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Pharmabranche

OTC als Eintrittstor in neue Märkte

10.06.2015  09:35 Uhr

Von Daniel Rücker und Ev Tebroke / Die Pharmabranche ist so übernahme- und fusionsfreudig wie lange nicht mehr. Was ist die Strategie dahinter und wie können sich Hersteller auch zukünftig am Markt behaupten? Pharmaexperte Oliver Scheel, Partner bei der Unternehmensberatung A.T. Kearney, setzt in seiner Einschätzung im PZ-Interview vor allem auf neue Marktsegmente und Produktgruppen im Consumer-Health-Markt.

PZ: Die Pharma-Branche ist zurzeit geprägt von milliardenschweren Transaktionen. Experten sprechen von einem Übernahme-Fieber. Ist die Branche krank?

 

Scheel: Die Branche ist nicht krank, aber sie muss gezielt ihr Immunsystem stärken, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, wie Preisdruck der öffentlichen Gesundheitssysteme, schwierige Innovationslandschaften und sinkende Margen.

 

PZ: Organisch kann die Pharmaindustrie kaum noch wachsen. Sind Übernahmen der neue Garant für Wachstum in einer Branche, die lange Zeit als konsolidiert galt?


Scheel: Im Rx-Bereich sind Übernahmen kein Allheilmittel, sondern nur dann hilfreich, wenn entweder die Pipeline an neuen Produkten gestärkt oder eine sinnvolle Ergänzung des Portfolios möglich wird. Bayer konnte vor ein paar Jahren durch die Schering-Übernahme neue, hochprofitable Geschäftsfelder besetzen. Andere Konzerne müssen sich durch immer größere Übernahmen vor Patentabläufen großer Blockbuster retten, ohne dass dabei ein strategisches Ziel in Sicht ist. Oft sind diese Übernahmen eher Manöver zur Ablenkung von eigenen Schwächen oder dienen gar Steuertricks.

 

PZ: Welche Bereiche versuchen die Pharmakonzerne zu stärken?

 

Scheel: Einige Spieler steigen zurzeit in den Bereich Consumer Health ein, weil da der Kunde selbst zahlt und nicht das öffentliche System. In diesem deutlich risikoärmeren, aber auch profitablen Markt sehen wir zurzeit viel Dynamik und größere Konsolidierungen. Langfristig werden die Player Erfolg haben, die von verbraucherorientierten Unternehmen lernen, wie man Marken aufbaut und emotional auflädt, wie man loyale Marken-Nutzer gewinnt und Vertrautheit aufbaut, um dann stabile Wachstumskurven zu erzielen.

 

PZ: Auch die Generika-Branche ist im Umbruch: Teva versucht, den US-Konkurrenten Mylan für mehr als 40 Milliarden Dollar zu übernehmen. Der Kauf könnte die Weltmarktführung des israelischen Konzerns entscheidend ausbauen. Ist im hart umkämpften Generika-Markt noch was zu holen?

 

Scheel: Große Konzerne haben definitiv Vorteile auf der Kostenseite. Das ist schon eine Bedrohung für kleinere Unternehmen. Aber auch Weltkonzerne wie Teva sind hinsichtlich Effektivität und Effizienz nicht immer perfekt aufgestellt. Andere haben durchaus noch eine Chance in Wachstumsfeldern, zum Beispiel mit Biosimilars. Hier können neue Anbieter mit geringeren Volumina und höheren Margen erfolgreich Marktanteile gewinnen und profitabel wachsen.

 

PZ: Andere, wie beispielsweise Stada, verstärken neben der Generika-Sparte den OTC-Bereich. Auch hier ist der Markt stark in Bewegung. Bayer übernahm 2014 die OTC-Sparte von MSD, Novartis und GSK bilden ein Joint Venture. Wie bewerten Sie die Wachstumschancen?

 

Scheel: Der Markt ist immer noch sehr stark fragmentiert. Da bieten sich Übernahmen geradezu an. Um weltweit profitabel zu agieren, sind starke Marken, wie es beispielsweise Wick, Aspirin® oder Voltaren® sind, unumgänglich. Solche sogenannten Power Brands werden die Hersteller in Zukunft mehr aufbauen müssen, um als Unternehmen in diesem Bereich profitabel wachsen zu können. Markenführung und Markenbildung ist eine wichtige Kernkompetenz für ein OTC-Unternehmen. Übernahmen im OTC-Bereich werden in den nächsten zwei bis vier Jahren weiter an der Tagesordnung bleiben – die Konsolidierung ist noch lange nicht abgeschlossen.

 

PZ: Welche OTC-Produkte werden in fünf Jahren die Marktführer sein und welche Indikationen wachsen am dynamischsten?

 

Scheel: Wenn man die einzelnen Marktsegmente über die letzten fünf Jahre analysiert, sind alle Bereiche, seien es nun Analgetika, Dermatologika oder Gastroenterologika, enorm gewachsen, vor allem in den aufstrebenden Märkten wie China oder Indien mit Wachstumsraten von bis zu 14 Prozent. Das wird sich in den nächsten fünf Jahren über die Segmente hinweg deutlich verlangsamen. Massive Wachstumsraten werden wir bei OTC nicht sehen, aber eine starke Marktposition ist wichtig, um von da aus den Consumer-Health-Markt zu erobern und neue Marktsegmente zu erschließen.

