Vielschichtige Ursachen |
03.06.2014 10:56 Uhr |
Von Marion Hofmann-Aßmus / Chronische Schmerzen stellen ein zunehmendes Problem bei Kindern und Jugendlichen dar. An erster Stelle stehen Kopfschmerzen, gefolgt von Bauchschmerzen und muskuloskelettalen Schmerzen. In der Regel liegen keine organischen Erkrankungen vor, sondern ein »erlerntes Verhalten«. Moderne Therapieansätze beruhen daher auf einem langfristigen »Verlernen« des Schmerzes.
Von Marion Hofmann-Aßmus / Die multimodale Schmerztherapie setzt auf vielen Ebenen an. Professor Dr. Boris Zernikow vom Deutschen Kinderschmerzzentrum, Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln, schildert das Vorgehen und die Erfolgsaussichten.
Chronische und akute Schmerzen unterscheiden sich durch den Faktor Zeit. Treten die Beschwerden über einen Zeitraum von drei Monaten dauerhaft oder immer wieder auf (mindestens 15 Tage pro Monat), spricht man von chronischen Schmerzen. Verschiedene Erkrankungen wie juveniles Rheuma oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn können die Ursache sein und müssen nach möglichst frühzeitiger Diagnose entsprechend therapiert werden. Chronische Schmerzen können aber auch eine eigenständige Krankheit – ohne organischen Befund – darstellen. Darauf fokussiert dieser Artikel.
Internationale epidemiologische Studien belegen, dass die Prävalenzraten von chronischen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen zwischen 25 und 46 Prozent liegen (1). Es zeigte sich, dass die Prävalenz insbesondere von Kopfschmerzen mit zunehmendem Alter signifikant steigt und Mädchen in allen Altersklassen häufiger betroffen sind.
Dies bestätigten auch die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts (2). Darin wurden chronische Schmerzen im weiteren Sinne, das heißt wiederkehrende Schmerzen in den letzten drei Monaten, bei einem knappen Drittel der 3- bis 10-jährigen Kinder ermittelt. Mehr als die Hälfte der 11- bis 17-Jährigen gaben wiederkehrende Schmerzen an, und ein Viertel litt einmal pro Woche oder häufiger darunter. Viele gaben Schmerzen in mehreren Körperregionen an.
Während jüngere Kinder vor allem Bauchschmerzen angaben, litten die älteren vermehrt unter Kopfschmerzen. Laut Studien wird die Prävalenz für Kopfschmerzen bei 7-Jährigen mit 39 Prozent, bei 15-Jährigen mit 63 Prozent beziffert (3). 0,1 Prozent der Schüler sollen an chronischer Migräne leiden (4).
Interessant ist der in KiGGS analysierte Analgetikaverbrauch: Mehr als ein Drittel der 3- bis 10-Jährigen nahm Medikamente ein, fast jedes zehnte Kind gab sogar »häufig oder immer« an. Knapp die Hälfte der 11- bis 17-Jährigen gab an, Schmerzmittel zu konsumieren, rund jeder Zehnte sogar »häufig oder immer«.
Paul ist zwölf Jahre alt und hat seit sechs Jahren immer wieder Kopfschmerzen. Zu Beginn traten die starken Schmerzen einmal pro Woche auf und waren begleitet von Lichtscheu und Erbrechen. Seit einem Jahr leidet Paul an Dauerschmerzen mit einer Schmerzstärke von 6 auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 10 der stärkste Schmerz ist. Zusätzlich treten Schmerzspitzen mit einer Schmerzstärke von 9 auf.
Sämtliche diagnostischen Maßnahmen wie EEG, zweimalig ein Schädel-MRT sowie diverse Untersuchungen auf das Vorliegen einer Entzündung oder von neurologischen oder rheumatologischen Erkrankungen blieben ohne Befund. Es gab diverse ambulante und stationäre Behandlungsversuche. Als Analgetika wurden Ibuprofen, Paracetamol, Flunarizin und diverse Triptane eingesetzt.
Paul trifft sich nicht mehr mit Freunden. Seit sechs Monaten besucht er die Schule nicht mehr und verbringt den Tag meistens im Bett. Laut Angaben der Eltern ist er fast immer traurig.
