habilitation und Venia Legendi im Fach Dermatologie. Professor Worm arbeitet heute im Allergie-Centrum-Charité, Standort Hautklinik, an der Charité-Universitätsmedizin, Berlin, und leitet die klinisch-experimentelle Allergologie. Mit ihrer Arbeitsgruppe ist sie aktiv in der Forschung tätig. Ihre Schwerpunkte umfassen unter anderem die allgemeine Allergologie, Arzneimittelreaktionen, Berufsdermatologie, Nahrungsmittelallergien und Umweltmedizin sowie Untersuchungen zur Immunmodulation. 2005 gründete sie das Anaphylaxie-Register. Dort werden schwere allergische Reaktionen aus dem deutschsprachigen Raum gemeldet.
Professor Dr. med. Margitta Worm
Charité, Klinik für Dermatologie und Allergologie
Charitéplatz 1
10117 Berlin
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