Auf Morbus Meulengracht achten |
07.06.2011 17:46 Uhr |
Arzneimittelnebenwirkungen an der Leber sind nicht selten und können tödlich enden. Hepatotoxizität ist sogar der häufigste Grund für den Widerruf einer Arzneimittelzulassung nach Markteinführung. Dennoch werden hepatische Nebenwirkungen meist unterschätzt.
Nach Ergebnissen einer schwedischen Studie gehen 17 Prozent der Fälle von akutem Leberversagen auf das Konto von Arzneimitteln. Während Paracetamol in den USA und Großbritannien der Hauptauslöser ist, ist die Kombination Amoxicillin/Clavulansäure in Europa der Spitzenreiter, berichtete Professor Dr. Christian P. Strassburg von der Medizinischen Hochschule Hannover. Die medikamentös induzierte Toxizität kann praktisch alle Lebererkrankungen imitieren. Jede Erhöhung der Aminotransferasen der Leber über das Dreifache der Norm sei ein Alarmzeichen.
Eine Genotypisierung und anschließende Dosisanpassung kann Arzneimittelnebenwirkungen verhindern. Für bestimmte Wirkstoffe wie etwa Irinotecan wäre sie standardmäßig zu empfehlen.
Foto: genomics.energy.gov
Für die Diagnose ist es wichtig, zeitliche Zusammenhänge und das Toxizitätsmuster zu erfassen, andere Lebererkrankungen auszuschließen und den Verlauf zu beobachten. Typischerweise unterscheidet man drei Reaktionsmuster: die direkte oder intrinsische Toxizität und die nicht oder kaum vorhersehbare (idiosynkratische) Toxizität mit oder ohne immunallergische Zeichen.
Als Beispiel für die akute Toxizität nannte Strassburg das Paracetamol. Die Symptome sind dosisabhängig und treten innerhalb weniger Tage ein. Dagegen liegt die Latenzzeit bei immunallergischen Reaktionen bei einer bis fünf Wochen und bei nicht allergischen Reaktionen bei bis zu 100 Wochen. Diese lange Latenzzeit erschwere die Diagnose erheblich, sagte der Hepatologe. Bei Verdacht auf eine Leberschädigung frage er den Patienten in der Klinik daher immer nach der Arzneimitteleinnahme in den letzten sechs Monaten und setze alle vermeidbaren Arzneimittel ab. Die Kombination Amoxicillin/Clavulansäure kann idiosynkratische Schäden auslösen. Halothan löst direkte und immunologische Toxizitätsreaktionen aus; bei Dihydralazin sind die Reaktionen immunvermittelt.
Eine Chance, Leberschäden zu reduzieren oder zu vermeiden, sieht Strassburg in der individualisierten Therapie nach einer Analyse der Gene von bestimmten Metabolisierungsenzymen. Dies betrifft zum einen die Cytochrom-P450-Enyzme, die für den Abbau vieler Arzneistoffe verantwortlich sind. Ein anderes Beispiel ist die genetische Variation der UDP-Glucuronosyl-transferase (UGT), die die Konjugation von Bilirubin katalysiert und damit dessen Ausscheidung fördert. Inzwischen seien mehr als 110 UGT-Varianten bekannt, und etwa 40 Prozent der Menschen hätten Polymorphismen im UGT-Gen, berichtete der Arzt. Die vererbte Transport- und Stoffwechselstörung von Bilirubin wird Gilbert-Meulengracht-Syndrom genannt, hat aber keinen Krankheitswert.
Doch die UGT ist auch in die Glukuronidierung und damit Entgiftung von Arzneistoffen involviert. Beispielsweise wird der aktive Metabolit von Irinotecan (SN-38) via UGT entgiftet. Man habe festgestellt, dass Menschen mit bestimmten genetischen UGT-Varianten ein deutlich höheres Risiko für Nebenwirkungen haben. Beispielsweise erleiden sie besonders häufig Diarrhöen unter Irinotecan-Therapie. Protease-Inhibitoren wie Atazanavir hemmen die UGT und können bei Menschen, die einen genetisch beeinträchtigten UGT-Stoffwechsel haben, leicht einen Bilirubin-Ikterus auslösen. »Der Morbus Meulengracht ist ein Wolf im Schafspelz. Man sollte jeden Patienten vor einer Irinotecan-Gabe genotypisieren«, forderte Strassburg.
Nachweislich günstig wirkt dagegen Kaffee. Er schütze vor Leberzirrhose, reduziere die Progression eines Leberschadens bei Hepatitis-C-Virusinfektion, senke das Risiko für ein hepatozelluläres Karzinom und die Aminotransferasen, berichtete der Arzt in Meran. Das Getränk induziere die Expression der Glucuronosyltransferasen. »Kaffee reguliert die Glucuronidierung bei direktem Kontakt mit der Darmmukosa und über die Blutbahn und aktiviert damit die Detoxifikation.« Die schützende Komponente ist noch nicht bekannt. Es seien weder Coffein noch Chlorogensäure oder Diphenole, ergänzte Strassburg in der Diskussion.