Nach: Professor Dr. Zernikow, Datteln
Gravierende Folgen
Ein wichtiges Anzeichen für eine Chronifizierung sei das Schmerzerleben, betont Professor Dr. Boris Zernikow, Datteln, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. »Wenn das Kind zum Beispiel an mehr als 10 Prozent der Schultage fehlt und zusätzlich emotional beeinträchtigt ist, also Angst vor dem Schmerz hat, spricht dies für eine Chronifizierung. Nehmen Kinder oder Jugendliche mehr als zehn Mal pro Monat Schmerzmittel ein, befinden sie sich sicher im Bereich der Chronifizierung.« Ein zunehmender, aber erfolgloser Einsatz von Analgetika bei bestehendem Dauerkopfschmerz sei ein Zeichen für arzneimittelinduzierten Schmerz.
Viele Kinder und Jugendliche leiden zwar an chronischen oder wiederkehrenden Schmerzen, haben jedoch einen Weg gefunden, damit umzugehen. Etwa 3 bis 5 Prozent sind allerdings so schwer betroffen, dass selbst alltägliche Aktivitäten wie der Schulbesuch kaum möglich sind (1, 5).
Die psychischen und sozialen Folgen sind gravierend (siehe Fallbeispiel). Die Fehlzeiten in der Schule führen zu Problemen und steigern die Ängste der Betroffenen. Freunde werden vernachlässigt, soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten finden kaum oder gar nicht mehr statt. Zudem werden häufiger psychische Störungen wie Angststörungen und Depressionen diagnostiziert. Letztere scheinen eng mit Schlafstörungen assoziiert zu sein (6). Auch Fatigue tritt öfter begleitend auf (1). Bekannt ist zudem, dass im Kindesalter auftretende chronische Schmerzen bis ins Erwachsenenalter hinein persistieren.
Vom Akut- zum Dauerschmerz
Erfolgt an einer Stelle des Körpers eine Zellschädigung aufgrund von Entzündungen oder Verletzungen, wird dieses Ereignis vom nozizeptiven System, den Nozizeptoren, registriert. Nozizeptoren sind freie sensorische Endigungen dünner Nervenfasern, die in allen Organen mit Ausnahme des Nervensystems vorkommen. Sie leiten die verschiedenen Reize (Druck, Temperatur oder chemische Reize) zum Hinterhorn des Rückenmarks. Von dort wird der Reiz über chemische Schaltstellen (Synapsen) umgeschaltet und unter anderem zum Thalamus und zur Großhirnrinde weitergeleitet. Hier findet die bewusste Wahrnehmung statt, wobei der Schmerz eingeordnet und bewertet wird.
Den aufsteigenden (afferenten) Reizleitungen stehen absteigende (efferenten) Nervenbahnen entgegen, die das Schmerzsignal hemmen oder sogar völlig aufheben können. Das ist zum Beispiel in akuten Stresssituationen wichtig: Der Schmerz wird »ausgeblendet«, um rasch reagieren zu können.
Die Aktivierung und Sensibilisierung der Nozizeptoren hält normalerweise so lange an, bis die primäre Schmerzursache behoben ist. Andauernde Schmerzsignale können zu einer Veränderung der Neurone im Rückenmark und im Gehirn (zentrale Sensibilisierung) führen. Dadurch brennt sich der Schmerz quasi ein, es entsteht das Schmerzgedächtnis.
Man erklärt sich das Schmerzgedächtnis anhand verschiedener Mechanismen, die teilweise ineinanderwirken. Dazu zählt etwa die synaptische Langzeitpotenzierung (synaptic longterm potentiation, LTP) im Gehirn und im Hinterhorn des Rückenmarks (7). Dabei kommt es bei einem Teil der Synapsen zu einer anhaltenden Steigerung der Übertragungsstärke der Nervenreize, die länger dauert als die eigentliche Schmerzursache. Die LTP wird daher für ein gesteigertes Empfinden des Schmerzreizes (Hyperalgesie) verantwortlich gemacht. Weiterhin aktiviert sie verschiedene Nervenzellrezeptoren, was letztlich eine ganze Reihe von Signaltransduktionswegen modifiziert und damit zu veränderten Zelleigenschaften führt. Die Folge ist eine dauerhafte gesteigerte Schmerzantwort, selbst auf schwache Reize hin (Allodynie).