 

PZ: Sie sehen OTC als Eintrittstor in neue Produktsegmente?

 

Scheel: Der OTC-Bereich ist der größte Markt im Consumer-Health-Bereich. Man braucht den über die Selbstmedikation erzielten Zugang zu den Konsumenten und auch den aus dem OTC-Geschäft erzielten Cashflow, um aus dieser Position heraus neue Bereiche zu erschließen. Wer sich nur auf den OTC-Bereich konzentriert, der wird nicht genügend wachsen können, weil der Markt in den nächsten fünf Jahren nicht dynamisch genug sein wird. Parallel zum Ausbau im Bereich des OTC-Markts muss ein Unternehmen in neue Marktsegmente investieren. Nur eine Firma, die in der Lage ist, beide Strategien zu fahren, wird auf Dauer weltweit Marktführer sein können.

 

PZ: Welche neuen Segmente sehen Sie künftig?

 

Scheel: Zusätzlich zu den klassischen Marktsegmenten, wie Over-the-Counter oder Vitamin- und Nahrungsmittelzusätze, wird es neue Produktkategorien geben, wie beispielsweise funktionale Kosmetik. Auch im Bereich Gewichtsmanagement hat alles, was an Innovationen und Programmen kommt, ein enormes Wachstumspotenzial. Zudem ist der Bereich Sportlernahrung sehr dynamisch. Und auch das Thema Ernährung mit gezieltem Gesundheitsnutzen ist ein Wachstumssegment. Das alles sind Bereiche, in denen die Märkte nach Innovationen verlangen. Diese neuen Marktsegmente können als Teil eines integrierten Consumer-Health-Markts dann – auf zehn Jahre gesehen – sogar größer werden als das klassische OTC-Segment.

 

PZ: Von welchem Zeitraum gehen Sie für diese Entwicklungen aus?

 

Scheel: Heute schon investieren Konsumgüterunternehmen stark im Bereich Healthcare – denken Sie an Nestlé oder Reckitt Benckiser. Ich glaube, dass man in fünf bis zehn Jahren auch Pharmaunternehmen sehen wird, die diese Strategie umsetzen und entsprechende Investitionen wagen werden.

 

PZ: Können sich nationale Produkte halten oder haben künftig nur noch globale Marken eine Chance?

 

Scheel: Es wird auch weiterhin einen regionalen Markt geben. Allerdings wird der Anteil der globalen Marken am Umsatz und am Absatz deutlich zunehmen. Es wird als Einzelanbieter von lokalen Marken immer schwieriger sein, zu überleben und gegen die großen Marken standzuhalten. Da wird es einen Filterprozess geben. Heute ist der Markt sehr fragmentiert und viele von diesen kleineren Marken werden verschwinden.

 

PZ: Wird Pharma von E-Health profitieren oder ist IT eine Gefahr?

 

Scheel: Das ist Risiko und Chance zugleich. Wettbewerber kommen nicht nur aus den Bereichen Pharma oder Konsumgüter, sondern auch aus dem Technologie-Sektor. Diese Spieler haben ganz andere Fähigkeiten, kommen über ganz andere Angriffspunkte. Firmen wie Apple oder Google haben direkten Zugang zu Menschen, besitzen geldwerte Massendaten. Diese Unternehmen sind finanzstark, sehr schnell und agil und haben die Fähigkeit, Angebote aus Service, Analyse und Empfehlung zu schnüren. Wenn Pharmafirmen da nicht aufpassen, werden sie von der Seite überholt.

 

Wenn solche IT-Firmen Lösungspakete anbieten, bei denen Arzneimittel Teil eines Gesamtpakets sind, stellt das für die Pharmabranche ein Risiko dar. Zugleich gibt es aber auch die Chance, das proaktiv zu nutzen und so die eigenen Arzneimittel aufzuwerten. So könnte man beispielsweise nach Ablauf der Patente mit patientenzen­trierten Angeboten zusätzlich zur Tablette die Profitabilität und Marktanteile verteidigen.

 

PZ: Welche Rolle wird die deutsche pharmazeutische Industrie in der Zukunft weltweit spielen?

 

Scheel: Die deutsche Pharmaindustrie hat ein großes Potenzial. Wenn man die Entwicklung seit den 80er-Jahren betrachtet, dann setzt Bayer den Trend. Der Konzern hatte große Probleme und ist nun auf einer sensationellen Erfolgsspur. Mit Gesundsparen kann man die Zukunft nicht gewinnen. Das geht nur über Innovation und neue Angebote. In der Phase, in der viele amerikanische Pharmaunternehmen aufgrund von Patentabläufen schwächeln, haben deutsche Firmen das Potenzial, Boden zurückzugewinnen. Das erfordert jedoch Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen. /

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