Als weiterer Mechanismus wird eine gestörte Funktion der hemmenden Nervenleitungen vermutet (8).
Eine multimodale Schmerztherapie umfasst in der Regel mehrere Module (14).
Modul 1: Aufklärung und Zielsetzung
Den Kindern werden die Grundlagen des schmerzverarbeitenden Systems und der Unterschied zwischen akuten und chronischen Schmerzen erklärt. Sie sollen verstehen, dass sie ihren Schmerz beeinflussen können. Damit sie Therapieerfolge erkennen können, ist eine realistische Zielsetzung (keine völlige Schmerzfreiheit) nötig.
Modul 2: Strategien zur Schmerz- bewältigung
Die Kinder erlernen und üben Techniken, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper verringern können, etwa sprachliche Ablenkungstechniken oder kognitive Strategien. Insbesondere bei Kindern mit muskuloskelettalen Schmerzen soll durch langsam gesteigerte Aktivität (Sport, körperliche Belastung) die Angst vor schmerzhaften Bewegungen und sozialen Herausforderungen verringert werden.
Modul 3: Behandlung begleitender psychischer Störungen
Häufig treten zusätzlich zu den Schmerzstörungen auch posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Angststörungen auf. Diese können sich gegenseitig aufrechterhalten. Eine individuelle psychotherapeutische Behandlung ist nötig.
Modul 4: Betrachtung der Familie
Therapeuten ermitteln, welche Rolle oder Funktion der Schmerz des Kindes innerhalb der Familie spielt und wie dies beeinflusst werden kann. Eltern sollen lernen, ihre eigenen Empfindungen von denen des Kindes zu lösen und das Kind dabei zu unterstützen, seine Schmerzen autonom zu bewältigen.
Modul 5: Mögliche Interventionen
Darunter fallen je nach Grunderkrankung medikamentöse Therapien oder Physiotherapien, vor allem bei Schmerzerkrankungen des Bewegungsapparats. Kunst- oder Musiktherapien können ebenfalls hilfreich sein.
Modul 6: Therapieende und Prophylaxe
Bei den meisten Kindern folgt auf die stationäre Behandlung eine (psychotherapeutische) ambulante Therapie. Zudem bereitet man die Familien auf mögliche Krisen (wie Schmerzverstärkung bei akuten Prozessen) vor.
Foto: Shutterstock/Alexander Raths
Die Anatomie entscheidet
Neuen Studien zufolge spielen auch anatomische Strukturen im Gehirn eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von chronischem Schmerz (9). US-amerikanische Forscher stellten fest, dass von 39 Patienten mit Rückenschmerzen nur diejenigen (19 Patienten) chronische Schmerzen entwickelten, die eine starke Verbindung zwischen dem Nucleus accumbens und dem präfrontalen Cortex aufwiesen. Je stärker die Verbindung der für Lernen und Gefühlsverarbeitung verantwortlichen Gehirnregionen ausgeprägt war, desto größer das Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln.
Aufgrund ihrer Ergebnisse mutmaßen die Forscher, dass eine starke emotionale Reaktion auf den anfänglichen Schmerz einen fehlerhaften Lernprozess auslöst, der zu anhaltendem Schmerz führt.
Insgesamt geht man heute davon aus, dass neben den biologischen vor allem auch psychologische Prozesse und das soziale Umfeld das Schmerzerleben bestimmen (13). Emotionen wie Angst vor dem Schmerz spielen eine wichtige Rolle bei dessen Aufrechterhaltung.
Allerdings formt sich selbst ein erwachsenes Gehirn noch ständig um, ein kindliches oder jugendliches hat diese Fähigkeit erst recht. Experten sprechen daher von einer »enormen Plastizität« des Gehirns. Ein Umbau, der die alten Erinnerungen an den Schmerz verblassen lässt, ist also möglich. Doch dieser Vorgang benötigt Zeit und Geduld. Er kann nach heutiger Ansicht nur mit einem multimodalen, also mehrschichtigen Therapieansatz gelingen.
Multimodales Behandlungskonzept
Das Zusammenspiel aus biologischen, psychischen und sozialen Aspekten bei der Entstehung chronischer Schmerzen wird auch bei der Behandlung berücksichtigt. Dies gilt für alle drei häufig auftretenden Schmerzarten (Kopf-, Bauch-, Rückenschmerzen).
Die Therapie der Wahl ist daher die multimodale Schmerztherapie, die ambulant oder stationär erfolgen kann (Kasten). Langfristiges Ziel ist es, die Lebensqualität der Kinder zu verbessern, indem Häufigkeit und Intensität der Schmerzen abnehmen (14). Sie umfasst psychotherapeutische Interventionen, zum Beispiel verhaltenspsychologische Betreuung im Einzel- und Gruppengespräch, Biofeedback und Hypnotherapie sowie komplementäre Therapien wie Physiotherapie, Yoga und Entspannungstechniken, die den Umgang und das »Verlernen« des Schmerzes fördern sollen. Medikamente spielen eine untergeordnete Rolle.
Ein Beispiel: Die Migräne- und Kopfschmerz-Klinik Königstein bietet für Jugendliche mit Kopfschmerzen ein dreiwöchiges, stationäres multimodales Therapieprogramm an. Im Vordergrund steht die Schmerzbewältigung mithilfe von Sport, Entspannungsverfahren und psychotherapeutischer Intervention, erklärt Chefarzt Privatdozent Dr. Charly Gaul im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. »In den drei Wochen gelingt es uns, Vertrauen zwischen Jugendlichen und Therapeuten aufzubauen. Das ist wichtig, da psychische Ursachen, zum Beispiel Mobbing in der Schule oder die Scheidung der Eltern, bei Jugendlichen eine noch größere Rolle für die Schmerzen spielen als bei Erwachsenen.« Verhaltens- und Lebensstiländerung könnten hier viel bewirken und seien noch relativ leicht herbeizuführen.
Zudem leisten die Ärzte und Therapeuten sehr viel Aufklärungsarbeit, bei der sie auch die Eltern mit einbeziehen. »Die Jugendlichen gehen nicht schmerzfrei nach Hause, aber meist können wir einen Denkprozess anstoßen und dadurch viel vom familiären oder schulischen Druck von den Kindern nehmen«, resümiert der Arzt.
Chronische Kopfschmerzen
Im Kindes- und Jugendalter sind primäre chronische Kopfschmerzen, denen keine (Gehirn-) Erkrankung zugrunde liegt, weitaus häufiger (90 Prozent) als sekundäre Kopfschmerzen (14). Diese können infolge von Allgemeininfektionen, leichten Schädel-Hirn-Traumen, Hirnhautentzündung, einer Sehschwäche oder körperlichen Haltungsfehlern auftreten. Primäre Kopfschmerzen äußern sich meist als Migräne oder Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Eine eindeutige Zuordnung ist jedoch bei 30 bis 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht möglich (10).
Für die Diagnose ist eine gründliche Anamnese und allgemeine körperliche Untersuchung erforderlich. Hilfreich (auch bei Bauch- oder Rückenschmerzen) ist es, wenn der Patient ein Schmerztagebuch führt, das wichtige Auskünfte über Form, Häufigkeit, Lokalisation, Stärke, Dauer und Begleiterscheinungen (zum Beispiel Erbrechen) gibt. Eine Magnetresonanztomographie ist nur selten indiziert. Bei Verdacht auf eine Epilepsie ist ein Elektroenzephalogramm sinnvoll.
Immerhin: Deutsche Patienten werden vergleichsweise rasch behandelt und müssen nicht lange auf Facharzttermine warten.
Foto: Imago/Hake
Die möglichen psychosozialen Auslöser für chronische Kopfschmerzen sind vielfältig. Häufig beruhen sie auf belastenden Ereignissen wie familiären Konflikten, aber auch auf Zurückweisungen durch die Freunde oder schulischer Überforderung. Stress und Zeitdruck sind wichtige Risikofaktoren. Regelmäßige Freizeit und körperliche Bewegung können dem entgegenwirken. Auch der übermäßige Gebrauch von Analgetika (an mehr als zehn Tagen pro Monat), Koffein- und Alkoholkonsum sowie Rauchen, körperliche Inaktivität und Übergewicht gelten als Risikofaktoren. Eine Studie belegte zudem den Zusammenhang zwischen traumatischen Kindheitserlebnissen wie Misshandlungen oder Missbrauch und der späteren Entwicklung chronischer Schmerzen (11).
Basis der Therapie ist die individuelle Aufklärung über die Erkrankung (Edukation), die Behandlungskonzepte und biopsychosoziale Einflussfaktoren. Bei Patienten mit Spannungskopfschmerzen steht zudem die multimodale Therapie im Vordergrund. Analgetika sind bei Migräne und besonderen Formen wie Clusterkopfschmerzen indiziert (14). Die medikamentöse Migräneprophylaxe entspricht laut Gaul der von Erwachsenen, jedoch mit angepasster Dosierung. Standard seien Betablocker (insbesondere Bisoprolol aufgrund der geringeren Nebenwirkungen), Magnesium und Topiramat.
Eltern sollten den Schmerz ihrer Kinder immer ernst nehmen. Bedauern, Schonen und von der Schule fernhalten ist allerdings nicht der richtige Weg. Eher sind ablenkende Aktivitäten zu unterstützen, wie Sport treiben oder ins Kino gehen. Hilfreich ist es, wenn Eltern ihr Kind loben, wenn er oder sie den Alltag trotz Schmerzen meistert. Ständiges Erinnern fördert die Beschwerden eher und wirkt kontraproduktiv auf das Verlernen und Vergessen. Schmerzmittel sollten nicht ohne Rücksprache mit dem Arzt gegeben werden.
Modifiziert nach »10 Tipps für Eltern im Umgang mit chronischen Schmerzen« (12)
Chronische Bauchschmerzen
Formen ohne feststellbare organische Ursachen sind das Reizdarm-Syndrom sowie funktionelle Bauchschmerzen. Es besteht ein enger Zusammenhang mit der Psyche und sozialen Einflüssen. So kann das Erleben häuslicher Gewalt (nicht zwingend als Opfer) einen Prädiktor für chronische Bauchschmerzen darstellen. Bei Kindern zwischen neun und 17 Jahren erhöhte die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) das Risiko dafür erheblich (14). Das multimodale Behandlungskonzept kann hier erfolgreich angewandt werden.
Medikamente sind nur in Ausnahmefällen indiziert. Pfefferminzöl kann die Beschwerden in akuten Phasen bei Reizdarmsyndrom lindern. Phytotherapie, Nahrungsergänzungsmittel, manuelle Therapien oder Homöopathie werden häufig eingesetzt, es fehlen jedoch kontrollierte klinische Studien. Experten raten den Patienten dringend von Diäten auf eigene Faust ab (12). Eine Ausnahme besteht zum Beispiel bei erheblicher Laktoseunverträglichkeit. Empfehlenswert ist eine ausgewogene, ballaststoffhaltige Kost. /
Marion Hofmann-Aßmus absolvierte eine Ausbildung als veterinärmedizinisch-technische Assistentin (VMTA) und studierte anschließend Biologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Promoviert wurde sie 1999 mit einer Arbeit zu molekularer Kardiologie an der Chemischen Fakultät der LMU München. Seither ist sie freiberuflich in verschiedenen Redaktionen und als Fachjournalistin tätig.
Dr. Marion Hofmann-Aßmus, Abt-Führer-Straße 9a, 82256 Fürstenfeldbruck E-Mail: hofmann_assmus(at)t-online.de
Therapie auf vielen Ebenen
PZ: Was bedeutet multimodale Schmerztherapie praktisch?
Zernikow: Wichtig ist, dass wir im Kinderschmerzzentrum schon beim ersten Ambulanzbesuch, der mindestens zwei Stunden dauert, der Familie zu zweit gegenübertreten: ich als Kinder- und Jugendarzt und ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Wir erweitern die Diagnostik dann insbesondere um die psychosoziale Seite des chronischen Schmerzes. Wir versuchen zu verstehen, wie der chronische Schmerz entstanden ist, wie die Familie damit umgeht und welche Folgen der Schmerz bis jetzt hatte. Dann stellen wir einen Behandlungsplan auf, der sowohl medizinische als auch psychosoziale Aspekte umfasst. Oft reicht eine ambulante Therapie nicht aus.
Bei schwer chronifizierten Schmerzen empfehlen wir eine stationäre Behandlung im Deutschen Kinderschmerzzentrum. Dort arbeitet ein Team aus Medizinern, Psychologen, Krankenschwestern, Erziehern, Krankengymnasten, Sozialarbeitern, Musik- und Kunsttherapeuten sowie Lehrern nach einem qualitätsgeprüften Konzept, das für jedes Kind individuell angepasst wird.
PZ: Setzen Sie Medikamente ein?
Zernikow: Medikamente spielen bei unserem Konzept eine untergeordnete Rolle. Natürlich wird eine Migräne leitliniengerecht therapiert: Für die Anfallsbehandlung setzen wir sowohl Ibuprofen als auch die Triptane ein, je nach individuellem Ansprechen und Verlauf der Migräneattacke. Etwa 30 Prozent der Kinder entwickeln die chronische Schmerzstörung im Verlauf einer anderen definierten Erkrankung, beispielsweise einer juvenilen idiopathischen Arthritis. Hier wird die Behandlung weitergeführt. Viel häufiger kommt es vor, dass wir Analgetika, unter Umständen auch sehr starke wie Opioide absetzen, weil sie nicht indiziert waren oder nicht mehr indiziert sind.
PZ: Welche Erfolge können Sie erzielen?
Zernikow: In zahlreichen Studien konnte belegt werden, dass sowohl die ambulante als auch die stationäre multimodale Therapie wirksam ist. Etwa 70 Prozent der Kinder können umfassend und dauerhaft von ihrer chronischen Schmerzkrankheit geheilt werden. Unsere neueste Studie belegt, dass die Therapie sogar Kosten gespart.
PZ: Wie geht es den Kindern anschließend im häuslichen Umfeld?
Zernikow: Erstaunlicherweise geht es den Kindern besser, je länger die Therapie vorbei ist. Viele schmerztherapeutische Interventionen, beispielsweise die gezielte Ablenkung, müssen im Alltag erst eingeübt werden. Ebenso verhält es sich mit dem hilfreichen, das Kind unterstützenden elterlichen Verhalten. Je mehr es geübt wird, desto besser klappt es. Die Erfolge der Therapie lassen also mit der Zeit nicht nach, sondern nehmen zu. Oft ist ein Kind nach der Behandlung bei uns erst wieder in der Lage, seinen Alltag trotz Schmerz zu bewältigen. Erst danach nimmt der Schmerz ab.
PZ: Wie ist es um die Versorgung junger Schmerzpatienten in Deutschland insgesamt bestellt?
Zernikow: Schlecht. Die Patienten reisen aus dem gesamten Bundesgebiet zu uns. Die Wartezeit auf einen Ambulanztermin beträgt drei Monate, sollte eine stationäre Therapie nötig sein, muss das Kind dann nochmals so lange warten. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, unsere Kapazitäten zu erweitern und zu helfen, weitere Kinderschmerzzentren, beispielsweise in Hamburg und Stuttgart, auf den Weg zu bringen.
PZ: Was könnten die Apotheker zur Verbesserung der Situation beitragen?
Zernikow: Die Rolle der Apotheker besteht darin, Kinder mit Migräne über den richtigen Einsatz der verordneten Analgetika aufzuklären. Bei einer Migräneattacke sollte nicht mit Analgetika gespart werden. Der frühe, hoch dosierte Einsatz ist wichtig. Wenn Kinder oder Jugendliche aber bei Spannungskopfschmerzen zu häufig Analgetika einnehmen, besteht das Risiko des arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes. Auch dies kann einem aufmerksamen Apotheker auffallen. Bei chronischen, täglichen Schmerzen ohne klares biologisches Korrelat helfen Analgetika in der Regel gar nicht. Auf unserer Internetseite (www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de) finden Patienten und Eltern Hilfe. /
Professor Dr. Boris Zernikow